Während Cloudflare zahlreiche Dienste lahmlegt, diskutieren Europas Spitzenpolitiker in Berlin über digitale Unabhängigkeit. Macron warnt vor einem "Wilden Westen" im Netz, Merz fordert weniger Bürokratie - und die EU Kommission kündigt ein weitreichendes Reformpaket an.
Pünktlich zum Gipfel zur Europäischen Digitalen Souveränität bricht im Netz Chaos aus: Ausgerechnet wegen Störungen beim US-Techunternehmen Cloudflare standen am Dienstagnachmittag zahlreiche Onlinedienste still - darunter ChatGPT, Paypal und der Messenger-Dienst Discord. Auch das schwedische Möbelhaus Ikea war zwischenzeitlich nicht erreichbar. Ein symbolträchtigerer Zeitpunkt für diesen Systemfehler wäre kaum denkbar gewesen.
Dementsprechend verhielt man sich auch auf dem Gipfel in Berlin. Die Bühne wurde vor allem genutzt, um die Bedeutung digitaler Eigenständigkeit erneut zu betonen und die politische Dringlichkeit des Themas hervorzuheben.
Europa steht an einem Scheideweg
Roland Lescure, Frankreichs Minister für Wirtschaft, Finanzen sowie industrielle und digitale Souveränität, machte zu Beginn des Gipfels deutlich: In Sachen Künstliche Intelligenz und anderen Zukunftstechnologien liegen die USA weit vorn, China dicht dahinter. Die EU spielt hier hingegen nicht in der ersten Liga.
Europa habe in allen früheren industriellen Revolutionen immer eine führende Rolle eingenommen, so Lescure. Genau das müsse im Bereich der Künstlichen Intelligenz und Cloud-Diensten nun erneut gelingen. Europa müsse die "KI-Revolution" anführen.
Es gehe dabei um nicht weniger als eine "existenziellen Frage für demokratische Werte".
Geopolitische Dimensionen
Die geopolitische Dimension verdeutliche ein Blick in die Ukraine: Dort sei zu sehen, so Henna Virkkunen, Executive Vice-President for Tech Sovereignty, Security and Democracy, der Europäischen Kommission, wie sich digitale Fähigkeiten unmittelbar "auf das Schlachtfeld übersetzen".
Virkkunen betonte, der digitale Raum bilde das Rückgrat moderner Gesellschaften. Dafür müssten die politischen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen werden.
Europa müsse sich von einer rein regelgetriebenen Logik lösen und stärker auf Innovation setzen.
Fünf Prioritäten für mehr digitale Souveränität der EU
Auf dem Gipfel wurden insgesamt fünf Prioritäten vorgestellt, die mehr europäische digitale Souveränität ermöglichen sollen:
- Finanzierung stärken: Europa solle aufhören, indirekt ausländische Konkurrenz zu unterstützen. Angesichts knapper Mittel flössen weiterhin große Summen in US- und asiatische Tech-Konzerne - ein strukturelles Problem.
- Öffentliche Beschaffung nutzen: Behörden sollen verstärkt europäische Technologien und Anbieter berücksichtigen, um die eigene digitale Wirtschaft zu stärken. Zudem soll vermehrt europäisch gemeinsam Beschaffen werden.
- Europäische Daten schützen: Daten sollen souverän, sicher und in europäischen Systemen verwaltet werden.
- Regulierung vereinfachen: Weniger Komplexität, klarere Vorgaben und effizientere Verfahren sollen Innovation erleichtern.
- Gemeinsam handeln: Europäische Staaten sollen enger kooperieren und eine neue Community aufbauen - nicht über Jahrzehnte, sondern in kurzen Entwicklungszyklen. Schnelligkeit sei hier entscheidend.
Forderung einer "Agenda der Vereinfachung"
Immer wieder sprachen die Experten die Regulierungen und die Bürokratie Europas an. Man scheint sich hier einig zu sein: Es braucht weniger Regeln im Bereich der Digitalwirtschaft, sonst wird Europa weiter abgehängt.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fasst es in seiner Rede zugespitzt wie folgt zusammen: Wir hätten vielleicht die beste Regulierung der Welt - wenn wir so weiter machen, bleibe jedoch bald nichts mehr übrig, das wir regulieren können. Deshalb brauche es, so Macron, eine "Agenda der Vereinfachung".
