Roberto Saviano: Großbritannien ist das korrupteste Land der Welt

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Mit "Gomorrha" wurde er berühmt. Mafia-Experte Saviano über internationale Geldströme und Europa, das die Augen verschließt

Vor über einem Jahrzehnt enthüllte und denunzierte er in seinem Buch “Gomorrha” die Praktiken der Mafia mit bis dahin kaum dagewesenen Einblicken. Seitdem muss der italienische Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano versteckt leben und erhält Morddrohungen. Das hält ihn aber nicht davon ab, weiter unerbittlich über internationales organisiertes Verbrechen zu recherchieren und zu berichten – Drogenhandel, Geldwäsche und die Gewalt, von der die Mafia lebt. Wir trafen Saviano beim Italissimo-Festival in Paris.

Minderjährige exekutieren, die Bosse sind im Hintergrund

Isabelle Kumar, euronews:
“Sie sind vor zehn Jahren mit Ihrem Buch ‘Gomorrha’ berühmt geworden. Zehn Jahre sind sicher eine lange Zeit in der Welt der Mafia. Was sind die wichtigsten Bereiche, in denen die Camorra sich seitdem verändert hat?”

Roberto Saviano:
“Die große Veränderung war in den letzten Jahren vor allem der Generationswechsel. Heute haben die Bosse die Kontrolle des Terrains im wesentlichen auf ganz junge Leute übertragen. Es ist, als ob sie sich in die noble Abgeschiedenheit zurückgezogen und Kindern von 15 oder 20 Jahren die Macht übergeben hätten. Das sind keine Kinderbanden, sondern echte Mafiosi, mit ihren eigenen Regeln, mit ihrer eigenen, unglaublichen militärischen Gewalt, mit Gehältern, mit dem Betrieb des Drogenhandels. Der große Umbruch bezieht sich auf das Alter. Auch, weil ein Junge von 20 leichter bereit ist, zu sterben.”

Wer mit 30 noch lebt, gilt als Trottel

euronews:
“Die Justiz hat diese Gruppen als ‘städtische Terroristen’ beschrieben. Haben sie Verbindungen oder Ähnlichkeiten mit Terroristen wie den Dschihadisten, die sich Gruppen wie dem sogenannten Islamischen Staat anschließen?”

Roberto Saviano:
“Nein, es gibt keine strukturellen Verbindungen insofern, als sie nicht mit den Dschihadisten reden. Aber kulturell schon. Heute besteht große Ähnlichkeit zwischen einem jungen Mexikaner, Napolitaner oder Südafrikaner und einem Nordafrikaner, der sich dem ‘IS’ anschließt. Sie haben alle die gleiche Gewissheit: Nur derjenige, der bereit ist zu sterben, um zu Geld zu kommen und ein Zeichen zu hinterlassen, kann sich von den anderen abheben. Heute ragst du nach ihrer Lesart nicht heraus, wenn du anders lebst, sondern wenn du anders stirbst. Zum Beispiel die jungen Männer, die ich in den vergangenen Jahren in meinem Land beobachtet habe: Sie schreiben auf Facebook, dass sie niemals 25 Jahre alt werden, noch nicht mal 20. Ein 30-Jähriger wird schon als Trottel angesehen, als jemand, der es nicht hinkriegt.”

Roberto Saviano: Biografie

  • 1979 in Neapel geboren, in der benachbarten Kleinstadt und Camorra-Hochburg Casal di Principe aufgewachsen
  • Nach dem Philosophie-Studium arbeitet er als Schriftsteller und Jounalist
  • Sein Erstlingswerk ‘Gomorrha’ machte ihn 2006 berühmt – eine Mischung aus Roman und Tatsachenbericht
  • ‘Gomorrha’ brachte die Mafia gegen Saviano auf, er muss seitdem versteckt leben
  • Sein Buch ‘ZeroZeroZero. Wie Kokain die Welt beherrscht’ wurde ebenfalls international zum Bestseller
  • Sein neuestes Buch heißt ‘La Paranza dei Bambini’

Italien redet darüber, der Rest schweigt

euronews:
“Sie beschreiben dieses Szenario in Ihrem neuen Buch ‘Paranza dei Bambini’. Das scheint auch durch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit angeheizt zu werden. Diese Jugend hat nicht wirklich eine Chance, es gibt einen massiven Verfall in diesen Städten, besonders in Neapel. Steht Neapel Ihrer Meinung nach symbolisch für viele andere Städte dieser Welt?”

