"Eine Schande für die internationale Gemeinschaft": Zwei syrische Flüchtlinge erzählen

Millionen Menschen mussten vor dem Krieg in Syrien fliehen
Millionen Menschen mussten vor dem Krieg in Syrien fliehen Copyright Hassan Ammar/AP
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Von Rachael Kennedy
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10 Jahre ist es her, seit die Proteste in Syrien begannen, die in einem Bürgerkrieg gipfelten, der Hunderttausende getötet hat und Millionen in die Flucht trieb.

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Als Razan Ibraheem im Sommer 2011 ihr Leben zusammenpackte, um nach Europa zu ziehen, ahnte sie nicht, dass sie ihr Zuhause nie wieder sehen würde. Ein Jahr wollte sie bleiben, um ihren Master-Abschluss als Englischlehrerin zu machen. Doch das, was in den darauffolgenden zwölf Monaten in ihrer Heimat geschah, machte eine Rückkehr unmöglich.

Fünf Monate vor ihrer Abreise, im März 2011, hatten in Daraa, einer Stadt im Süden Syriens die pro-demokratischen Proteste gegen Präsident Baschar Assad ihren Anfang genommen.

Die Demonstrant:innen hatten sich von ähnlichen Aufständen gegen Machthaber im Nahen Osten inspirieren lassen, die schließlich zum Sturz der Regierungen in Ländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen führten. In Syrien hingegen reagierte Assad mit einem brutalen Vorgehen gegen diejenigen, die protestierten. Das heizte die Stimmung nur noch weiter an, Wut kochte hoch und löste landesweite Proteste aus - und als diese immer heftiger wurden, reagierte auch die Regierung. Schon bald war das Land in einen Bürgerkrieg verstrickt.

"Ich hätte nie gedacht, dass ich zehn Jahre später hier sein würde", sagte Razan, als sie vergangene Woche von ihrem Haus in Dublin aus mit Euronews sprach. "Als ich nach Irland kam, hätte ich nie gedacht, dass ich kommen würde, um zu bleiben. Niemals in meinem Leben hätte ich gedacht, dass die Gewalt eskalieren und sich in einen Krieg verwandeln würde."

"Als ich wegging, dachte ich, ich würde ein Jahr bleiben und dann nach Hause zurückkehren. Ich wollte mein eigenes Geschäft aufmachen - eine Sprachschule in Syrien -, aber all meine Träume hatten sich erledigt."

Razans ist nicht die einzige, die sich in einer solchen Situation befindet. In einem Konflikt, in dem mehr als 400.000 Menschen getötet- und Millionen weitere vertrieben hat.

Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es 6,6 Millionen Vertriebene in Syrien selbst; 5,6 Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen. Viele sind in die Nachbarländer Jordanien und Libanon gegangen, andere, wie Razan, haben sich in Europa ein neues Leben aufgebaut.

Bislang hat die Türkei mehr als 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, die meisten in Europa und weltweit. Deutschland hat inzwischen rund 570.000 aufgenommen, Schweden 113.000, Österreich 51.000, die Niederlande 31.000, Griechenland 26.000 und Dänemark 20.000.

In der Schweiz, Frankreich, Bulgarien, Belgien, Armenien, Norwegen, Spanien, Großbritannien, Zypern und Italien haben jeweils weniger als 20.000 Syrer Zuflucht gefunden.

Ahmed Barakat
Ahmed Barakat eingewickelt in die syrische Flagge mit 3 Sternen des prä-baathistischen RegimesAhmed Barakat

Ahmed Barakat, der Englisch an der Universität von Aleppo studierte, als der Konflikt begann, lebt jetzt in der Türkei, nachdem er zunächst im eigenen Land geblieben war, um über die Proteste zu berichten. Er sagte gegenüber Euronews: "Ich beschloss, meine Rolle darin zu sehen, diese Momente zu dokumentieren und sie mit regionalen und internationalen Medien und in den sozialen Netzwerken zu teilen, um zu zeigen, wie Syrer friedlich grundlegende Rechte auf den Straßen fordern und wie das Regime und seine Sicherheitskräfte darauf mit Feuer, Verhaftungen und Folter reagieren."

Ahmed hat versucht, seine Arbeit fortzusetzen, selbst als extremistische Gruppen wie Al-Qaida und der Islamische Staat begannen, im Land auszubreiten. Aber dann schlug die Katastrophe zu.

