Jens Stoltenberg: "Die Einigkeit der NATO hilft, den Krieg zu beenden"

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Von Méabh Mc MahonSabine Sans
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Euronews hat den NATO-Generalsekretär am Rande des NATO-Gipfels in Brüssel zur Rolle der Militärallianz im Ukraine-Krieg interviewt.

Jens Stoltenberg soll in turbulenten Zeiten für Stabilität sorgen. Der NATO-Generalsekretär gilt als geschickter Vermittler zwischen den teils sehr unterschiedlichen Interessen der 30 Nato-Staaten. Euronews hat den Generalsekretär am Rande des Nato-Gipfels in Brüssel zur Rolle der Militärallianz im Ukraine-Krieg interviewt.

Euronews-Reporterin Meabh McMahon: Diese Woche hat die NATO ihre Einigkeit demonstriert. Wird das helfen, den Krieg in der Ukraine zu stoppen?

Jens Stoltenberg, NATO-Generalssekretär: Ja, das wird helfen. Es hilft schon jetzt, denn die Ukraine bekommt Unterstützung. Ich glaube, Präsident Putin hat die Einigkeit und die Stärke der NATO , der Europäischen Union und von uns allen, die wir an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine auf internationalen Regeln basierende Ordnung glauben, wirklich unterschätzt. Denn wir stehen zusammen, wenn es darum geht, beispiellose Sanktionen gegen Russland zu verhängen, aber auch, wenn es darum geht, die Ukraine zu unterstützen, damit sie sich gegen die eindringenden russischen Truppen wehren kann.

Russische Kriegsverbrechen?

Euronews: Ist Präsident Putin ein Kriegsverbrecher?

Jens Stoltenberg: Zivilisten wurden angegriffen, zivile Infrastrukturen, Schulen, Krankenhäuser. Jeder vorsätzliche Angriff auf zivile Infrastrukturen, Zivilisten, ist ein Kriegsverbrechen. Daher halte ich es für äußerst wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung eingeleitet hat. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das zeigt und unterstreicht, wie wichtig es ist, dass dieser Krieg beendet wird. Dieser Krieg muss morgen beendet werden. Er muss seine Truppen abziehen und auf die diplomatischen Bemühungen vertrauen.

Euronews: Diese Woche ging es darum, Unterstützung zu zeigen. Der ukrainische Präsident Selenskyj nahm virtuell an dem Treffen teil. Er sagte, er wolle ein Prozent der NATO-Waffen. Ist das machbar?

Jens Stoltenberg: Machbar ist, dass die NATO-Verbündeten so viel wie möglich tun, um die Ukraine zu unterstützen: finanzielle, humanitäre Unterstützung, aber auch militärische Unterstützung. Und wir versorgen die Ukraine mit modernen Panzerabwehrwaffen und Luftabwehrsystemen. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die NATO-Verbündeten die ukrainische Armee viele Jahre lang ausgebildet haben, Zehntausende Soldaten, die jetzt an der Front sind. Die ukrainische Armee ist heute also viel besser ausgerüstet, viel besser ausgebildet und viel stärker als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte. Es ist in erster Linie der Mut der ukrainischen Streitkräfte, der den Unterschied auf dem Schlachtfeld ausmacht. Aber auch die Unterstützung durch die NATO-Verbündeten ist ein entscheidender Faktor, der sie in die Lage versetzt, den eindringenden russischen Streitkräften Widerstand zu leisten. Und wir sehen die Wirkung der Waffen und der Unterstützung, die wir bereitgestellt haben.

Einsatz von chemischen Waffen: Wie groß ist die Gefahr?

Euronews: In dieser Woche hat die NATO angekündigt, dass sie die gemeinsame Task Force für chemische, biologische, radiologische und nukleare Verteidigung aktivieren (CBRN task force) wird. Wie ernst muss man das nehmen? Wie besorgt sollten wir sein?

