Grabar-Kitarović: "Wir dürfen nicht zulassen, dass Tyrannen die Welt regieren"

Grabar-Kitarović: "Wir dürfen nicht zulassen, dass Tyrannen die Welt regieren"
Copyright euronews
Von Méabh Mc Mahon
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Die Vorstellung einer friedlichen Ukraine, in die Millionen ukrainischer Familien zurückkehren können, scheint in weiter Ferne. Wann wird dies Realität sein? Antworten von Politiker:innen aus und Kennern der Region - in The Global Conversation.

In dieser Folge von The Global Conversation geht es um den Krieg in der Ukraine mit Politiker:innen aus und Kennern der Region. Die Interviewsendung fand dieses Mal auf den "Estoril Conferences" der Nova School of Business & Economics statt.  

Gäste:  

  •  Julia Timoschenko, frühere zweimalige Ministerpräsidentin der Ukaraine und eines der Gesichter der orangenen Revolution
  • Hryhoriy Nemyria, Erster stellv. Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des ukrainischen Parlaments
  • Kolinda Grabar-Kitarović, ehemalige Präsidentin von Kroation 
  • Aleksander Kwaśniewski, ehemaliger Präsidenten von Polens

**Euronews:**Die Vorstellung einer friedlichen Ukraine, in die Millionen ukrainischer Familien zurückkehren können, scheint noch in weiter Ferne. Wann wird dies Ihrer Meinung nach Realität sein?

Julia Timoschenko, frühere zweimalige Ministerpräsidentin der Ukaraine:

Die schwierigste Frage ist: Wann wird der Krieg enden und wo ist der Weg zum Frieden? Heute geht die Welt davon aus, dass es zwei Wege zum Frieden gibt. Der eine Weg ist der Weg des Sieges auf dem Schlachtfeld. Der zweite Weg besteht darin, den Kreml und Putin zu beschwichtigen und sich auf ein Abkommen zu einigen. In vielen europäischen Ländern gibt es erste kleine Andeutungen, dass sie wegen der hohen Inflation durch den Krieg, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten sagen: Lasst uns diesen Krieg mit einem Friedensvertrag beenden. 

Aber jetzt möchte ich ganz klar sagen: Es gibt leider nicht zwei Wege. Es gibt nur einen, und das ist ein Sieg auf dem Schlachtfeld. Und ich erkläre Ihnen auch warum: weil der vom Aggressor gegen die Ukraine angebotene Friedensvertrag aus vier Hauptpunkten besteht.

Wir müssen ihnen die Gebiete überlassen, die sie erobert haben, und diese Tatsache akzeptieren: ihnen Zugeständnisse machen und ihnen dafür danken, dass sie uns einen Teil unseres Territoriums weggenommen haben. Bedenken Sie, dass das, was heute in der Ukraine vorübergehend besetzt ist, der Fläche Portugals entspricht. Deshalb ist es für die Ukraine und für die gesamte freie Welt nicht hinnehmbar, dass man ihr durch einen Krieg Gebiete wegnimmt.

Ihre zweite Forderung ist, dass die Ukraine niemals Mitglied der NATO werden und für immer schutzlos bleiben soll. Die dritte Forderung lautet, die ukrainische Armee so weit zu verkleinern, dass sie nicht in der Lage ist, die Ukraine zu verteidigen. Dies ist im Grunde eine einseitige Entwaffnung. Es kommt einer Kapitulation der Ukraine gleich und darauf besteht der Kreml.

Und die vierte Forderung ist humanitärer Natur. Wir müssen unsere Sprache zugunsten des Russischen aufgeben, wir müssen unsere Geschichte und Kultur aufgeben und den Weg der Russifizierung gehen. Der Kreml wird diese Bedingungen nicht aufgeben, und deshalb ist dies kein Friedensabkommen. Es handelt sich vielmehr um eine Kapitulation, die sie mit ukrainischer Beteiligung festschreiben wollen.

Niemand in der Ukraine, vom Präsidenten bis zum einfachen Kind, wird jemals diesen Bedingungen zustimmen. Das ist unmöglich. Dies ist kein Weg zum Frieden, sondern ein Weg zur Fortsetzung des Krieges. Und deshalb werden wir zusammen mit 50 Ländern, die sich in der Ramstein-Koalition zusammengeschlossen haben, um der Ukraine zu helfen, definitiv den Sieg erringen. Gerade jetzt, in diesem Moment, führt die ukrainische Armee eine Gegenoffensive durch.

Euronews: Befinden wir uns Ihrer Meinung nach im Modus eines langen Krieges?

