Michel Barnier: "Eine Scheidung ist immer negativ"

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Von Christophe GarachSabine Sans
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Der EU-Chefunterhändler für den Brexit ist zu Gast bei The Global Conversation.

Michel Barnier ist zu Gast bei The Global Conversation: Ein "Savoyarde", ein ehemaliger französischer Minister, ein ehemaliger EU-Kommissar und vor allem der Brexit-Chefunterhändler mit Großbritannien. Ein Mann, der mit seinem Team ein historisches Abkommen ausgehandelt hat, das Scheidungsabkommen mit Großbritannien. Das Gespräch wurde am 1. Juli in Lyon geführt.

Tagebuch zum Brexit

Euronews-Reporter Christophe Garach:

Sie haben ein Tagebuch geschrieben, um die Geschichte jener 1600 Tage des Feilschens und der schmutzigen Tricks zu erzählen, in denen Sie mit Ihren britischen Kollegen um eine Einigung gerungen haben. Mit welchem Wort würden sie gut sechs Monate nach dem Ende der Verhandlungen all diese Jahre, die Entmutigung, die Erleichterung, die Sorge, die Verärgerung beschreiben?

Michel Barnier:

Welches Wort charakterisiert nach sechs Monaten die Verhandlung? Ich würde sagen: Hartnäckigkeit und Respekt. Und: Wachsamkeit, denn diese Vereinbarung lohnt sich, wenn sie umgesetzt, wenn sie respektiert wird. Im zweiten Abkommen, das wir für die zukünftigen Beziehungen geschlossen haben, haben beide Seiten Bedenken bezüglich der Fischerei. Und dann der Punkt Irland, wo die Briten versuchen, sich zu distanzieren.

Euronews:

Darüber sprechen wir noch.

Keine schmeichelhaften Porträts

Euronews:

Sie beschreiben eine Reihe von manchmal nicht sehr schmeichelhaften Porträts von Ihren Gesprächspartnern, man spürt, dass sie genervt waren von ihren Lügen, ihren Tiefschlägen, ihrer Art, den wirklichen Fragen auszuweichen. Unter all diesen Porträts, all diesen Persönlichkeiten, die Sie getroffen haben, welche sind die, die sie am schlechtesten in Erinnerung haben?

Michel Barnier:

Lieber spreche ich davon, dass ich zum Beispiel Respekt vor Olly Robbins habe. Er war der europäische Berater von Frau May. Ich habe großen Respekt vor Theresa May selbst, die mutig und hartnäckig war. Und dann höre ich lieber auf, über Leute zu sprechen. Vielleicht haben Sie ja Gelegenheit, das Buch zu lesen.

Euronews:

Bei der Lektüre Ihres Buches mit dem Titel "Die große Illusion - Geheimes Tagebuch des Brexits" gewinnt man tatsächlich den Eindruck, dass nichts zu Ende ist. Dass die Brexit-Bedingungen gerade anfangen sich auszuwirken. Dass man noch abwarten muss. Man weiß, dass es in den vergangenen Wochen bereits Reibungen gab. Wir sprachen über den Wurstkrieg zwischen der Europäischen Union, die Grenzfrage zwischen Nordirland und Irland, über den Hummerkrieg in Jersey mit den französischen Fischern, ist das erst der Anfang?

Michel Barnier:

Es ist der Anfang einer neuen Beziehung mit einem Land, das gegangen ist, das aus der EU austreten wollte. Nicht wir sind es, die gehen, sondern sie haben die Europäische Union und den Binnenmarkt verlassen, und das hatte viele Konsequenzen, die auf britischer Seite nicht gut abgeschätzt oder zumindest nicht gut erklärt worden sind. Ich bin zuversichtlich, dass dieses großartige Land seine Unterschrift respektieren wird, auch wenn es Absichten gibt, die ich nur schwer nachvollziehen kann. Denn wenn man die Dinge ins rechte Licht rückt, ist das Wichtigste für die Briten, eine gute Beziehung zur EU zu entwickeln, einem großen Nachbarn, einem Markt mit 450 Millionen Verbrauchern. Wenn sie ihre Unterschrift infrage stellen würden, wäre das sehr schlecht für das Vertrauen, das wir brauchen.

