Immer mehr Proteste: Verliert Putin die Kontrolle in Russland?

Demonstranten in Chabarowsk, Russland, halten Schilder hoch, auf denen zu lesen ist: "Freiheit für Sergej Furgal, ich bin, wir sind Sergej Furgal".
Demonstranten in Chabarowsk, Russland, halten Schilder hoch, auf denen zu lesen ist: "Freiheit für Sergej Furgal, ich bin, wir sind Sergej Furgal". Copyright Igor Volkov/AP
Von Emma Beswick
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Im Osten Russlands hat es in den vergangenen Wochen immer häufiger Proteste gegen Langzeitpräsident Wladimir Putin gegeben.

WERBUNG

Trotz mehrerer Versuche aus Moskau, Proteste zu unterbinden, haben am vergangenen Wochenende Zehntausende von Menschen in den Straßen von Chabarowsk im Osten Russlands protestiert. Ihr Unmut richtete sich gegen die Verhaftung eines Regionalgouverneurs.

Im Vorfeld der Veranstaltung sprach der Sondergesandte des Kremls für die Region den Demonstranten sein Verständnis aus. Er bat aber wegen der Infektionsgefahr mit dem Coronavirus, die Veranstaltung abzusagen.

Vergebens: Innerhalb einer Woche fanden zwei Großproteste statt, nach einer Kundgebung am Samstag zuvor, und auch in den umliegenden Städten kam es zu kleineren Demonstrationen.

Die meisten Teilnehmer forderten einen fairen Prozess für den Gouverneur von Chabarowsk, Sergej Furgal, aber es gab auch Anti-Putin-Schilder und -Gesänge.

Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten infolge der Covid-19-Pandemie sind die Proteste ein Zeichen dafür, dass Putin Schwierigkeiten bevorstehen?

Was ist an diesen Protesten anders?

Die Demonstrationen in Chabarowsk betreffen die Verhaftung des Gouverneurs vor zwei Wochen wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an mehreren Morden an Geschäftsleuten in den Jahren 2004 und 2005, also vor Beginn seiner politischen Karriere, so der russische Untersuchungsausschuss.

Furgal bestreitet die Vorwürfe, wurde aber nach Moskau geflogen, wo er für zwei Monate ins Gefängnis kam.

Die Wahl Furgals, Mitglied der nationalistischen Liberaldemokratischen Partei, war an sich schon eine Überraschung, so Maria Lipman, Politikwissenschaftlerin und Senior Associate an der George-Washington-Universität.

Der Kreml betrachtete ihn als zu schwach, um gegen den Kandidaten zu gewinnen, den die Regierung 2018 befürwortete. Furgal habe seither dem Volk in einem direkten, materiellen Sinne gedient, der ihn anscheinend an Popularität gewinnen ließ, wenn man die Menge derer bedenkt, die ihn bei Protesten unterstützten.

Die Demonstranten sahen in der Verhaftung "den Kreml, der seinen Willen durchsetzt, und das gefiel ihnen nicht", erklärte Lipman.

Igor Volkov/AP
Lokale Proteste: Ein Stimmungsbarometer für das gesamte Land?Igor Volkov/AP

Die Protestsituation in Chabarowsk ist für Russland aus zwei Gründen ungewöhnlich - wegen der Entschlossenheit, mit der die Demonstranten ihre Klagen zum Ausdruck bringen, und wegen der scheinbar sanften Reaktion Moskaus.

"Die Menschen haben ihren Willen hartnäckig zum Ausdruck gebracht", sagte Lipman gegenüber Euronews und fügte hinzu, der Kreml zeige "ein gewisses Maß an Toleranz" in seiner Reaktion, ohne dass die Polizei schwerfällig eingreifen würde.

In Moskau begegnet man Aktionen der politischen Opposition mit einer Null-Toleranz-Haltung, wobei Teilnehmer festgenommen und manchmal "aufgemischt" werden, fügte sie hinzu.

Der Kreml habe eine solche Reaktion auf die Verhaftung Furgals nicht erwartet, so Lipman, und die verhaltene Reaktion lasse sich damit erklären, dass die Regierung die Situation nicht verschlimmern wolle. Sie erwarte, dass "die Proteststimmung verblasst".

Lässt die Unterstützung für Putin tatsächlich nach?

Putins Zustimmungsrate ist auf dem niedrigsten Stand seit seinem Amtsantritt vor 20 Jahren und er "sieht deutlich schwächer aus", sagte Lipman.

Dem Kreml zufolge hat Putin Anfang Juli ein "triumphales Referendum über das Vertrauen" gewonnen, bei dem über 78 Prozent der Wähler Änderungen befürworteten, die es ihm ermöglichen, bis mindestens 2036 an der Macht zu bleiben.

Die Abstimmung war jedoch mit Behauptungen über Betrug verschiedener Art behaftet, was zeigt, dass die Unterstützung zu einem höheren Preis kommt, erklärte Lipman.

Während die Aufgabe des Kremls, "das Land unter Kontrolle zu halten", schwieriger geworden ist, hält sein Anführer einige Trümpfe im Ärmel: Nach wie vor gibt es keine starke Opposition, zudem kontrolliert er die bewaffneten Kräfte.

WERBUNG

"Die allgemeine Stimmung in Russland ist nicht optimistisch, aber vom Gefühl zum Handeln ist es dort erfahrungsgemäß ein sehr weiter Weg", erklärte sie.

Die Menschen in Russland "sehen Politik im Allgemeinen nicht als ein Instrument, mit dem sie ihr Leben verbessern können", so Lipman.

Putin stößt auf keine wirkliche politische Opposition, fügte sie hinzu, während die breite Öffentlichkeit "Putin nicht so sehr unterstützt, sie unterstützt auf nationaler Ebene niemanden wirklich".

Anstatt an Wahlen teilzunehmen, um ihre Unzufriedenheit über Amtsträger zum Ausdruck zu bringen, versuchen die Menschen, sich an die sich verschlechternden Bedingungen im Land anzupassen.

Zu Putins Gunsten spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass sowohl die politische Elite als auch Organisationen, die im Bedarfsfall Gewalt anwenden können, wie die Polizei, die Streitkräfte und die staatlichen Sicherheitsorgane, alle loyal zu ihm sind und er, wenn er zu härteren, repressiveren Maßnahmen greifen muss, diese auch anwenden kann.

WERBUNG

Aus diesen Gründen wäre es falsch anzunehmen, dass Chabarowsk ein Vorbote ist und eine Region nach der anderen nachziehen wird, sagte Lipman: "Ich glaube nicht, dass es in Russland so läuft."

Moskau sieht den Aufstand in Chabarowsk als lokale und nicht als nationale Herausforderung an, fügte sie hinzu.

Zur Strenge der Gewalt, zu der der Kreml bereit sein wird, sagte sie: "Irgendwie werden sie damit umgehen, komme was wolle."

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Nach Corona-Pause: Russische Urlauber wieder unterwegs

Evan Gershkovich: Ein Jahr in Untersuchungshaft

Nach Anschlag in Russland: FSB verdächtigt die USA, Großbritannien und die Ukraine