"Europa ist immer noch ein Friedensprojekt. Bei uns machen keine 'Bros' oder Oligarchen die Regeln. Wir überfallen unsere Nachbarn nicht und wir bestrafen sie nicht", sagt Ursula von der Leyen in einem ausführlichen Interview mit der Zeit.
"Der Westen, wie wir ihn kannten, existiert nicht mehr", warnt Ursula von der Leyen angesichts des sich rapide verschlechternden Verhältnisses zu den USA unter Präsident Donald Trump, das Europa gezwungen hat, anderswo nach Verbündeten und Partnern zu suchen.
Nach Trumps weitreichenden Zöllen, die Brüssel als "weder glaubwürdig noch gerechtfertigt" bezeichnet hat, hat die Präsidentin der Europäischen Kommission Kontakt zu Vertretern aus Norwegen, Island, Kanada, Neuseeland, Singapur und den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgenommen. Von der Leyen hat auch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang gesprochen und damit Spekulationen über eine Annäherung zwischen der EU und China nach jahrelangen Spannungen genährt.
"Die Welt ist auch geopolitisch ein Globus geworden, und unsere Freundschaftsnetze umspannen heute den Globus, wie man an der Debatte über die Zölle sehen kann", sagte von der Leyen in einem am Dienstag veröffentlichten ausführlichen Interview mit der Zeit.
"Im Moment könnte ich diese Gespräche 24 Stunden am Tag führen. Alle wollen mehr Handel mit Europa - und dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Beziehungen. Es geht auch um die Festlegung gemeinsamer Regeln und um Vorhersehbarkeit. Europa ist bekannt für seine Vorhersehbarkeit und Zuverlässigkeit, was wieder als etwas sehr Wertvolles angesehen wird", sagte sie.
"Auf der einen Seite ist das sehr erfreulich, auf der anderen Seite haben wir natürlich auch eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müssen", so die EU-Kommissionspräsidentin weiter.
Von der Leyen, die sich selbst als "große Freundin" der USA und "überzeugte Atlantikerin" bezeichnet, betonte, dass das langjährige Band zwischen beiden Seiten des Atlantiks trotz der Veränderungen unter Trump immer noch intakt sei.
Mit seiner aggressiven Handelspolitik, seiner Ablehnung des multilateralen Systems, seinen Annexionsdrohungen und seinen Annäherungsbemühungen Richtung Russland entfremdet Präsident Trump die USA von ihren traditionellen Verbündeten.
Auf die Frage, ob Amerika ein Freund, ein ehemaliger Freund oder ein Gegner sei, vermied die Kommissionschefin "diese Art von Klassifizierungen", räumte aber ein, dass die Beziehung "kompliziert" sei.
Von der Leyen kritisierte Trump nicht explizit, tatsächlich nannte nur der Zeit-Journalist den Namen des US-Präsidenten. Sie deutete allerdings eine Ablehnung des Landes an, das Trump durch eine Reihe von Durchführungsverordnungen aufzubauen versucht.
"Europa ist immer noch ein Friedensprojekt. Bei uns machen keine 'Bros' oder Oligarchen die Regeln. Wir fallen nicht bei unseren Nachbarn ein, und wir bestrafen sie nicht. Im Gegenteil: Zwölf Länder stehen auf der Warteliste, um Mitglied der Europäischen Union zu werden. Das sind etwa 150 Millionen Menschen", sagte die Kommissionspräsidentin in Bezug auf den EU-Beitrittsprozess.
"In Europa können Kinder auf gute Schulen gehen, egal wie wohlhabend ihre Eltern sind. Wir haben geringere CO2-Emissionen, wir haben eine höhere Lebenserwartung. Kontroverse Debatten sind an unseren Universitäten erlaubt. Dies und mehr sind alles Werte, die es zu verteidigen gilt und die zeigen, dass Europa mehr ist als eine Union. Europa ist unsere Heimat. Und die Menschen wissen das."
Big Tech im Visier
Mit Blick auf die laufenden Verhandlungen mit dem Weißen Haus bestätigte die Kommissionspräsidentin, dass sowohl amerikanische Industriegüter als auch digitale Dienstleistungen als Vergeltungsmaßnahme ins Visier genommen werden könnten, falls die Gespräche zu keiner Lösung führen. Brüssel hofft, dass die von Trump eingeführte und von der EU erwiderte 90-tägige Pause zu einem Kompromiss führen wird, bei dem die umfassenden Zölle entweder abgeschafft oder deutlich reduziert werden.