Hryhoriy Nemyria, Erster stellv. Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des ukrainischen Parlaments:

Viele Menschen dachten 2008 ähnlich, als Russland Georgien angegriffen hat und 25 % von Georgien besetzt hat – und immer noch besetzt hält. Viele Menschen dachten 2014 genauso, als Russland die Krim annektierte und einen bedeutenden Teil meiner Heimat, den Donbas, besetzt hat. Sie dachten, das würde Putin genügen, denn das einzige, was ihn wirklich interessiert, ist die Krim. Und wenn er die hat, wird er nicht weiter gehen. Das ist aber nicht der Fall. Er geht weiter. Bei der Beantwortung Ihrer Frage geht es also nicht um die Entfernung, nicht um die Zeit. Es geht um die richtigen Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen sind.

Zwei Lektionen sind meiner Meinung nach sehr wertvoll. Die erste Lektion: Der 24. Februar brachte eine wichtige Erkenntnis: Die Grauzonen sind verschwunden. Es gibt keine Grauzonen mehr in Europa. Was sind Grauzonen? Das sind die Länder, die dazwischen liegen. Zur Zeit des Kalten Krieges spielten sie für die Diplomaten eine Rolle als Brücken, Pufferzonen.

Aber die Tatsache, dass Finnland und Schweden zu Beginn des Krieges beschlossen haben, der NATO beizutreten und nicht mehr gewillt sind, in dem Sicherheitsvakuum dazwischen zu stehen, ist eine sehr wichtige Lehre, die auch andere ziehen sollten, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch für solche Regionen wie den Indo-Pazifik.

Und die zweite Lektion, die es zu lernen gilt: Welchen Wert haben so genannte "Sicherheitsgarantien"? Für die Ukraine ist das von großer Bedeutung, denn 1994 gab die Ukraine das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt auf, größer als das von Großbritannien, Frankreich und China zusammen, um dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Das Arsenal bestand aus 2.000 strategischen Sprengköpfen, 176 Interkontinentalraketen (ICBMs), 44 strategischen Bombern und 2.500 taktischen Atomwaffen. All diese Waffen wurden an Russland übergeben und zerstört. Im Gegenzug erhielt die Ukraine "Sicherheitsgarantien" in dem ehemaligen Budapester Memorandum, das vom damaligen russischen Präsidenten Jelzin, dem US-Präsidenten Bill Clinton und dem britischen Premier John Major unterzeichnet wurde.

Aber dann begann der Krieg. Die Ukraine sagte, sie hätte Sicherheitsgarantien für die territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit. Aber die Ukraine wurde dennoch angegriffen, von einem der Garantiegeber. Und die internationalen Institutionen, die als Garanten fungieren, waren nicht in der Lage sind, das Versprechen einzulösen.

Bei diesem Präzedenzfall geht es nicht nur um die Ukraine. Wie können wir es wagen, mit Ländern wie dem Iran oder Nordkorea zu verhandeln und ihnen ernsthaft etwas garantieren, wenn das Versprechen, das wir den Ländern geben, die freiwillig de-nuklearisieren, gebrochen wird und die Sicherheitsgarantien so schwammig sind?

Das sind die Lektionen. Wenn wir aus ihnen keine Lehren ziehen, und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern in allen anderen Ländern, sind wir meiner Meinung nach dazu verdammt, das Gleiche zu wiederholen, nur auf eine noch schrecklichere und hässlichere Art, irgendwann in der Zukunft.

Euronews: Das ist ein ziemlicher Weckruf. Und was die Lehren betrifft, die man aus dem Jahr 2014 gezogen hat: Hätte Europa damals mehr tun können?

Kolinda Grabar-Kitarović, ehemalige Präsidentin von Kroation:

Absolut. Ich denke, dass wir kollektiv die Verantwortung dafür tragen, was heute in der Ukraine passiert, für diese offene Invasion, die am 24. Februar begann. Ich denke, dass unsere gemeinsame Reaktion damals, 2014, langsam war, sie war nicht stark genug. Und im Gegensatz dazu war die Reaktion, die wir jetzt gesehen haben, nach der offenen Invasion, dem offenen Krieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar, etwas, was Präsident Putin, falsch eingeschätzt hat: die Geschwindigkeit und die Tiefe der Reaktion der Europäischen Union, der NATO und der globalen Gemeinschaft insgesamt.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob das so bleiben wird, denn wenn man sich die derzeitige Lage in der Ukraine ansieht, kann man einen Krieg nur durch eine diplomatische Lösung beenden, für die ich im Moment auf beiden Seiten keine Anreize sehe, vor allem nicht auf Seiten von Präsident Putin. Ich denke, er hat die Zeit auf seiner Seite. Er hat die Mittel, um einen langen Krieg zu führen.