Fischer: die großen Brexit-Verlierer?

Euronews:

Sie haben die Fischer erwähnt. Ich habe beim Lesen Ihres Buchs neben vielem anderem den Eindruck gewonnen, dass die europäischen Fischer beim Brexit einen hohen Preis bezahlt haben, stimmt das?

Michel Barnier:

Wenn man mit den Fischern in Schottland oder Cornwall spricht, werden sie sagen, dass das ein sehr schlechter Deal für sie ist. Ich denke, es ist eine ausgewogene Vereinbarung. Es konnte kein gutes Abkommen für uns sein, denn sie hätten alles zurückbekommen können. Wenn es kein Handelsabkommen gegeben hätte, wenn wir in diesen Verhandlungen gescheitert wären, hätten die Briten alle ihre Gewässer zurückbekommen und uns ausschließen können. Also haben wir das vermieden. Es ist eine anständige nicht ideale Vereinbarung, die wir jetzt wachsam umsetzen müssen.

Das Nordirland-Protokoll

Euronews:

Der andere große Diskussionspunkt war der Grenzstreit zwischen Nordirland und Irland. Noch einmal: Ist dieses Abkommen langfristig tragfähig, das von Ihrem Team mit London besiegelt wurde, im Wissen, dass dort immer Gewalt in der Luft liegt. Wie man weiß, hat es in den vergangenen Wochen und Monaten Tragödien in Nordirland gegeben, ein Journalist kam bei einer Explosion ums Leben. Ist das Nordirland-Protokoll auf Dauer tragfähig?

Michel Barnier:

Zuallererst möchte ich Sie daran erinnern, dass die Grenze, über die wir sprechen, eine Grenze zwischen Großbritannien, zu dem Nordirland gehört, und nicht nur mit Irland, sondern auch mit der Europäischen Union ist. Das ist das Problem. Auf dieser Insel gibt es zwei Länder mit einer schwierigen Geschichte, vielen Tragödien und, in jüngerer Zeit, in Nordirland, diesem Konflikt zwischen mehreren Gemeinschaften, der, daran möchte ich Sie erinnern, zu 4000 Toten und diesem brüchigen Frieden geführt hat. Das Nordirland-Protokoll, das wir unterschrieben haben, das wir Wort für Wort mit Boris Johnson selbst ausgehandelt haben - Boris Johnson, es war nicht Frau May, es war Boris Johnson, der dieses Abkommen unterschrieben hat, der sein Parlament gebeten hat, es zu genehmigen, das vom britischen Parlament ratifiziert wurde -, dieses Abkommen war das einzig mögliche. Es ist komplex, es ist heikel, aber es muss umgesetzt werden. Es besteht darin, die sogenannte "all island-economy" zu bewahren, die Zusammenarbeit zwischen den beiden Gemeinschaften zu bewahren, keine harte Grenze auf der Insel einzurichten, weil das unmöglich war, abgesehen von der Gefahr weiterer Unruhen und, für uns Europäer, der Kontrolle der Produkte, die auf unseren Binnenmarkt gelangen. Eine Kuh, die England mit dem Schiff verlässt und in Belfast in Nordirland im gleichen Land, nämlich in Großbritannien, ankommt, diese Kuh kommt nach Frankreich, Deutschland, Finnland, sie kommt in den Binnenmarkt, also müssen wir sie in puncto Lebensmittelsicherheit und Gesundheitssicherheit kontrollieren. Und wir sind es den irischen und den europäischen Verbrauchern und Bürgern schuldig, dass - was wir verlangen, was von Boris Johnson selbst vereinbart wurde -, das eingehalten wird, was er unterschrieben hat, nicht mehr und nicht weniger. Dass diese Kuh und alle Produkte von den britischen Behörden mit unserer Kooperation bei der Einreise auf die Insel in Belfast, am Hafen oder am Flughafen kontrolliert werden, unter Einhaltung der europäischen Regeln, der Zoll- oder der Gesundheitsregeln.