Wer jedoch die wertvollen Dienstleistungen des Silicon Valley angreift, riskiert, den Zorn der Trump-Administration auf sich zu ziehen, die sich wiederholt und lautstark über die Vorschriften beschwert hat, die die EU in den letzten Jahren eingeführt hat, um die Macht der großen Tech-Unternehmen einzudämmen.
Es wird vermutet, dass sich die Kommission in der Endphase der Untersuchungen von Meta und Apple im Rahmen des Gesetzes über digitale Märkte befindet. Den Unternehmen könnten in dem Verfahren hohe Geldstrafen drohen. Die EU betont, dass die Untersuchungen völlig unabhängig von den Handelsgesprächen stattfinden. Die zeitliche Überschneidung der beiden Themen könnte trotzdem eine explosive Wirkung entfachen.
"Wir legen unseren Standpunkt klar dar, und die Amerikaner tun das Gleiche. Und das ist das Wesen jeder Verhandlung: nichts ist vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist. Und ich denke, dass wir, egal ob es um den Handel mit Industriegütern oder mit digitalen Gütern geht, das Recht haben, alle Aspekte der Situation darzulegen", sagte von der Leyen.
"Für sie (die großen Technologieunternehmen) ist Europa ein sehr attraktiver, reicher Markt. Er umfasst 450 Millionen Menschen, die im Vergleich zum Rest der Welt einen hohen Lebensstandard und viel Freizeit haben. Das bedeutet, dass es hier in Europa enorme Umsätze und Gewinne im Bereich der digitalen Dienstleistungen gibt. Kein Unternehmen möchte den Zugang zu diesem Markt verlieren", so die Kommissionspräsidentin weiter.
Von Peking nach Moskau
Während die USA gegen Importe aus der EU Strafzölle in Höhe von 20% ankündigten, wurde China mit einem satten Zollsatz von 145% belegt. Peking reagierte prompt mit Zöllen auf US-Güter in ähnlicher Höhe. Nun sind die Zölle so hoch, dass beide Märkte faktisch gegeneinander abgeschottet sind, was die Befürchtung schürt, dass China auf der Suche nach einem alternativen Markt seine Billigexporte massiv nach Europa umlenken könnte.
Die Kommission werde "sehr wachsam" bleiben, um sicherzustellen, dass diese Überflutung des EU-Marktes nicht eintrete, sagte von der Leyen. Auf die Frage, ob Europa "den Chinesen vertrauen" solle, wies sie jedoch die wachsenden Spekulationen über eine Annäherung nicht zurück.
"Wenn die Marktzugangsbedingungen für einen großen Handelspartner wie die USA erschwert werden, dann ist es klar, dass wir uns nach neuen Handelspartnern umsehen, um unseren Unternehmen den Zugang zu neuen Märkten zu erleichtern", antwortete sie.
Von der Leyen, die während ihrer ersten Amtszeit für eine "De-Risking"-Strategie im Umgang mit China eintrat, hat in den letzten Wochen ihre Haltung abgeschwächt und spricht stattdessen von einer "transaktionalen" Außenpolitik, die zu einem "konstruktiven" Verhältnis mit Ländern führen kann, die nicht unbedingt die grundlegenden Werte der EU teilen, wie China.
Dennoch wird die "grenzenlose" Partnerschaft zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein gewaltiges Hindernis für jeden Versuch einer Annäherung darstellen. In dem Interview warnte von der Leyen, Putins "imperialistische Ambitionen" könnten dazu führen, dass er es irgendwann in der Zukunft wagen könnte, einen NATO- oder EU-Mitgliedstaat anzugreifen. Mehrere Geheimdienste schätzen, dass der Kreml bis 2030 zu einem solchen Angriff bereit sein könnte.
Da Trump nicht die Absicht hat, weitere militärische oder finanzielle Unterstützung für die Ukraine zu bewilligen, beeilt sich Europa, die Lücke zu schließen, auch wenn die Fähigkeiten des Kontinents nicht mit denen der USA mithalten können. Parallel dazu haben westliche Verbündete eine "Koalition der Willigen" gebildet, um Kyjiw Sicherheitsgarantien zu geben und ein mögliches Friedensabkommen abzusichern.
"Das Land hat sich mit Hilfe seiner Freunde tapfer verteidigt", sagte von der Leyen auf die Frage, ob Europa die Ukraine allein unterstützen könne. "Und es ist extrem wichtig, dass wir Durchhaltevermögen zeigen, denn Putins Kalkül war von Anfang an, dass die Unterstützung für die Ukraine bröckeln würde. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten."