Gerichtsentscheid: DDR-Flüchtlinge können Entschädigung erhalten

Berlin, Brandenburger Tor, Mauerbau, Luftbild
Berlin, Brandenburger Tor, Mauerbau, Luftbild Copyright Bundesarchiv, Bild 145-P061246 / o.Ang. / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
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Von Anne Fleischmann mit dpa
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Gerichtsentscheid: DDR-Flüchtlinge können Entschädigung erhalten

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DDR-Flüchtlinge können für Flucht-Traumata entschädigt werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden. In der Erklärung des Gerichts heißt es, die von der DDR installierten Grenzsicherungsmaßnahmen seien rechtsstaatswidrig gewesen.

Dieter Dombrowski, Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, ist selbst in der DDR aufgewachsen und dort mehrmals verhaftet worden. Er nennt es "ein wegweisendes Urteil".

"Gerade die SED-Opfer, die schwere psychische Schäden davongetragen haben, sind extrem benachteiligt, weil sie auf dem üblichen Weg in der Regel nicht zu einer Anerkennung ihrer Schäden kommen. Das muss endlich geklärt und beendet werden", sagt Dombrowski.

SED-Opfer, die schwere psychische Schäden davongetragen haben, sind extrem benachteiligt.
Dieter Dombrowski
Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft

Geklagt hatte ein 56-jähriger Mann, der gemeinsam mit seinem Bruder kurz vor Weihnachten 1988 nach West-Berlin floh. Dabei hätten ihn Wachen mit einem Maschinengewehr bedroht, als er mit seiner Kleidung im Zaun der Grenzanlage am südwestlichen Stadtrand Berlins hängen blieb. Sie hätten nicht geschossen, doch Minen seien explodiert. Bis heute leide er an den Folgen der Flucht: Misstrauen, Reizbarkeit und Wutanfälle.

"Es ist ja nicht nur wie in einem konkreten Fall, dass jemand zehn Stunden in einem Grenzgraben gelegen hat und sich versteckt hat. Es gibt Menschen, die angeschossen wurden. Es gibt Menschen, die Angehörige verloren haben. Es gibt Menschen, die unter Repressionen und Zersetzungsmaßnahmen gelitten haben viele Jahre. Das macht ja was mit den Menschen", erklärt Dombrowski.

Auch er selbst war zu vier Jahren Gefängnis in der DDR verurteilt - aus politischen Gründen, wie er sagt. "Ich bin dann nach meinem Freikauf in der Bundesrepublik zehn Jahre lang von 16 Mitarbeitern der Staatssicherheit überwacht worden rund um die Uhr."

Zu dem Zeitpunkt habe er zwar nicht gewusst, aber geahnt, dass er überwacht wurde. "Und das macht ja was mit Menschen, wenn man sich nicht mehr frei bewegen kann, nicht mehr in der eigenen Wohnung, nicht mehr mit Freunden über alles reden kann, überall Zurückhaltung", sagt Dombrowski.

Der Kläger scheiterte zuerst vor Gericht

Zunächst hatte das brandenburgische Innenministerium die Forderung nach Rehabilitierung abgelehnt. Auch vor dem Verwaltungsgericht Potsdam scheiterte die Klage. Die Begründung: Die Grenzsicherung der DDR habe sich nicht individuell gegen den Flüchtenden gerichtet, sondern gegen alle Einwohner der DDR.

Das Bundesverwaltungsgericht teilte mit, dass diese Begründung Bundesrecht verletze. Vielmehr waren die Grenzsicherungen rechtswidrig, da sie "in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit verstießen und Willkürakte im Einzelfall darstellten."

Dadurch kann der Betroffene nun entsprechende Anträge bei Versorgungsämtern stellen, so dass beispielsweise Behandlungskosten übernommen werden.

Wir haben Richter, die Gutachter ermahnen, nicht mehr so patientenfreundlich zu gutachten. Ansonsten werden sie nicht mehr als Gutachter bestellt.
Dieter Dombrowski
Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft

Dass es erst Gerichtsentscheide braucht, damit DDR-Flüchtlinge, die unter psychischen Folgen ihrer Flucht leiden, Entschädigung bekommen, findet Dombrowski schade.

"Jeder sollte sich darauf verlassen können, dass er zu seinem Recht kommt – als Versicherter wie auch als Geschädigter", erklärt er.

Gerichte üben Druck auf Gutachter aus

Die meisten Opfer werden mit den Folgen jedoch bisher allein gelassen. Das Problem sei laut Dombrowski vor allem auch, dass viele Gutachter sich mit Traumata nicht auskennen und so die weitreichenden Folgen nicht beurteilen können. Zudem werde auf Gutachter oft Druck ausgeübt.

"Nicht nur von Versicherungsträgern, auch von Gerichten. Auch da haben wir Richter, die Gutachter ermahnen, nicht mehr so patientenfreundlich zu gutachten. Ansonsten werden sie nicht mehr als Gutachter bestellt. Das können wir belegen, das ist in den Kreisen auch überhaupt kein Geheimnis", sagt Dombrowski.

Der Grund liegt für Dombrowski auf der Hand: "Das ist eine Frage mangelnder Sensibilität. Und auch der Nichtbereitschaft, Menschen, die einen Anspruch haben, dem nicht nachzukommen. Das ist insbesondere zum Jahrestag des Mauerfalls, nächstes Jahr 30 Jahre deutsche Einheit, ein trauriges Kapitel."

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts könnte den Umgang mit ähnlichen Fällen und die Aufarbeitung psychischer Folgen zukünftig verändern.

"Wir werden jetzt die 30 Jahre deutsche Einheit alle schön feiern, alle freuen sich. Aber es dürfen darüber nicht die Menschen vergessen werden, die unter schweren Folgen der SED-Diktatur zu leiden haben. Das ist nicht nur so daher gesagt oder um Mitleid zu erwecken, auch diese Menschen haben einen Anspruch darauf, dass ihre Lebensleistung gewürdigt wird. Das ist bisher nicht der Fall", so Dombrowski.

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