Jens Stoltenberg: Wir sind besorgt. Aber gleichzeitig senden wir Russland die Botschaft, dass jeder Einsatz von chemischen, biologischen oder nuklearen Waffen den Charakter des Konflikts grundlegend verändern würde. Das wäre ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht und würde weitreichende Folgen haben. Es handelt sich also um eine sehr ernste Angelegenheit. Und das ist auch ein weiterer Grund, warum dieser Krieg beendet werden muss. Denn das ist ein gefährlicher Krieg. Das ist die schwerste Sicherheitskrise, die wir seit Jahrzehnten erleben. Deshalb verhängen wir Sanktionen gegen Russland. Wir unterstützen die Ukraine. Aber wir erhöhen auch die Bereitschaft und die Präsenz der NATO-Truppen im östlichen Teil des Bündnisses.

Euronews: Und wäre diese CBRN-Einsatztruppe in der Lage, die Ukraine und natürlich auch die NATO-Verbündeten vor einem möglichen chemischen Angriff zu schützen?

Jens Stoltenberg: Unsere militärischen Befehlshaber haben Maßnahmen ergriffen, um die NATO-Streitkräfte zu schützen, und wir haben mehr NATO-Streitkräfte im östlichen Teil des Bündnisses. Wir haben auch Kapazitäten, um den zivilen Behörden beim Umgang mit chemischen oder biologischen Waffen und deren Auswirkungen zu helfen. Außerdem unterstützen wir die Ukraine mit Schutzausrüstung und anderen Mitteln zum Schutz vor chemischen oder biologischen Waffen.

Sicherheit gibt es nicht umsonst

Euronews: All das kostet natürlich Geld. NATO-Mitglieder öffnen jetzt die Geldbeutel. Sie legen Geld auf den Tisch, wie die Belgier, die angekündigt haben, dass sie eine Milliarde Euro für Verteidigungsausgaben bereitstellen werden. Wie viel wird das alles die Steuerzahler kosten? Wie es scheint, könnte dieser Krieg noch eine Weile dauern.

Jens Stoltenberg: Unsere Sicherheit gibt es nicht umsonst. Wir haben in den vergangenen Jahren beobachtet, dass die Spannungen immer weiter zunehmen, besonders seit 2014. Russland geht seither mit immer mehr Gewalt gegen die Ukraine vor, zuerst mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, dann mit der Destabilisierung der Ostukraine, des Donbas, und jetzt mit einer regelrechten Invasion in der Ukraine. Russland droht und hat auch der NATO gedroht: Man hat die NATO aufgefordert, ihre gesamte Infrastruktur und alle Streitkräfte aus dem östlichen Teil des Bündnisses abzuziehen. Wir müssen also mehr in unsere Sicherheit investieren. Die gute Nachricht ist, dass die NATO-Verbündeten genau das tun. Wir haben im April 2014 beschlossen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Seitdem haben alle NATO-Verbündeten ihre Ausgaben erhöht. Wir haben insgesamt 270 Milliarden Dollar zusätzlich für die Verteidigung ausgegeben, und das hat uns stärker gemacht. Wir haben mehr Kapazitäten und eine größere Einsatzbereitschaft. Das ist auch ein Grund, warum wir in der Lage waren, deutlich mehr Truppen im östlichen Teil des Bündnisses und mehr Schiffe und Flugzeuge in der Luft zu stationieren, um sicherzustellen, dass es in Moskau keinen Raum für Missverständnisse gibt, wenn es um die Bereitschaft der NATO geht, alle NATO-Verbündeten auf der Grundlage des Kernprinzips der NATO zu schützen: einer für alle, alle für einen. Ein Angriff auf einen Verbündeten würde eine Reaktion des gesamten Bündnisses auslösen. Damit provozieren wir keinen Konflikt, sondern wir verhindern einen Konflikt.

Euronews: Eine kurze Frage zum Schluss: Präsident Biden hat vorgeschlagen, dass Sie noch ein weiteres Jahr in Ihrem Amt bleiben, obwohl Sie eigentlich Chef der Zentralbank von Norwegen werden sollten. Sind Sie bereit für ein weiteres Jahr in diesem Amt?

Jens Stoltenberg: Ich fühle mich sehr geehrt, dass man mich gebeten hat, als NATO-Generalsekretär weiterzumachen, vor allem jetzt inmitten einer äußerst ernsten Sicherheitskrise, und dafür zu sorgen, dass wir weiterhin zusammenstehen. Die Einigkeit, die auf dem NATO-Gipfel in dieser Woche demonstriert wurde, spornt mich dazu an, mich weiterhin voll und ganz auf meine Aufgabe als Generalsekretär der NATO zu konzentrieren.

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