Roberto Saviano:
“Sicher. Mexiko Stadt, Lagos, Rio de Janeiro, die Pariser Banlieues, die Peripherie von Barcelona – sie alle sind symbolische Orte dieser Geschichten. Neapel und Italien dienen lediglich als Ort, um die Geschichte zu erzählen. Hier in Frankreich zum Beispiel dreht sich die ganze Diskussion nur um die Folgen und nicht um die Ursachen. Die französischen Vorstädte stecken voller krimineller Gelder, und dennoch reden alle nur über die Folgen, über die Dealer, über die Migranten. Aber dieser Dealer und dieser Migrant bekommen ihr Geld und das Kokain von der französischen Mafia – der Mafia aus Marseilles und Korsika, über die Geldwäsche, die in der französischen Finanzwelt stattfindet – am Ende landet alles in Luxemburg. Der Unterschied zwischen uns in Neapel und dem Rest, vor allem Europa, ist, dass wir darüber reden. Der Rest Europas tut sich schwer, diese Geschichten einzugestehen.”

euronews:
“Wenn wir uns auf Europa konzentrieren: Gibt es da ein gewisses Maß an Heuchelei – Sie sagen, dass in Italien über diese Dinge geredet wird, europäische Politiker aber nicht darüber sprechen. Machen sie das vielleicht mit voller Absicht nicht?”

Roberto Saviano:
“Hmmm. Das Unglaublichste auf der Welt ist die politische Debatte in Frankreich. Da gibt es nicht einen einzigen Präsidentschaftskandidaten, der über diese Geschichten Bescheid weiß. Sie reden über die Folgen der Einwanderung, aber nicht darüber, wer zum Beispiel das Geld an diese kriminellen Vororte zahlt. Wo das Geld herkommt, wo das Kokain herkommt, wie die Geldwäsche in Paris funktioniert, wer die Wohnungen kauft. All das wissen sie nicht, das weiß nur ein Teil der Polizei, eine Handvoll spezialisierte Journalisten. Der Rest des Landes schaut woanders hin.”

Geld aus illegalen Quellen wird in der Wirtschaft gebraucht

euronews:
“Wenn die Leute das ausblenden: Liegt das vielleicht auch daran, dass dieses illegale Geld in der Wirtschaft in gewisser Weise gebraucht wird? Sie beschreiben die Menge des illegalen, gewaschenen Geldes, das in die europäische Volkswirtschaft fließt, als absolut astronomisch. Wenn man in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation dieses Geld abziehen würde – könnte das nicht zum Kollaps führen, den diese Politiker nicht wollen?”

Roberto Saviano:
“Sicher, auch das. Einer der Gründe ist auch, wenn man Regeln gegen Geldwäsche aufstellt, dann blockiert man auch anderes Geld, nicht nur vom Drogenhandel, sondern auch Geld aus dem Nahen Osten, Geld aus Steuerhinterziehung. Wenn man seine Gesetze, sagen wir, undurchlässig für die Mafia machen will, macht man sie in Wirklichkeit auch undurchlässig für eine ganze Reihe anderer Gelder, die man braucht. Europa hat in dieser Hinsicht völlig die Hypothese aufgegeben, das Kapital kontrollieren zu können. Der Brexit ist eines der Beispiele dafür: Er wurde durch den Wunsch angetrieben, Großbritannien zu einem Off-Shore-Steuerparadies zu machen.”

Großbritannien das korrupteste Land der Welt

euronews:
“Wenn Großbritannien zum Offshore-Steuerparadies wird oder es früher schon war, welche Rolle spielt da Ihrer Ansicht nach der Brexit? Wo sehen Sie die Zukunft des Vereinigten Königreichs, wenn es um Geldwäsche geht, um diese illegalen Machenschaften?”