Risiken des Brexits

Euronews:

Abgesehen von der Grenzfrage in Irland erwähnen Sie am Ende Ihres Buches alle Risiken, die mit diesem historischen Abkommen verbunden sind. Das neue Handelsabkommen mit Großbritannien, die Risiken des Sozial-, Steuer- und Wirtschaftsdumpings.

Michel Barnier:

Ja, wir müssen wachsam sein, wie ich schon sagte. Wir wussten, dass die Briten, die den Binnenmarkt, die Europäische Union verlassen, ihre regulatorische Autonomie zurückgewinnen wollten und wollen. Was machen sie damit? Gehen Sie richtig damit um, indem sie die Dinge kontrollieren, oder benutzen sie sie als ein Dumping-Werkzeug gegen uns? Sozial-, Steuer- und Umweltdumping, das wir nicht akzeptieren werden, weil dieses Land ein großer Nachbar ist und mit Irland die Europäische Union berührt, dasjenige ist, mit dem wir im Vergleich zu Kanada, den USA und Japan den meisten Handel in der Welt treiben. Wir treiben den meisten Handel mit Großbritannien, weil wir im gleichen Markt waren. Ich erinnere Sie daran, dass die Briten 47% ihrer Produkte zu uns exportieren und wir 8% unserer europäischen Produkte nach Großbritannien exportieren.

Wachsamkeit und Fairplay

Euronews:

Es liegt also in ihrem Interesse.
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Michel Barnier:**

Es ist auch in ihrem Interesse, sich gut zu verhalten. Genauso wie wir uns gut verhalten müssen, indem wir Dumping und unfairen Wettbewerb vermeiden, was wir die Suche nach einem "level playing field", einem fairen Spiel, nennen.

Euronews:

Es gibt also Schutzmechanismen, für die Sie hart gekämpft haben, die da sind und die den Herausforderungen standhalten sollten?

Michel Barnier:

Ich hoffe, wir müssen sie nicht benutzen. Sie erlauben uns, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen, Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen, die Zölle auf diesen oder jenen Sektor wieder einzuführen, das zu tun, was auf Englisch "Cross Suspension" heißt, d. h. diesen oder jenen Teil des Abkommens auszusetzen, oder, wenn nötig, schlimmer noch, das Abkommen selbst auszusetzen. Beide Seiten sollten aufpassen, denn - und das war auch eines meiner Anliegen in den vergangenen vier Jahren - wir sollten diese Scheidungsvereinbarung perspektivisch sehen. Die Perspektive ist, dass wir uns jetzt, da sowohl Großbritannien als auch die Europäische Union völlig unabhängig geworden sind, gemeinsamen Herausforderungen stellen müssen und werden. Und ich kann sie benennen. Es wird weitere Pandemien geben, wir werden zusammenarbeiten müssen, wie wir es heute sehen. Ob es sich um Seuchen unter Menschen oder Tieren handelt, es wird leider weitere Pandemien geben. Es wird Turbulenzen auf den Finanzmärkten geben, die uns genauso treffen werden, wie die Krise 2008-2009 alle hart getroffen hat. Es wird weitere Attentate geben, es wird Migrationsströme geben, die wir kontrollieren müssen, insbesondere solche, die mit der Armut in Afrika zusammenhängen. Es wird um den Klimawandel gehen. Wir werden also zusammenarbeiten müssen, und ich hoffe wirklich - und ich habe diese Vereinbarung in diesem Sinne im Namen der Europäischen Union getroffen -, dass wir bei dieser Scheidung die Perspektive unserer Zusammenarbeit im Auge behalten.

Erfolgreiche Verhandlungen

Euronews:

Am Ende Ihres Brexit-Tagebuchs dachte ich, Sie hätten ihm den Titel "das Praxis-Handbuch zum Verlassen der EU" geben können. Es war sehr kompliziert, sehr schmerzhaft, aber nach 1600 Tagen verließ Großbritannien die Europäische Union. Glauben Sie, dass das ein ausreichender Impfstoff für die 27 ist, die an Bord des europäischen Schiffes geblieben sind, oder befürchten Sie, dass andere Länder eines Tages die Europäische Union verlassen wollen?

Michel Barnier:

_Man spricht von einer erfolgreichen Verhandlung. Ich weiß nicht, ob wir von Erfolg sprechen können, wenn wir über eine Scheidung sprechen, denn eine Scheidung ist immer negativ. Auf jeden Fall wollten wir die Folgen begrenzen und das ist uns gelungen. Wir wollten dieses Abkommen. Genauso wie die Briten. Wir haben also den Brexit "geliefert", auch wenn wir ihn bedauerten. Und dabei haben wir den Willen einer Mehrheit der britischen Bürger respektiert, die am 23. Juni 2016 dafür gestimmt haben. Ich denke, dass wir in dieser Verhandlung, die dank Jean-Claude Juncker sehr lang und sehr transparent war - und er hat mich ermächtigt, totale Transparenz zu praktizieren - alles über die Verhandlung erzählt haben. Sie sehen es im Buch, zu allen, zu allen Themen und zur gleichen Zeit, und das haben wir vier Jahre lang gemacht. Das hat Vertrauen geschaffen und ist der Schlüssel zur Einheit der 27 Mitgliedstaaten.
_

Zumindest konnte jeder sich ein Bild machen, die Gewerkschaften, die ich traf, die Unternehmer, die nationalen Parlamente in jedem Land, in dem ich zwei- oder dreimal zu öffentlichen Anhörungen ging. Jeder konnte auf lehrreiche Art und Weise sehen, was ein Austritt aus der Europäischen Union bedeutet. Ich denke, das erklärt zum Teil, warum Frau Le Pen in Frankreich oder Herr Geert Wilders oder Herr Salvini, der jetzt Mario Draghi in Italien unterstützt, nicht mehr von einem Austritt aus der Europäischen Union sprechen.

Aber ich würde vorsichtig sein. Ich denke, wir müssen vorsichtig sein, denn es gibt immer den gleichen Nationalismus, die gleiche Absicht, die Europäische Union zu zerschlagen. Herr Farage hat mir gesagt, dass er die Europäische Union zur Explosion bringen will. Wir sind nicht verpflichtet, es Herrn Farage recht zu machen, aber es gibt auch ein Volksempfinden, das geäußert wurde und das in gleicher Weise in vielen unserer europäischen Ländern, in vielen Regionen existiert. Ein Gefühl der Ausgrenzung, keine Zukunft zu haben, keine Arbeitsplätze, unzureichende öffentliche Dienstleistungen, schlecht kontrollierte Einwanderung. All diese Gefühle sind kein Populismus. Es ist ein Volksempfinden, das tief geht. In Frankreich haben wir das bei den jüngsten Wahlen wieder gesehen, wie in vielen anderen Ländern auch. Wir müssen darauf reagieren, wir müssen in Brüssel ändern, was geändert werden muss: weniger Bürokratie, mehr Gegenseitigkeit in unserem Handelsaustausch, weniger Naivität. Ein Wille, wie er seit zwei oder drei Jahren geäußert wird, gemeinsam zu investieren, indem man gemeinsam Kredite aufnimmt, eine digitale europäische Industriepolitik aufzubauen. Und dann gibt es Antworten in jeder Hauptstadt und auch in jeder Region.

Konferenz über die Zukunft Europas

Euronews:

Sie sprechen von der Zukunft, es gibt eine Konferenz über die Zukunft Europas, eine große Bürgerbefragung. Glauben Sie wirklich, dass auf Bürger zu hören zu wichtigen Veränderungen führen kann?

Michel Barnier:

Es ist immer wichtig, den Bürgern zuzuhören, zu sehen, wie sie sich in Großbritannien ausgedrückt haben, wie sie sich auch in unseren Ländern ausdrücken könnten. Bleiben wir also vorsichtig, und ich denke, das ist eine wichtige Gelegenheit, mehr Demokratie in die europäische Debatte zu bringen.

Euronews:

Solange es einem Zweck dient.

Michel Barnier:

Ja, solange es einem Zweck dient. Es gibt zum Beispiel eine Idee - die diese Konferenz aufgreifen könnte, die ich gerne in Frankreich umgesetzt sehen würde, aber vielleicht ist es besser, das auf europäischer Ebene zu tun -, eine Bewertung, ein sogenanntes "Screening" aller europäischen Politiken und Kompetenzen von Anfang an vorzunehmen, um zu sehen, ob sie noch den gleichen Mehrwert haben. Um zu sehen, ob es in manchen Bereichen noch sinnvoll oder notwendig ist, zusammen zu sein. Oder können wir den Mitgliedsstaaten in bestimmten Bereichen wieder vertrauen? Bestimmt in einigen Berechen. In diesen Fällen müssen wir erklären, warum es notwendig ist, zusammen zu sein.

Euronews:Zum Beispiel?

Michel Barnier:

Zum Beispiel Handel, Wettbewerb, Landwirtschaft, Digitales, das sind Themen, wo wir zusammen handeln müssen. Und dann gibt es vielleicht Bereiche wie die Gesundheit, wo wir zusammen sein sollten, wenn wir es bisher nicht waren. Das hätte also auch einen erzieherischen und demokratischen Wert. Müssen wir danach weitere institutionelle Änderungen vornehmen? Wir haben viele gemacht. Wir haben in den vergangenen fünfzehn Jahren viel ausprobiert. Was ich für wichtig halte, ist, dass wir nicht über die Mechanik des Motors sprechen, sondern über den Weg, auf dem wir uns befinden, warum wir auf dieser Linie sind.

Euronews:Und die Projekte?

Michel Barnier:

Und die Projekte. Mit dem Grünen Deal; mit dieser grundlegenden Antwort auf den Klimawandel, der alles für uns verändern wird, in unseren Gewohnheiten des Anbaus, des Transports, des Bauens, des Austauschs; im digitalen und industriellen Ehrgeiz, den wir wiederentdecken müssen; im Binnenmarkt, in dessen Zentrum wir den Menschen wieder ins Spiel bringen müssen, ihm eine menschlichere Dimension geben müssen. Es gibt viele Herausforderungen. Wir müssen uns die Weltkarte ansehen, wie sie ist, und diese Welt mit offenen Augen betrachten. In dieser Welt gibt es Mächte, Kontinentalstaaten, die vielleicht noch auf uns schauen, aber nicht mehr mit uns rechnen. Da sind die USA, mit denen wir verbündet sind - aber Allianz bedeutet nicht Gefolgschaft -, China, Indien, Brasilien und Russland. Wie sitzen wir mit ihnen am Tisch? Sitzen wir am Tisch? Das ist die Frage. Es gibt heute in der Welt, so wie sie ist, Bereiche - und wir müssen die Wahrheit sagen -, wo wir Europäer zusammenstehen müssen. Andernfalls werden wir zu Subunternehmern und stehen unter dem Einfluss von China und den USA.

Die Frage der Rechtsstaatlichkeit

Euronews:

Verzeihen Sie mir, wenn ich mit Blick auf die EU auf den Boden der Tatsachen zurückkomme: Ein ungarisches Gesetz beherrscht die Nachrichten, ein Gesetz, das viele als homophob betrachten, ein Gesetz, das beim letzten Europäischen Rat einen Aufruhr verursachte, und zwar so sehr, dass der niederländische Ministerpräsident über Ungarn sagte, ich zitiere: "Mit diesem Gesetz haben die Ungarn in der Europäischen Union nichts zu suchen". Ungarn steht da nicht allein, es gibt Polen, es gibt Slowenien. Auch der Präsident des Rates der Union, der für sechs Monate an der Spitze der rotierenden Präsidentschaft der Union steht, Herr Jansa, ist nicht vor Kritik gefeit... Seit zehn Jahren werden die europäischen Werte angegriffen, systematisch in Frage gestellt, und ich habe den Eindruck, dass Europa zuschaut.