"Im Februar 2015, nach fast vier Jahren und nach vielen direkten Drohungen durch die extremistischen Gruppen wurde ich von Al-Qaida-Kämpfern verletzt, während ich einen ihrer Angriffe im sogenannten befreiten Gebiet dokumentierte (ein Sektor von Aleppo, der unter Kontrolle der regierungsfeindlichen Freien Syrischen Armee kam) und musste die schwierigsten Monate meines Lebens in Krankenhäusern verbringen, in der Hoffnung, mich zu erholen.

"Nach acht Monaten des Leidens konnte ich meine ersten Schritte in der Türkei gehen, wo ich zu dem Schluss kam, dass es für mich nicht mehr sicher war, zurückzugehen und meine Kamera wieder in die Hand zu nehmen, angesichts der Tatsache, dass wir (das syrische Volk) nicht mehr die Kontrolle hatten."

AP/Hassan Ammar
Große Teile Syriens sind in den zehn Jahren des Bürgerkriegs zerstört wordenAP/Hassan Ammar

Europa: neue Heimat?

Sowohl Razan als auch Ahmed haben sich seitdem ein erfolgreiches Leben in Europa aufgebaut. Beide stellen fest, dass sie den Kontinent nun ihr Zuhause nennen, auch wenn die Reise dorthin, wie sie anmerken, keine leichte gewesen ist.

"In Irland kannte ich niemanden und war auf mich allein gestellt", sagt Razan, die inzwischen die irische Staatsbürgerschaft angenommen hat und vor den Vereinten Nationen über die Migrationskrise gesprochen hat, sowie vom Irish Tatler zur "International Woman of the Year 2016" ernannt wurde.

Sie arbeitet zudem als Journalistin bei einer in Dublin ansässigen Nachrichtenagentur und verifiziert Social-Media-Inhalte aus Syrien und anderen Teilen des Nahen Ostens.

"Am Anfang war es schwer, sich zu integrieren und die Gesellschaft zu verstehen - und dass die Gesellschaft mich versteht! Es lag also an beiden Seiten. Aber ich fühle ehrlich, dass ich hierher gehöre. Ich gehöre zu Irland. Es ist mein Heimatland geworden [...] Dieses Land hat mir viele Möglichkeiten gegeben und ich habe sie genutzt. Die Gesellschaft hat mich gut aufgenommen."

"Ich habe es geschafft, meine Träume mit der neuen Situation, dem neuen Leben und dem neuen Land zu verändern."

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Für Ahmed begann die Arbeitssuche Ende 2015, nachdem er sich von den Verletzungen erholt hatte, die ihn dazu brachten, Syrien für immer zu verlassen. Er sagte: "Es war eine sehr schwierige Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und all die Träume, die wir zu verwirklichen hofften."

"Ich begann einen Teilzeitjob bei einer französischen Organisation, um ein kleines Projekt in Nordsyrien aus der Ferne zu leiten, das kreative und psychosoziale Aktivitäten mit Kindern in Lagern, Kindergärten und Schulen durchführte."

Ahmed arbeitet jetzt für die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Migrationsbehörde der Vereinten Nationen, wo er gefährdeten Flüchtlingen in der Türkei hilft. Dies macht er neben anderen Beratertätigkeiten bei internationalen, gemeinnützigen Organisationen.

"Ich möchte irgendwann wieder mit meiner Frau in Großbritannien zusammen sein", sagt Ahmed und fügt hinzu: "Europa ist mein Zuhause. Wo immer ich mich sicher fühle, nicht wegen meiner politischen Meinung bedroht werde, meine Grundrechte garantiert sind und meine zukünftigen Kinder nicht das durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe. Das wäre ein Zuhause für mich."

AP/Petros Giannakouris
Flüchtlinge, die eine waghalsige Route über das Mittelmeer in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangenAP/Petros Giannakouris

Eine Frau zählte ihre Kinder...und eins war weg

Die anhaltende Gewalt in Syrien lässt Razan keine Ruhe. Es stachelt sie an, sich als Freiwillige zu engagieren. Mehrmals ist sie nach Griechenland gereist, um Flüchtlingen zu helfen, die mit Booten ankommen, nachdem sie eine gefährliche - und oft tödliche - Reise über das Mittelmeer gemacht haben. Das mitzuerleben, sagte sie gegenüber Euronews, markierte einen Wendepunkt in ihrem Leben.

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"Ich bin jeden Tag um 2 oder 3 Uhr morgens aufgewacht und hinunter zum Ufer gegangen, um auf die Flüchtlinge zu warten, die an Land kommen. Wir warteten, um ihnen Essen und Decken geben."