Die Sanktionen haben die russische Wirtschaft getroffen. Sie müssen in Kombination mit militärischen, diplomatischen und anderen Mitteln betrachtet werden. Putin bereitet sich auf einen langen Zermürbungskrieg vor, einen Zermürbungskrieg in der Ukraine, einen Zermürbungskrieg, in dem wir schrittweise Gewinne zu einem sehr hohen Preis erzielen, aber auch eine Zermürbung unserer Einigkeit, unserer Ziele und unserer Entschlossenheit im Westen und in anderen Teilen der Welt.

Denn wegen der rasant steigenden Energiepreise, der Inflation und dem Einsatz von Nahrungsmitteln und Energie als Waffe, kommt es in unseren Gesellschaften zu Unzufriedenheit mit dem, was uns in diesem Winter bevorsteht. Deshalb ist es so wichtig, dass die Regierungen die Auswirkungen der Krise in unseren Gesellschaften lindern, vor allem für die Schwächsten in der Bevölkerung.

Ich war 23 Jahre alt, als der Krieg ausbrach und ich die Detonationen im 20 Kilometer entfernten Zagreb hörte, wenn ich nachts zu Bett ging. Ich war dankbar für das warme Bett, in dem ich schlafen konnte. Aber wir vergessen diese Erfahrung schnell, und viel zu lange haben wir uns in Europa auf das Gefühl verlassen, dass wir Frieden und Sicherheit haben. Wir haben den Frieden als selbstverständlich genommen, vor allem die jungen Generationen, die Krieg und Zerstörung nicht erlebt haben.

Daher denke ich, die wichtigste Botschaft ist, dass die Ukrainer tatsächlich Blut und Leben verlieren und wir in der Lage sein sollten, auf einige Annehmlichkeiten in unserem eigenen Leben verzichten zu können, um diese Werte zu schätzen und zu schützen.

Selbst wenn man nicht an die liberale Demokratie glaubt, müssen wir doch das Völkerrecht, die staatliche Souveränität, die territoriale Integrität und das Recht jeder Nation und jedes Einzelnen auf eine selbstbestimmte Zukunft schützen. Meine Botschaft an die junge Generation lautet: Wir dürfen nicht zulassen, dass Tyrannen die Welt regieren.

Euronews: Im März haben wir eine noch nie dagewesene Einigkeit unter den europäischen Mitgliedstaaten erlebt. Ist der Schwung noch da?

Aleksander Kwaśniewski, ehemaliger Präsidenten von Polens:

Das ist der so genannte "Erfolg" Putins. Wir waren noch nie so geeint. Wegen dieser beispiellosen Aggression gegen die Ukraine sind wir so geeint. Das ist ein erster sehr wichtiger neuer Wert, und wir müssen diese Einigkeit fortsetzen. Wir haben hier viele junge Menschen, also denken Sie bitte daran, dass ein geeintes Europa nicht nur stärker, sondern auch besser ist. Wenn Europa zerfallen würde, hätten wir im 21. Jahrhundert in diesen globalen Prozessen, keine Chance mehr. Wir haben starke Konkurrenten, manchmal auch Feinde. Russland ist ein Feind, China ist ein starker Konkurrent, wahrscheinlich werden wir China in den nächsten Monaten auch als Feind erleben, wegen der wahrscheinlichen Aggression gegen Taiwan. Die erste Botschaft lautet also: Ein geeintes Europa ist stärker, ist besser, und das ist ein guter Raum für uns alle und auch für Sie, die junge Generation.

Ich habe natürlich Angst, denn Leben ist Leben. Und wir wissen, dass die Menschen nur eine sehr begrenzte Geduld haben. Deshalb habe ich große Angst, was im Winter passieren wird. Denn die Energiekrise wird kommen, und wir haben keine Chance, sie zu vermeiden. Wir werden wahrscheinlich an einigen Orten Stromausfälle haben. Es wird eine Inflation geben, hohe Preise. Und es ist sehr wichtig, in dieser schwierigen Zeit zu verstehen, dass wir gemeinsam mit der Ukraine für die wichtigsten Werte wie Demokratie, Souveränität, Respekt, Menschenrechte, Würde usw. kämpfen.