Roberto Saviano:
“Großbritannien ist schon, absolut betrachtet, das korrupteste Land der Welt – Transparency International zum Beispiel hat es mit unwiderlegbaren Daten nachgewiesen. Nicht bei Politik oder Polizei, aber bei der Geldwäsche. Kein Brite hat das Gefühl, im korruptesten Staat der Welt zu leben, weil er keinen Polizisten schmieren kann oder weil er keine unmittelbar bestechliche Politik sieht. Aber die Briten wissen nicht, dass ihr Finanzsystem absolut korrupt ist. Inwiefern korrupt? In dem Sinne, dass es keine Kontrolle über die Geldflüsse gibt, nicht über die nach London, nicht über die nach Malta, nach Gibraltar und Jersey. Dies alles sind Einfallstore, durch die Großbritannien Geld ohne Kontrolle hineinkommen lässt. Panama war in der Vergangenheit das Zentrum der Geldwäsche – heute ist es London. Panama hat sich dafür mit den Panama Papers gerächt: Indem sie Namen preisgaben, haben sie sich eindeutig an London gerächt, das zu einem Konkurrenten wurde.”

euronews:
“Ein neuer Bericht von Europol zeigt auf, wie diese internationalen Gruppen, die Mafia, die Technologie hundertprozentig nutzen und sich dadurch noch tiefer einnisten können und noch mehr vor den Behörden verbergen können. Wird es allmählich fast unmöglich, diese Gruppen zu verfolgen und zu schnappen?”

Roberto Saviano:
“Wenn es echte Gesetze gegen Geldwäsche gäbe… Heute ist es viel einfacher, die Geldströme zu kontrollieren, denn wir haben nicht länger mit Banknoten zu tun, sondern mit Transaktionen, die eine Spur im Internet hinterlassen. Das Problem ist, dass es ganze Territorien gibt, in die man leicht Geld überweisen und es dort verschwinden lassen kann. Jeder europäische Staat hat seinen eigenen Geldschrank: Spanien hat Andorra, Deutschland hat Liechtenstein, Frankreich hat Luxemburg und alle haben die Schweiz. Es ist wirklich einfach, in Europa Geld zu verstecken.

In der Vergangenheit hatten die Banken Angst, Mafia-Geld zu nehmen. Das war so in den 80ern und 90ern. Heute buhlen sie um Mafia-Geld, denn sie haben Liquiditätsprobleme, und die Wirtschaftskrise hat das Banksystem in die Knie gezwungen. So sind die Abwehrsysteme der Banken total geschwächt und die Mafia kann einziehen. Das ist ein neues Phänomen aus der Mitte der 2000er. Die Mafia hatte üblicherweise Schwierigkeiten, in europäischen Banken Geld zu waschen, sie wandte sich normalerweise an Offshore-Banken in Südamerika und Asien. Aber jetzt ist sie stattdessen in die legale Wirtschaft eingedrungen.”

Türkische, libysche und libanesische Mafia lenkt syrischen Flüchtlingsstrom

euronews:
“Das sind sehr harte Anschuldigungen. Bekommen Sie politisch Gegenreaktionen auf das, was Sie sagen, oder werden Sie schlicht ignoriert?”

Roberto Saviano:
“Ich erhalte jeden Tag irgendwelche Reaktionen. Ich bin nie willkommen in den Ländern, die ich besuche, man sagt mir immer wieder: Das ist ein italienisches Problem, reden Sie über Ihr eigenes Land. Man wirft mir meistens vor, zu übertreiben, mir das alles auszudenken oder zu wiederholen, was schon längst bekannt ist. Das ist ein Kurzschluss. Alles, worüber wir geredet haben, findet nicht im Geheimen statt – es wird schlicht nicht gesehen. Heute konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf den Terrorismus, so kann das Geld der Mafia und der Geldwäsche absolut frei dorthin fließen, wohin es will.”

euronews:
Medienberichte haben aufgedeckt, dass Europas Kriminelle die Flüchtlingskrise ausnutzen, anscheinend ist Menschenschmuggel zurzeit eines der lukrativsten Verbrechen. Sehen Sie das auch so?”

