In 10 Monaten erarbeitet und 420 Euro Anfangsgehalt - Lehrer und Eltern gegen Schulreform in Polen

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Von Euronews
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Für knappe fünf Millionen polnischer Schüler brachte der Beginn des neuen Schuljahrs in der ersten Septemberwoche gleichzeitig den Anfang einer gefürchteten Schulreform. Die konservative Regierung der “Recht und Gerechtigkeit” (PiS), vertreten von Bildungsministerin Anna Zalewska, hat das bisherige dreigliedrige Schulsystem (mit einer sechsjährigen Grundschule, einer dreijährigen Mittelstufe und einem dreijährigen Gymnasium) durch eine achtjährige Grundschule und ein vierjähriges Gymnasium ersetzt.

Die Reform, die schon zehn Monate nach ihrer Ankündigung in Kraft tritt, wird vor allem für die extreme Eile, mit der sie durchgeführt wird, kritisiert. Ein anderer Streitpunkt sind die 7.000 Mittelstufenschulen, die nun geschlossen werden müssen.

Laut der Gewerkschaft der polnischen Lehrer ZNP, die dagegen protestiert, sollen als unmittelbares Resultat der Reform 10.000 Lehrkräfte entlassen werden. Die Gewerkschaft hatte zusammen mit besorgten Elterngruppen insgesamt rund 910.000 Unterschriften gesammelt, um einen Volksentscheid zum Thema Schulreform zu beantragen. Der Antrag wurde vom Parlament, in dem die PiS die Mehrheit hat, abgelehnt.

Die Mittelstufe für 13- bis 15-Jährige, die nun abgeschafft wird, wurde in Polen erst 1999 im Rahmen einer umfassenden Schulreform eingeführt. Das System funktionierte auch nach internationalen Bewertungen eher gut: Laut der PISA-Studie, die die Schulkompetenzen von 15-Jährigen vergleicht, zählte Polen 2012 zu den zehn besten Ländern. 2015 – auf Platz 22 von 72 – schnitt das polnische Bildungssystem immer noch besser ab als der OECD-Durchschnitt, während die Resultate aus dem Jahr 2000 – direkt nach Einführung der Mittelstufe – noch deutlich unter den OECD-Durchschnittswerten lagen.

Die Bildungsministerin war laut der polnischen Presseagentur PAP trotzdem der Meinung, dass die Mittelstufe die Unterschiede zwischen den Schülern eher verstärkte, als sie zu beseitigen. „Das Ziel der Reform ist es, jedem das gleiche Bildungsniveau zu gewährleisten, egal ob er oder sie in einem Dorf oder in einer Großstadt wohnt. Die Schule soll näher am Wohnort sein und moderner werden“, sagte Zalewska.

Die Reform beinhaltet sowohl strukturelle als auch in inhaltliche Änderungen: Die neuen Schulbücher, die die Herausgeber innerhalb weniger Monate vorbereiten mussten, legen einen größeren Wert auf klassische polnische Literatur und polnische Geschichte. Außerdem soll Programmieren ab der ersten Grundschulklasse unterrichtet werden.

Die Opposition befürchtet, dass die Reform eigentlich darauf abzielt, Schüler nationalistisch und gehorsam zu erziehen.

Lehrer und Eltern haben schon jetzt mit den praktischen Aspekten der Reform zu tun. „Unsere Schule hat die Schüler auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet. Jetzt muss sie geschlossen werden“, sagte Krzysztof Adamowicz, Physiklehrer und Leiter einer privaten Mittelstufenschule in Warschau, die gerade in ein Gymnasium verwandelt wird. Adamowicz widmete den ganzen Sommer der Überarbeitung der Stundenpläne und hat dabei versucht so viele Lehrkräfte wie möglich in der Schule zu behalten.

Maria Sass, eine Mutter von drei Kindern aus Warschau, betrachtet die Änderungen mit Skepsis. Zwei ihrer Kinder, Wojtek und Ania, gehen in die erste und in die siebte Klasse. „Zehn Monate sind viel zu knapp, um das ganze Bildungssystem und das Lehrprogramm für alle neu zu gestalten. Ich glaube nicht, dass dies ordentlich gemacht worden ist.“ Frau Sass kündigt schon jetzt an, dass sie genau beobachten werde, was an den Schulen ihrer Kinder unterrichtet wird.

Barbara Chwedczuk, Leiterin des staatlichen Gymnasiums in Piaseczno in der Nähe von Warschau lobt unterdessen einen Aspekt der Reform: „Ich freue mich, dass wir nun mit jüngeren Schülern arbeiten werden. Diejenigen, die zu uns nach drei Jahren Mittelstufe kamen, hielten sich für junge Erwachsene und hatten die ersten Erfahrungen mit Sex, Alkohol und Zigaretten bereits hinter sich.“ Chwedczuk ist allerdings unzufrieden damit, dass die Gehälter der Lehrkräfte immer noch nicht an die Rolle angepasst worden sind, die sie beim Erziehen der Gesellschaft der Zukunft spielen. „Viele begabte Lehrer kündigen, weil sie es sich nicht leisten können, ihre eigenen Kinder aufzuziehen“.

Um solche Kritik abzuweisen, kündigte die polnische Premierministerin Beata Szydło am vergangenen Montag an, dass die Lehrergehälter drei Jahre lang um fünf Prozent jährlich steigen sollen. Die erste Gehaltserhöhung solle im April 2018 stattfinden. „Die zusätzlichen 90 Zloty machen einen wirklich kaum einen Unterschied, wenn ein Einsteiger in den Lehrerberuf ungefähr 1800 Zloty, knappe 420 Euro im Monat verdient – ungefähr so viel wie eine Putzfrau“, sagte Schulleiterin Chwedczuk.

Antonina Falandysz-Zięcik, die an einem regnerischen Dienstag mit ihrer ältesten Tochter, der Erstklässlerin Barbara zur Schule eilt, zählt zu den wenigen, die sich keine Sorgen über die Schulreform machen. Als Kind gehörte sie zum ersten Jahrgang, der in der 1999 eingeführten Mittelstufe lernte. „Es herrschte Chaos und viel blieb ungewiss, aber wir haben es überstanden. Ich bin mir sicher, dass meine Kinder es auch schaffen werden“.

Von Julia Szyndzielorz, Warschau

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