Natürlich ist Westeuropa, aber auch Polen, mein Land, nach 30 Jahren sehr positiver, erfolgreicher Transformation, eine mehr und mehr konsumorientierte Gesellschaft. Deshalb ist es für uns nicht leicht zu akzeptieren, dass die Lebensbedingungen schlechter werden oder schlechter werden können. Aber es ist notwendig zu verstehen, dass es eine Zeit ist, eine Periode in der Geschichte, in der wir das aushalten müssen, weil wir für viel wichtigere Werte, für viel wichtigere Dinge kämpfen. Unsere Generation, meine Generation, Ihre Generation, sie waren nie mit einer solchen Herausforderung konfrontiert. Die Generation meiner Eltern, meiner Großeltern... sie hatten alle 10 oder 20 Jahre Kriege, Konflikte, Armut und Hungersnöte. Das ist für uns alle, eine wirklich schwierige, aber sehr wichtige Herausforderung. Und wir müssen diese Prüfung erfolgreich bestehen, denn sie ist wichtig für unsere Zukunft.

Und eine letzte Bemerkung zu Russland. Ich habe an einigen Diskussionen teilgenommen, in denen ein Thema eine große Kontroverse ausgelöst hat: "Ist es Putins Krieg gegen die Ukraine oder ist es Russlands Krieg gegen die Ukraine?" Denn es wäre wahrscheinlich für uns alle einfacher zu sagen: "Nun, das ist Putins Krieg. Denn er ist davon besessen, Großrussland wiederaufzubauen, das Imperium wieder zu errichten. Und um das Imperium wiederaufzubauen, braucht er natürlich ein so großes Land wie die Ukraine, wie Belarus und einige zentralasiatische Länder." Es wäre wahrscheinlich einfacher zu verstehen, dass wir eine bessere Situation haben werden, wenn wir Putin im Kreml auswechseln oder er eines Tages ausgewechselt wird. Wir können ein neues Kapitel in den Beziehungen zu Russland aufschlagen.

Aber ich sage Ihnen, ich kenne Russland ziemlich gut und habe viele Bücher gelesen… Heute hatten Sie ein paar Stunden zuvor Anne Applebaum hier, und sie sagte, dass die liberale Geschichte Russlands eine Periode sein könnte, eine Nullperiode: sie hat nie existiert. Natürlich hatten wir einige liberale Ideen oder Staatsführer, aber sie waren nie erfolgreich.

Meiner Meinung nach ist das leider ein Problem. Denn das ist Russlands Krieg. Das hängt sehr stark mit dem russischen Weltverständnis zusammen, dem russischen Verständnis der Stellung Russlands in dieser Welt. Da sind eine Menge imperialistischer Gefühle. Und Russland hat sich nie entschieden, innerhalb des Landes offen über die Probleme der Vergangenheit, der Zarenzeit, der Sowjetunion usw. zu diskutieren. Diese Vorstellung von russischer Größe, von russischen Territorien steckt leider sehr tief in der russischen Mentalität. Warum spreche ich darüber?

Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass selbst wenn eines Tages Putins Präsidentschaft endet und wir eine nächste Generation von Staatslenkern haben, die Situation, insbesondere in Bezug auf die Ukraine, dieselbe sein kann. Denn für diese große russische Vorstellung vom eigenen Land und ihrer Rolle in der Welt, ist die Ukraine ein entscheidender Teil.

Russland will die volle Kontrolle über die Ukraine - mit oder ohne Putin oder mit irgendeinem Putin-Nachfolger – deshalb dauert dieser Konflikt sehr, sehr lange an. Aber wir können gewinnen, wir können gewinnen.

Julia hat sehr wichtige Dinge gesagt. Wenn wir die Ukraine unterstützen, wenn wir Waffen liefern und die Ukraine finanziell stark unterstützen, wenn wir die Entschlossenheit der Ukrainer sehen, ihren Mut, wie sie geschickt all die neuen Waffen einsetzen, dann ist das eine Chance dass die Ukraine in diesem Kampf zwischen Demokratie und Behörden uns allen zum Sieg verhelfen wird und die Demokratie in den nächsten Jahrzehnten eine Chance haben wird.

Das ist ein Grund, die Ukraine voll und ganz zu unterstützen. Und das zweite ist natürlich unsere Einheit. Ohne die Einigkeit des Westens, der EU, der USA, haben wir keine Chance in dieser globalen Konfrontation zwischen Demokratie und autoritären Ideen zu gewinnen.

***

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

ESTORIL-Konferenz 2023: Jetzt handeln für eine menschlichere Welt

Fokus auf dem Menschen: Estoril-Konferenz hat begonnen

António Vitorino: "Diese Flüchtlingskrise ist absolut unvergleichbar"