Staatsanwaltschaft Palermo: "In Libyen warten eine Million Menschen auf die Überfahrt nach Europa"

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Von Euronews
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Die Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer ist die Schlimmste seit Oktober 2013, als in der Nähe von Lampedusa ein Schiff mit 500 Migranten an Bord

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Die Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer ist die Schlimmste seit Oktober 2013, als in der Nähe von Lampedusa ein Schiff mit 500 Migranten an Bord sank. 366 Menschen ertranken seinerzeit, darunter viele Frauen und Kinder. Die italienische Regierung rief daraufhin die Rettungsaktion “Mare Nostrum” ins Leben. Ende vergangenen Jahres wurde sie von der EU-Grenzschutzmission “Triton” abgelöst.

Bereits das Jahr 2014 war ein schwarzes Jahr. Als die “tödlichste Route der Welt” bezeichnete der Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen das Mittelmeer. Gut 3500 Menschen fanden 2014 dort den Tod. Im September 2014 sank vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot, von den 200 Migranten an Bord konnten lediglich 36 gerettet werden.

2015 scheint ein noch schlimmeres Jahr zu werden. Seit Februar reihen sich die Dramen aneinander, es ist immer das gleiche Szenario: Hunderte Personen an Bord von Booten, die nicht seetüchtig sind, teils Schlauchboote, alle sind sie überfüllt. Früher oder später havarieren sie.

Die Situation ist nicht neu, doch über die Jahre hat sie sich verschlimmert. Der Bürgerkrieg in Syrien und das Chaos in Libyen treiben die Menschen in die Flucht. Auch immer mehr Menschen aus Regionen südlich der Sahara fliehen vor Armut und Übergriffen islamistischer Terrorgruppen. Allein seit Jahresbeginn wurden mindestens 900 Todesopfer gezählt, viele Menschen werden noch vermisst. Befürchtet werden Hunderte weitere Opfer.

Die Kritik an der Flüchtlingspolitik in der EU wächst. Politiker und Organisationen der Flüchtlingshilfe fordern einen Kurswechsel oder eine Fortsetzung des ausgelaufenen Seenotrettungsprogramms “Mare Nostrum”. Hilfsorganisationen werfen der billigeren EU-Mission “Triton” vor, sie konzentriere sich auf Abschreckung, aber nicht auf die Rettung von Menschenleben.

Die Auffanglager platzen aus allen Nähten. Die Europäische Union diskutiert seit zwei Jahren über eine neue Flüchtlingspolitik. Bislang setzen die Staaten darauf, die Außengrenzen zu sichern, den Kampf gegen Schleuser zu verstärken und die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern. Doch der moralische Druck und die Kritik an der Tatenlosigkeit der EU steigen weiter: Nach neuesten Angaben der
Staatsanwaltschaft im italienischen Palermo warten in Libyen bis zu eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa.

Über die Flüchtlingspolitik der EU sprachen wir mit Aspasia Papadopoulou vom Europäischen Rat für Flüchtlinge und Vertriebene.

euronews:
“Rund eineinhalb Jahre nach dem Unglück von Lampedusa, wo mehr als 350 Menschen ums Leben kamen, gibt es erneut eine Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Warum kann Europa solche Tragödien nicht verhindern?”

Aspasia Papadopoulou:
“Die Europäische Union hat das Problem nicht ganz ernst genommen. Man könnte glauben, dass es den Mitgliedsländern nicht darum geht, Menschen zu retten, die im Mittelmeer in Seenot geraten. Die Alarmglocken beginnen erst zu läuten, wenn Tote vor der Haustüre liegen. In den vergangenen eineinhalb Jahren ist nur die Überwachung der Grenzen verstärkt worden, legale Einwanderungsmöglichkeiten wurden jedoch nicht geschaffen. Bei den Flüchtlingen handelt es sich vor allem um Menschen aus Syrien und Eritrea, die ihr Leben retten wollen. Sie versuchen, sich vor Konflikten und Diktaturen in Sicherheit zu bringen, um jeden Preis. Geht man gegen den Menschenschmuggel vor, bekämpft man nur die Symptome. Will man jedoch den Schleppern das Handwerk legen, muss man Möglichkeiten der legalen Einwanderung schaffen.”

euronews:
“Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini fand deutliche Worte dazu, dass die Mitgliedsstaaten gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen. Kommt nun erneut das sogenannte Dublin-II-Abkommen auf den Tisch, wonach Flüchtlinge in dem Land einen Antrag auf Asyl stellen müssen, in dem sie ankommen? Italien kann die Asylsuchenden nicht in ein anderes Land schicken.”

Aspasia Papadopoulou:
“Das Dublin-Abkommen ist zwar angepasst worden, eine ganze Reihe von Problemen blieb aber bestehen. Die Länder an den Außengrenzen sind der Beweis dafür, dass das Abkommen nicht funktioniert, es hat Schwachstellen. Das bekommen sowohl die Flüchtlinge zu spüren als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten an der Peripherie, denn ihnen wird eine große Last aufgebürdet. Ein anderes System ist notwendig, das für gemeinsame Verantwortung sorgt und das die freie Wahl und die familiären Verhältnisse der Einwanderer berücksichtigt. Es geht also nicht allein darum, die Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer zu verteilen, sondern es geht um deren Familien und darum, wo die Menschen eine Zukunft haben.”

euronews:
“Wie müsste eine wirksame Strategie der EU aussehen? Internationale Organisationen gehen davon aus, dass sich die Lage in den nächsten Monaten verschlimmern wird.”

Aspasia Papadopoulou:
“Was wir am vergangenen Wochenende gesehen haben, wird immer häufiger vorkommen. Die Temperaturen sind gestiegen und in den kommenden Monaten werden sich solche Vorfälle wiederholen, die Lage wird immer dramatischer. Die Zeit drängt, einen Mechanismus zur Suche und Rettung von Migranten zu schaffen, die in Lebensgefahr sind. Das ist nicht sehr schwierig, wenn der politische Wille dazu da ist, wenn die Mitgliedsstaaten Mittel zur Verfügung stellen und wenn Frontex, das System zum Grenzschutz, in diesem Sinn eingesetzt wird. Das alles könnte in kurzer Zeit im Mittelmeer verwirklicht werden, um den Menschen zu helfen. Dann muss für die Unterbringung gesorgt werden und dafür, dass Flüchtlinge humanitäre Visa bekommen. Jene, die am meisten leiden, sollten die Möglichkeit haben, legal nach Europa zu gelangen, ohne sich der Hilfe von Schleppern zu bedienen. Ein syrische Familie, die nach Beirut geflüchtet ist, oder eine Familie, die aus Eritrea nach Tunis gelangt ist, hat kaum die Möglichkeit, legal nach Europa zu gelangen. Wir sollten jedoch diese Möglichkeiten schaffen.”

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