Vor über drei Jahren, im Mai 2022, fiel Mariupol. Tausende ukrainische Soldaten verschanzten sich damals im Asow-Stahlwerk – ein Symbol des ukrainischen Widerstands. Euronews hat mit zwei von ihnen gesprochen.
Fast drei Monate lang hielten Tausende ukrainische Soldaten in den Tunneln und Bunkern des Azovstal-Stahlwerks russischen Angriffen stand – und wurden so zum Symbol des Widerstands gegen die russische Aggression.
Vor dem Beginn der großangelegten russischen Invasion am 24. Februar 2022 lebten rund eine halbe Million Menschen in der südöstlichen Hafenstadt Mariupol. Seit 2014 liegt sie nahe der Front und galt als strategisch und symbolisch wichtig.
Mariupol wurde häufig als "Tor zur Krim" bezeichnet. Ihre Einnahme ermöglichte Russland eine Landverbindung zwischen der besetzten Halbinsel Krim und der teils von Separatisten kontrollierten Region Donezk.
Anatolii Basenko trat 2014 dem Freiwilligenbataillon "Dnipro-1" bei, um seine Heimatregion Donezk zu verteidigen. Sieben Jahre später wurde er entlassen und zog nach Polen. Doch als die großangelegte russische Invasion begann, kehrte er zurück – um sein Land zu verteidigen. "Die endgültige Entscheidung traf ich, als ich von meiner Familie von den Angriffen auf Kyjiw erfuhr", sagt Basenko gegenüber Euronews.
Er kam am 24. Februar von einer Nachtschicht nach Hause und nahm einen Anruf aus der Ukraine entgegen. Der Krieg war in vollem Gange, Raketen flogen über Kyjiw, das ganze Land wurde bombardiert. "Ich sagte nur: 'Ich verstehe', legte auf, ging zur Arbeit, reichte meine Kündigung ein und kaufte mir ein Busticket."
Zwei Tage später traf er in Kyjiw ein, trat der Asow-Selbstverteidigungstruppe bei und erhielt eine Waffe. "Die Aufgabe bestand darin, die Hauptstadt gegen die russischen Angreifer zu verteidigen", erklärt er.
Gleichzeitig verfolgte er die dramatische Lage in Mariupol. Russland griff die Stadt massiv an und riegelte sie ab – niemand konnte hinaus. Tausende Zivilisten suchten wochenlang in Kellern Schutz, oft ohne Wasser oder Nahrung. Auch das Azovstal-Stahlwerk diente als Zufluchtsort für Zivilisten und rund 2.500 ukrainische Soldaten.
"Ich habe immer wieder gesagt, dass sie die Blockade der Stadt aufheben müssen, dass sie Hilfe brauchen, dass etwas getan werden muss", erinnert sich Basenko. Er saß in Kyjiw, ohne Aufgabe, und wollte nicht tatenlos zusehen.
Dann kam der Anruf und es ging ganz schnell: Interview, Abreise nach Dnipro, Helikopterflug nach Mariupol. "Vor dem Flug haben sie uns gewarnt: 'Ihr seid mutig, aber wir wissen nicht, wie wir euch später da rausholen'." Doch für Basenko war klar: Er konnte nicht einfach zusehen.
Kurz darauf war er auf dem Weg nach Mariupol. An die Stimmung unter seinen Kameraden erinnert sich Basenko noch heute, denn sie war positiv. Die Menschen in Mariupol spürten, dass man sie auf dem weiten Land nicht vergessen hatte, so Basenko. "Es gab auch Mut zu sehen, dass die Männer aus Kyjiw eingeflogen wurden, obwohl ihnen klar war, dass sie vermutlich nicht zurückkehren würden", fügt er hinzu.
Auch Vladyslav Zhayvoronok, ein junger Kämpfer aus dem Asow-Regiment, befand sich unter den Verteidigern. Er war Ende März mit seiner Einheit nach Azovstal- Stahlwerk verlegt worden. Anfangs diente das Werk als Basis zur Erholung, zur Versorgung mit Nahrung und Ausrüstung. Doch bald wurde es zur letzten Bastion.
In den unterirdischen Bunkern entstand sogar ein Radioprojekt – Bunker.FM – mit dem die Eingeschlossenen trotz Informationsblockade versuchten, in Verbindung zu bleiben und über mögliche Einsätze zu diskutieren.
Zhayvoronok und seine Kameraden hofften nicht auf Evakuierung, sondern auf Verstärkung. Doch die blieb aus. "Die letzten zwei Wochen der Verteidigung von Mariupol und Azovstal erschienen mir seltsam einfach", erinnert sich Zhayvoronok heute.
"Ich hatte meinen Tod bereits akzeptiert und wollte einfach nur sterben, während ich meine Pflicht erfülle. Es ist ganz einfach. Militärs werden das verstehen. Wenn du realisierst, dass es das war, dass über die Hälfte deiner Freunde tot sind dann weißt du, dass du der Nächste bist – und du bist völlig ruhig. Ich habe den Körper meines besten Freundes in einem Leichensack gesehen. Ich war ganz ruhig, weil ich wusste: Heute war er dran, morgen bin ich es. Oder vielleicht in fünf Minuten."
