Einem neuen Bericht zufolge könnte Europa im nächsten Jahrzehnt mit einer neuen Aggression konfrontiert werden. Um sich auch ohne die USA verteidigen zu können, braucht Europa demnach 300.000 zusätzliche Soldaten und rund 250 Milliarden Euro jährlich.
In einem neuen gemeinsamen Bericht der Denkfabrik Bruegel und des Kieler Instituts wird davor gewarnt, dass eine neue russische Aggression in Europa "denkbar" sei. Dabei wird auf Aussagen der NATO verwiesen, dass Moskau "innerhalb von drei bis zehn Jahren angriffsbereit" sein könnte.
Offiziellen Angaben zufolge haben die USA über 80.000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert, die sich im Falle einer ausländischen Aggression mindestens verdreifachen würden.
Aber die aktuelle Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen schürt die Sorge über einen Rückzug der USA, insbesondere nachdem Washington die europäischen Staats- und Regierungschefs bei den Verhandlungen mit Russland über ein Abkommen mit der Ukraine ins Abseits gestellt hat.
Obwohl der neue US-Außenminister Marco Rubio Rückzugsspekulationen zurückgewiesen hat, hält der Druck auf Europa an, seine militärische Autonomie zu erhöhen.
Wiedereinführung der Wehrpflicht in großem Stil?
Die nationalen Armeen Europas verfügen zusammen über etwa 1,5 Millionen Soldaten - viel mehr als die derzeitigen US-Streitkräfte in Europa.
In dem Bericht heißt es, dass Europa im Falle eines Truppenabzugs durch Washington zusätzlich 300.000 Soldaten oder etwa 50 Brigaden benötigen würde.
Mitverfasser Alexandr Burilkov erklärt gegenüber Euronews, dass diese teilweise durch "Wehrpflicht" rekrutiert und durch die "Entwicklung großer und gut ausgebildeter Reserven", ähnlich wie bei der US-Nationalgarde, unterstützt werden könnten.
Weil es den europäischen Streitkräften an Koordination und einem einheitlichen Kommando mangelt, "ist es dringend notwendig, ein System einzuführen, das die Menge des verfügbaren Personals und auch die Widerstandsfähigkeit dieses Systems erhöht", sagt er.
Starke Konzentration der Landstreitkräfte im Baltikum erforderlich
Um einen hypothetischen russischen Durchbruch im Baltikum zu verhindern, bräuchte eine europäische Armee 1.400 Panzer, 2.000 Schützenpanzer und 700 Artilleriegeschütze sowie eine Million 155-mm-Granaten für die ersten drei Monate eines Kampfes mit hoher Intensität.
Das übersteigt die derzeitige Kampfkraft der französischen, deutschen, italienischen und britischen Landstreitkräfte zusammen, so der Bruegel-Kiel-Bericht.
Auch die Produktion von Drohnen müsste auf etwa 2.000 Stück pro Jahr aufgestockt werden, um mit den russischen Zahlen mithalten zu können.
"Die Russen haben ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft in den letzten zwei Jahren weitgehend auf Kriegsfuß gestellt. Sie profitieren von einer ganzen Menge übrig gebliebener Infrastruktur und Ausrüstung aus Sowjetzeiten, als die Rote Armee wirklich kolossal war", sagt Burilkov.
"Sie produzierten mehr als 1.500 Panzer pro Jahr. Tausende von gepanzerten Fahrzeugen, Hunderte von Artilleriegeschützen. Wir sollten versuchen, eine militärische Parität zwischen Europa und Russland zu schaffen, die diese Abschreckung aufrechterhält, ohne unbedingt auf nukleare Abschreckung zurückgreifen zu müssen."
Mit oder ohne USA: "Europa braucht mehr militärische Fähigkeiten"
Doch eine einfache Aufstockung der Truppen könnte nicht ausreichen, meint Luigi Scazzieri vom Centre for European Reform gegenüber Euronews.
"Die Europäer müssen ihre Verteidigung verstärken, ob die Amerikaner nun abziehen oder nicht".
"Um eine glaubwürdige Abschreckung zu schaffen, muss man über mehr Fähigkeiten verfügen, vor allem in den Bereichen, in denen wir uns am meisten auf die USA verlassen: Langstreckenraketen, Luftabwehr, Nachschub aus der Luft, Luftüberwachung und Transport, zum Beispiel", so Scazzieri.
Die Harmonisierung der europäischen Verteidigungsanstrengungen durch kollektive Rüstungsbeschaffung, gemeinsame Bewaffnung, einheitliche Logistik und integrierte Militäreinheiten sei zwar wichtig, reiche aber ohne diese Fähigkeiten und Zahlen nicht aus, so der Analyst.
Was eine tatsächliche europäische Armee angeht, ist Scazzieri jedoch pessimistisch. "Das ist sehr schwierig. Aber es könnte eher eine Armee der Europäer als eine echte europäische Armee sein."
Französischen Nuklearschild ausbauen und europäische Luftabwehr entwickeln
Nicht alle sind jedoch der Meinung, dass Europa seine Truppenstärke erhöhen muss.
"Mit 1,5 Millionen Soldaten im Dienst braucht man keine 300.000 mehr, man muss sie an den richtigen Stellen einsetzen", sagt Nicolas Gros-Verheyde, Journalist für Verteidigung und Außenpolitik, gegenüber Euronews.
"Die Europäer könnten in Erwägung ziehen, ihre rotierende Präsenz als NATO-Truppen in permanente Militärstützpunkte in den Ländern umzuwandeln, die Russland am nächsten sind."
"Warum nicht eine Seebasis in Constanza (Rumänien) und eine Landbasis zwischen Polen und Litauen, in der Nähe des Suwalki-Korridors? Es wäre auch sinnvoll, eine Präsenz in Moldawien gegen die russischen Streitkräfte in Transnistrien zu planen."
Eine weitere Möglichkeit, die europäische Abschreckung zu erhöhen, wäre die Ausweitung des französischen Nuklearschilds, sagt er.
"Im gleichen Sinne sollte Frankreich aufhören, sich dem deutschen Raketenabwehrprojekt (European Sky Shield Initiative) zu widersetzen. Die beiden Systeme sind vollständig kompatibel."
Frankreich hat die Initiative jedoch in Frage gestellt und sagtt, dass der derzeitige europäische Sky Shield-Plan sich zu sehr auf außereuropäische Ausrüstung und Technologie stützt.
Deutschland könnte den Anstieg des europäischen Militärhaushalts anführen
Der Bruegel-Kiel-Bericht schlägt einen Weg vor, Europas Rüstung auf diese Weise zu erhöhen: den Militärhaushalt kurzfristig um 125 bis 250 Milliarden Euro jährlich (oder 3,5 % des BIP) erhöhen. Die Ausgabenerhöhung würde durch Schuldeninitiativen finanziert werden.
Deutschland, der zweitgrößte Beitragszahler der NATO, sollte eine zentrale Rolle spielen, indem es mindestens die Hälfte dieses Haushalts übernimmt und seine Verteidigungsausgaben von 80 auf 140 Milliarden Euro pro Jahr erhöht.
Laut Burilkov wird dies weitgehend von der Art der Regierung abhängen, die Deutschland nach den Parlamentswahlen regieren wird.
"Sobald wir eine klarere Vorstellung davon haben, wie die Stimmung in Berlin ist, können wir sehen, inwieweit dies gestaltet werden kann. Die Sache ist die, dass es natürlich einen politischen Willen gibt, wie es ihn in der Vergangenheit für ein kollektives europäisches Handeln nie gegeben hat."
Mehr europäische Koordination bedeutet weniger Militärausgaben
Trotz eines anfänglichen Anstiegs der Militärausgaben argumentiert der Bericht, dass ein koordiniertes europäisches Vorgehen die Preise langfristig senken würde.
"Größere Aufträge dürften dazu führen, dass die Produktionsprozesse effizienter werden und die Stückpreise sinken. Ein rascher Nachfrageanstieg wird die Preise jedoch kurzfristig sicherlich in die Höhe treiben", heißt es in dem Bericht.
"Eine fehlende Koordinierung führt zu wesentlich höheren Kosten, und die individuellen Bemühungen werden wahrscheinlich nicht ausreichen, um das russische Militär abzuschrecken."
Ein bestehendes Instrument für gemeinsame militärische Beschaffungen ist EDIRPA, das Programm zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie, das im Dezember 2025 durch das Europäische Programm für die Verteidigungsindustrie ersetzt werden soll.
Das zugewiesene Budget wird sich voraussichtlich auf 1,5 Milliarden Euro belaufen. Der Europäische Rechnungshof hat jedoch eine höhere Mittelausstattung gefordert, damit die Agentur ihre Ziele erreichen kann.