Diese soll morgen folgen - zumindest der erste Schritt. Die EU-Kommission hat die Vorstellung des sogenannten digitalen Omnibus-Pakets geplant, ein umfassender Gesetzesvorschlag, der Bürokratie abbauen und Regelwerke harmonisieren soll, um europäische Tech-Unternehmen im Wettbewerb zu stärken.
Vorgesehen ist unter anderem, die derzeit vier unterschiedlichen Regulierungssysteme für Daten in einem einzigen Rahmen zusammenzuführen, Vorgaben zur Cybersicherheit zu verschlanken sowie den AI Act zu überarbeiten. Zudem soll der Entwurf Unternehmen den Zugang zu digitaler Innovation erleichtern.
Die Pläne haben allerdings bereits vor ihrer offiziellen Vorstellung Kritik ausgelöst. Laut Gegnern würde der „digitale Omnibus“ bestehende Datenschutz- und Verbraucherrechte deutlich abschwächen, wie unter anderem Amnesty International anmerkt. Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament nennen die Maßnahmen der Kommission einen „Freibrief für Big Tech“.
Merz: Wollen keine virtuellen Mauern
Bundeskanzler Merz wandte sich gegen diese Kritik, indem auch er abschließend die Notwendigkeit größerer digitaler Unabhängigkeit betonte. Dafür brauche die EU eigene technologische Fähigkeiten und mehr Innovationskraft - Merz spricht von „Innovationsführerschaft“ -, um im globalen Wettbewerb auf Augenhöhe bestehen zu können.
Trotzdem betonte der Bundeskanzler, dass Europa weiterhin auf Offenheit, Vertrauen und gemeinsame Werte setze. Ziel sei nicht digitale Abschottung, sondern Zusammenarbeit. Man wolle keine virtuellen Mauern.
Zudem verwies Merz auf die enge Verbindung zwischen digitaler Entwicklung, Sicherheit und Verteidigung. Europa müsse sich wirksamer gegen Cyberangriffe und Desinformation schützen; zugleich benötigten Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte moderne digitale Technologien, um handlungsfähig zu bleiben. Voraussetzung seien widerstandsfähige Systeme, die auch dann funktionieren, wenn einzelne Komponenten ausfallen und Alternativen erforderlich sind.
Macron spricht vom "wilden Westen" im Netz
Frankreichs Präsident wurde in seiner Rede zur digitalen Souveränität in Europa überraschend deutlich. Zum Schluss rückte er das Thema Desinformation in den Mittelpunkt und übte dabei indirekt scharfe Kritik an Plattformen wie X.
Er warnte davor, das Internet als Raum grenzenloser Meinungsfreiheit zu verklären. Social Media und das Netz seien derzeit, so Macron, ein "Wilder Westen", der demokratische Strukturen angreife; Inhalte, die nach Europa gelangten, müssten stärker kontrolliert werden. Das Argument uneingeschränkter Meinungsfreiheit dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, welche Risiken damit verbunden seien.
Deutsch-Französische Freundschaft
Neben all den Themen rund um Verteidigungsfähigkeit und europäische Unabhängigkeit betonten Merz und Macron selbstverständlich auch die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft - schließlich hatten beide gemeinsam zu dem Gipfel eingeladen.
Merz stellte in seinem Schlusswort die besondere Rolle der beiden Länder heraus. Deutschland und Frankreich trügen aufgrund ihrer Größe und Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung. Wenn beide ihre Kräfte bündelten, habe das Auswirkungen auf ganz Europa.
Den Gipfel, den sie gemeinsam ausgerichtet haben, verlassen sie übrigens auch gemeinsam: Für den Abend ist ein Dinner von Merz geplant. Die Zusammenkunft findet im Rahmen des sogenannten "E3-Format" - gesellschaftliche Unterstützung kommt vom britischen Premierminister Keir Starmer.