Roberto Saviano:
“All die Boote, die das Mittelmeer überqueren, werden von Kartellen betrieben. Aber nicht von italienischen Kartellen, wie man glaubt. Die Mafia hat dort nichts zu sagen. Das sind türkische, libysche und libanesische Gruppen, die schon immer in den Menschenschmuggel investiert haben, und Europa hat nicht die leiseste Idee von dieser Dynamik. Die Kartelle, die den Strom der Syrer nach Europa organisiert haben, gehören alle zur türkischen Mafia, und es ist dieselbe Mafia, die den Heroin-Schmuggel aus Afghanistan leitet. Der sogenannte Islamische Staat, das ‘Kalifat’ zum Beispiel hat drei Haupteinnahmequellen – alles kriminelle Machenschaften: Illegale Geschäfte, Ölschmuggel und Kunstschmuggel – die vierte sind Drogen: Die Aufputschdroge Captagon, ein Metamphetamin, oder Marihuana, die der ‘IS’ in Albanien anbaut. Entweder wir denken über die Dinge nach, oder wir betrachten sie nur oberflächlich und sehen zum Beispiel ein Kampf zwischen Zivilisationen dort, wo es lediglich einen Kampf zwischen Kriminellen gibt.”

Rache an der Mafia

euronews:
“Mit Ihrer fortgesetzten Arbeit bringen Sie Ihr eigenes Leben in Gefahr. Sie scheinen bereit zu sein, für Ihre Arbeit zu sterben. Gibt es für Sie irgendein Zurück, oder ist das fast schon eine Obsession Ihres Lebens, all das aufzugeben, was andere Leute Ihres Alters normalerweise haben – Familie, Heim, Freunde…”

Roberto Saviano:
“Kann schon sein. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Und was ich tun könnte, das mache ich nicht. Ich sollte verschwinden. Ich sollte aufhören, Interviews zu geben, Bücher zu schreiben, meine Arbeit zu machen. Aber zwei Dinge halten mich davon ab: Zum einen mein Ehrgeiz – denken zu können, dass meine Worte immer noch Gewicht haben, die Realität beeinflussen können. Und dann ist da die Frage der Rache: Die Rache, weiterzumachen, obwohl doch die Mafia mein Leben fast unmöglich macht. Ich würde niemand anderem empfehlen, es ebenso zu machen. Denn ich hätte all das etwas vorsichtiger tun können. Ich würde es nicht noch einmal so machen – ich wäre vorsichtiger, disziplinierter. Heute sehe ich, dass ich zu schnell war und gegen eine Wand fuhr.”

euronews:
“Als Sie ‘Gomorrha’ schrieben, standen Sie im wirklichen Leben, sie redeten mit den Leuten, Sie erlebten persönlich, was passierte. Heute hat sich Ihre Arbeit drastisch verändert, Sie können nicht länger direkt dabei sein. Wie sehen Sie da selbst ihre Entwicklung als Schriftsteller?”

Roberto Saviano:
“Als ich jung war, hatte ich Schwierigkeiten, Richter zu treffen oder an abgehörte Telefongespräche heranzukommen – jetzt werden sie mir direkt zugeschickt. Heute will jeder, dass ich über diese Ermittlungen rede, es ist unglaublich, wie sich alles ändert. Zum Beispiel kann ich nur schwer frei in einem Zug fahren. Aber kürzlich bin ich mit meinem Leibwächter in einem italienischen Zug gefahren. Das hat mich total beeindruckt, es war zehn Jahre her, dass ich mit der Bahn fuhr. Freiheit ist etwas Magisches, und wie alles Andere schätzt du sie besonders, wenn du sie verloren hast. Es ist wie mit Menschen, die du liebst, wie mit Sauerstoff. Als ich meine Freiheit verloren hatte, verdammt – da begriff ich, was Freiheit bedeutet! Ich begriff, wie sich Kranke oder Häftlinge fühlen, diejenigen, die sich nicht frei bewegen und auswählen können. Jeder Moment der Freiheit, den ich mir erlauben kann, ist für mich Gold wert.”

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