Michel Barnier:

_Ich glaube nicht, dass Europa untätig bleibt; Sie haben selbst die Debatte erwähnt, die beim Europäischen Rat stattgefunden hat. Es gibt auch Verfahren, die von der Kommission eingeleitet wurden oder werden können, um sicherzustellen, dass jeder die Verträge respektiert. Gleichzeitig muss man sich fragen, was in diesen Ländern passieren würde, wenn sie nicht Teil des europäischen Ganzen wären, mit einem Rechtskorpus, einer Spielregel, einem Regelwerk, dann wäre die Situation viel ernster. Ich plädiere für die Anwendung dieser Verfahren, für die Ausübung von Druck, dass man diese Staatschefs zu überzeugen sucht, dass alle sich benehmen müssen. Es ist besser, den Dialog fortzusetzen, sie zu zwingen, sie zu überzeugen, als sie außen vorzulassen. _

Euronews:

Zum gleichen Thema schreiben Sie in Ihrem Buch: Es ist spät, zum anfänglichen Geist der Gründungsväter der EU zurückzugehen, aber es ist nicht zu spät. Was meinen Sie damit?

Michel Barnier:

Was ich meine, ist, dass es nur fatal werden kann, wenn es Fatalismus gibt. Und ein Politiker oder ein Bürger, oder zumindest der Mann, der ich bin, kann nicht fatalistisch sein, dazu haben wir nicht das Recht. Es gibt Bedenken. Es gibt Warnungen und Elektroschocks wie den Brexit. Es gibt externe und interne Bedrohungen für das europäische Projekt, aber auch gute Nachrichten. Es gibt die Fähigkeit, die wir bewiesen haben, - auf die Covid 19-Krise zu reagieren, gemeinsam Kredite aufzunehmen, um gemeinsam zu investieren ... es gibt Einigkeit.

Euronews:Mit einigen Pannen.

Michel Barnier:

Ja, nicht alles ist einfach. Aber unseren Zuhörern möchte ich sagen, dass die Europäische Union keine Föderation ist. Es handelt sich nicht um einen einzelnen Staat. Es gibt kein europäisches Volk, es gibt keine europäische Nation. Wir sind 27 Nationen, jede mit ihren Eigenheiten, ihrer eigenen nationalen Identitäten. Wir halten an ihnen fest und doch arbeiten wir zusammen, teilen zum Teil unsere Schicksale und unsere Politik. Das kann nicht einfach sein. Der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass Europa geeint ist, ohne einheitlich zu sein, ist, dass wir eine gewisse Komplexität des europäischen Systems akzeptieren. Das muss man den Zuhörern erklären.

Euronews:

Das ist kompliziert, das versuchen wir Tag für Tag bei Euronews. Letzte Frage: Sie beenden das Buch mit sehr französischen Akzenten. Sie präsentieren ein politisches Projekt. Meine Frage ist einfach, sie wurde schon mehrmals gestellt: Wären Sie daran interessiert, an den Vorwahlen Ihrer Partei, den Republikanern, teilzunehmen, im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl in neun Monaten?

Michel Barnier:

Die Schlussfolgerung dieses Buches ist nicht nur französisch gefärbt. Sie ist die eines Politikers, der stolz ist, patriotisch und europäisch zu sein. Nur zur Information aller, die uns zuhören: Das Buch erscheint am 1. Oktober auf Englisch, am 15. September auf Spanisch und wird auch auf Griechisch und Rumänisch veröffentlicht. Ich freue mich, dass dieses Zeugnis und diese Geschichte in allen oder einem Teil der europäischen Sprachen gelesen werden kann. Ja, ich werde an der Präsidentschaftsdebatte teilnehmen. Ich bin ein Politiker. Ich habe die Energie, die Ideen, den Ehrgeiz und die Fähigkeit, mich einzubringen. Ich kann Ihnen noch nicht sagen, wo und wie. Denn ich muss nachweisen, dass ich in meiner politischen Familie diese Nützlichkeit habe. Dies ist eine ernsthafte Antwort auf eine sehr ernsthafte Frage, die Sie stellen. Für mich ist die Zeit noch nicht gekommen, die Antwort zu geben, aber ich bereite mich vor, ich bereite mich ernsthaft vor, weil es notwendig ist, bei einer Wahl wie dieser ernsthaft zu sein, und ich bin bereit.

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