Rückzug ins Azovstal-Stahlwerk
Während des Rückzugs ins Azovstal-Stahlwerk versuchte Basenkos Einheit, den Kalmius-Fluss auf improvisierten Flößen zu überqueren. Doch nicht alle schafften es ans andere Ufer. Von vier Flößen erreichten nur drei ihr Ziel und Basenkos Gruppe geriet unter Beschuss. Am 15. April wurde er schwer verletzt.
Eine Granate detonierte direkt neben ihm und riss ihm das linke Bein ab. Kameraden legten ihm sofort ein Tourniquet an. Von den zehn Soldaten in seiner Gruppe blieben vier unverletzt, drei wurden verwundet, drei getötet. Trotz allem schafften sie es bis zum Salisjaka-Bunker auf dem Azovstal-Gelände. Es war bereits 22 Uhr, als sie ankamen.
Auch Zhayvoronok wurde schwer verletzt. Beim Rückweg von einem medizinischen Bunker auf ihre Stellung traf eine Panzerabwehrrakete seine Gruppe. Zwei der vier Soldaten wurden schwer verletzt.
"Ich verlor mein Bein, mein Augenlicht temporär auf einem Auge, bekam zahlreiche Splitterverletzungen, aber sie konnten mich nicht töten", sagt Zhayvoronok.
"Eine Sanitäterin, Nina – hat sich geweigert, meinen Körper in einen Leichensack zu legen. Sie hat sich entschieden, weiter zu reanimieren – und das hat funktioniert. Deshalb lebe ich."
"Wann schneiden sie mein Bein ab?"
Basenkos erste Frage an die Sanitäterin lautete: "Wann schneiden sie mein Bein ab?"
Die Amputation erfolgte am nächsten Morgen um fünf Uhr und später musste erneut amputiert werden, wegen einer Infektion und beginnendem Nierenversagen. Fast eine Woche lag er bewegungslos auf dem Rücken, kaum fähig, sich zu rühren.
Dass er heute noch lebt, nennt er ein Wunder. "Ich weiß nicht, was mir die Kraft dazu gegeben hat", meint Basenko. "Es ist einfach ein Wunder. Einfach ein Wunder."
Am 16. Mai 2022 haben sich die letzten Verteidiger des Azovstal-Stahlwerks ergeben. Basenko wurde zusammen mit seinen Kameraden von den russischen Streitkräften gefangen genommen.
Die ukrainische Regierung versprach damals, sie werde "alles Notwendige" tun, um die ungenannte Zahl an Soldatinnen und Soldaten zu retten. Doch ihr Schicksal blieb zunächst unklar. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weigerte sich zu bestätigen, ob die Gefangenen als Kriegsgefangene oder als Kriminelle behandelt würden.
Etwa sechs Wochen später, am 29. Juni, kam Basenko im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. "Ich war glücklich, dass ich nach Hause zurückkehren und meine Lieben, meine Familie, wiedersehen würde", erinnert er sich. "Deshalb war ich auch so euphorisch."
Tausende ukrainische Soldaten noch in russischer Gefangenschaft
Doch nicht alle hatten dieses Glück. Tausende ukrainische Soldaten und Zivilisten befinden sich weiterhin in russischer Gefangenschaft. Viele von ihnen sind Berichten zufolge Folter und Misshandlungen ausgesetzt.
Das ist ein Thema, das aus Basenkos Sicht im Westen zu wenig Beachtung findet. "Die Welt sollte wissen, wie Russland ukrainische Kriegsgefangene wirklich behandelt. Ich glaube nicht, dass der Westen die Verbrechen Russlands vollständig versteht", sagt er.
Sein eigenes Schicksal hat ihn geprägt, aber nicht gebrochen. "Es ist nicht so schlimm, wie es manchmal scheint. Es war schon schlimmer. Deshalb haben wir kein Recht, aufzugeben oder einfach so weiterzumachen wie bisher. Wir müssen für die kämpfen, die noch in Gefangenschaft sind, und derer gedenken, die gestorben sind."
Wenn er an Mariupol zurückdenkt, ist der Schmerz mit Stolz verbunden. "Ich möchte vermitteln, dass die Jungs und Mädchen, die die Stadt verteidigt haben, ihr wertvollstes Leben riskiert haben – damit in der Ukraine Frieden herrscht und der Krieg nicht auf andere große Städte übergreift. Das ist genau das, was Menschen zum Wohle anderer opfern."
Mariupol hat für ihn nichts von seiner Bedeutung verloren.
"Mariupol wird in meinem Herzen immer eine schöne und malerische Stadt bleiben. Ich würde gerne in unser Mariupol unter ukrainischer Flagge zurückkehren."