"Aber das Schockierende ist, dass sie deprimiert und traurig ankommen. Sie haben so viel Tod mit eigenen Augen gesehen."

"Eines der traurigsten Dinge, die ich während meiner Freiwilligenarbeit auf Kos gesehen habe, war eine Frau, die ihre Kinder zählte, als sie ankam. Sie zählte ihr erstes, zweites und drittes Kind - aber ihr viertes war weg. Es gab nichts, was sie tun konnte."

"Eine andere Familie musste ihr Kind begraben, als es tot ans Ufer gespült wurde."

Einige der Menschen, die Razan an jener griechischen Strandpromenade traf, haben sich inzwischen bei ihr gemeldet, um ihr zu sagen, dass sie ihr Leben in anderen Ländern wie Deutschland, Schweden und der Schweiz begonnen haben - aber diese Geschichten, fügt sie hinzu, werden immer seltener.

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Der Grund dafür ist ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016, das Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, daran hindert, ihre Reise nach Europa fortzusetzen. Infolgedessen wurden Tausende in überfüllten Lagern mit schlechten Lebensbedingungen festgehalten, während sie auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge oder Abschiebung warten.

"Bei den Vereinten Nationen habe ich über diese Menschen gesprochen und darüber, wie wichtig es für sie ist, in Sicherheit und Würde zu reisen", sagte Razan.

"Auch wenn es jetzt eine Million Flüchtlinge in Deutschland und Schweden und anderen Ländern gibt, ist das Ausmaß der humanitären Krise immer noch riesig. Was derzeit in Flüchtlingslagern passiert, ist etwas, das man sich nicht vorstellen kann."

"Sie leben unter entsetzlichen Bedingungen. Und das auf europäischem Boden. Sie sitzen fest. Sie können nirgendwo hin. Ich kenne Leute, die schon seit vier Jahren dort festsitzen."

Mit Blick auf die Coronavirus-Pandemie, die weltweit 2,6 Millionen Menschen getötet hat, fügte Razan hinzu: "Eines der grundlegenden Sachen, um sich [vor einer Infektion] zu schützen, ist, sich die Hände zu waschen - aber es gibt kein Wasser und keine Seife in den Lagern. Das ist eine minimale Voraussetzung, um sich vor COVID-19 zu schützen, und selbst das können die Leute nicht tun."

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"Es wird eine weitere große Krise geben, wenn wir weitere Ausbrüche in den Flüchtlingslagern zulassen."

Ghaith Alsayed/AP
Tausende sitzen in Flüchtlingslagern fest, seit 2016 eine Abschottungspolitik in Kraft getreten istGhaith Alsayed/AP

Was können wir aus dem letzten Jahrzehnt des Konflikts lernen?

"Die Welt sollte über das Versagen der internationalen Gemeinschaft Bescheid wissen", sagte Razan. "Der UN-Sicherheitsrat - er ist ein Beispiel dafür, wie die Gemeinschaft versagt hat, den Krieg zu beenden und zu retten, was von Syrien noch übrig ist."

"Es ist eine Schande für die internationale Gemeinschaft, Menschen getötet zu lassen, Kinder und Frauen getötet und vergewaltigt. Ein Land mit einer bedeutenden Zivilisation und einer langen Geschichte zu verlassen, so zurückzulassen: zerrüttet, zerstört.

Das Leid ist immer noch da. Die Flüchtlinge sind immer noch da. Die Demütigung. All das ist immer noch da. Sie haben ein Auge zugedrückt vor all der Verwüstung in Syrien."

Auf die Frage, ob sie sich jemals vorstellen könnte, in ihr Heimatland zurückzukehren, sagt Razan: "Ich sehe mich nach Hause gehen, wenn es dort Frieden gibt und das ist das Wichtigste. Ich sehe mich definitiv nur nach Hause gehen, um zu helfen. Nur um Projekte zu schaffen, die Frauen und Kindern helfen. Sie sind die wahren Opfer des Krieges."

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Ahmed hat ähnliche Gedanken. Er will erst zurückkehren, wenn er eine für ihn akzeptable Gerechtigkeit verspürt. "Nicht auf kurze Sicht. Vielleicht auf sehr lange Sicht", sagt er und weiter: "Ja, wenn die Welt entscheidet, dass das derzeitige syrische Regime geändert werden sollte und die Verbrecher, die die schrecklichsten Straftaten in diesem Jahrhundert begangen haben, zur Rechenschaft gezogen und für ihre Taten belangt werden."

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