Nach 80 Jahren entdeckt: Die heimlichen Fotos eines Hobbyfotografen aus dem Warschauer Ghetto

Fotos werden im Museum vorgestellt, Warschau, 18.1.2022.
Fotos werden im Museum vorgestellt, Warschau, 18.1.2022. Copyright WOJTEK RADWANSKI/AFP or licensors
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Von Andrea Büring mit dpa, afp, ap
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Das Historische Museum für polnische Juden wollte eine Ausstellung über das Warschauer Ghetto machen. Es sprach einen Mann an, dessen Vater heimlich Fotos im Warschauer Ghetto gemacht hatte. Und der Sohn fand auf dem Speicher eine Filmrolle...

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Das Historische Museum der polnischen Juden hat eine Entdeckung vorgestellt: Fotos des Warschauer Ghettos, die nicht aus der Perspektive eines Deutschen stammen.

Zeitdokumente von großem historischen Wert, die nach 80 Jahren den Weg ans Tageslicht fanden.

Auf dem Speicher entdeckt

Ein Mann hatte im Dezember den Film auf dem Speicher seines Vaters entdeckt. Zbigniew Leszek Grzywaczewski war bereits vor 20 Jahren gestorben. Er war Hobbyfotograph - und während des 2. Weltkriegs als Feuerwehrmann im Warschauer Ghetto im Einsatz.

Er konnte sehen, wie die Menschen aus den Fenstern sprangen und davon heimlich Fotos machen.
Jacek Leociak.
polnischer Historiker

Der polnische Historiker Jacek Leociak erklärt, die Feuerwehrmänner "kamen jeden Tag ins Ghetto. Sie taten etwas, das die Feuerwehr normalerweise nicht tut. Sie löschten keine von Deutschen verursachten Häuserbrände, sondern sorgten dafür, dass die Feuer nicht auf Nachbarhäuser übergriffen. Eine abnormale Situation gemessen an der traditionellen Aufgabe einer Feuerwehr." Grzywaczewski habe also beobachten können, was hinter den Mauern passierte. "Er konnte sehen, wie die Menschen aus den Fenstern sprangen und davon heimlich Fotos machen", sagte Leociak.

WOJTEK RADWANSKI/AFP or licensors
Film mit unbekannten Fotos entdecktWOJTEK RADWANSKI/AFP or licensors

Das Warschauer Ghetto war ein Jahr nach dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 eingerichtet worden. Ziel war es, die Bewohner durch Hunger und Krankheiten zu vernichten oder sie in das Todeslager Treblinka, 80 Kilometer östlich von Warschau, zu deportieren.

Am 19. April 1943 griffen einige hundert jüdische Kämpfer die Nazis an; sie wollten lieber mit der Waffe in der Hand sterben, als den Weg in die Gaskammern anzutreten. 

Ich werde mein ganzes Leben lang das Bild der vor Hunger und Angst taumelnden, schmutzigen, zerrissenen Gestalten in meinem Kopf behalten.
Zbigniew Leszek Grzywaczewski
Auszug aus dem Tagebuch

Die Besatzer legten Feuer, um den Aufstand im Warschauer Ghetto niederzuschlagen. Durch die Brände sollten die Aufständischen aus den Häusern nach draußen getrieben werden. 

Der Hobbyfotograph Zbigniew Leszek Grzywaczewski führte während des Krieges ebenfalls ein Tagebuch. Im Mai 1943 schrieb er: "Ich werde, glaube ich, mein ganzes Leben lang das Bild (...) der vor Hunger und Angst taumelnden, schmutzigen, zerrissenen Gestalten in meinem Kopf behalten. Von (diesen Menschen), die massenhaft erschossen wurden".

Apokalyptische Atmosphäre

33 Bilder befinden sich auf dem Film. Auf ihnen sind keine Kämpfe dargestellt. Auf einem Bild, das von oben aufgenommen wurde, wird eine Gruppe von Juden - Männer, Frauen und Kinder - von deutschen Soldaten mit Waffen in der Hand zum Umschlagplatz, dem Abfahrtsort in die Vernichtungslager, geleitet.

Auf einem anderen Bild sind in einer verlassenen Straße Gebäude in dichten Rauch gehüllt, Schutt und Kabel liegen auf der Straße. Auf einem dritten Bild löschen Feuerwehrleute brennende Gebäude. Eine apokalyptische Atmosphäre, die sich dem Betrachtenden vermittelt.

Der polnische Historiker sagt, "für mich stellen die Fotos einen unschätzbaren Wert dar, da sie den Deutschen "gestohlen" wurden - in dem Sinne, dass die Deutschen ja nicht nur die Menschen im Ghetto kontrollierten, sondern auch das Bild, das sie vom Ghetto und vom Aufstand überliefern wollten."

Wie kam es zur Entdeckung?

Bisher waren nur 12 Fotos dieses Films bekannt, allerdings nur als Abdrücke auf minderwertigem Papier, die eng gerahmt waren, da der Film selbst lange Zeit nicht auffindbar war.

Die Abdrücke wurden vom Fotographen an eine jüdische Familie weitergegeben, die sich während des Krieges in seiner Wohnung versteckt hatte und später in die USA emigrierte. In den 1990er Jahren schenkte sie sie der Holocaust-Gedenkstätte in Washington.

Vor etwa sechs Monaten nahmen die Organisatoren der bevorstehenden Ausstellung des Historischen Museum für polnische Juden Kontakt zur Familie des Fotografen auf - in der Hoffnung, weitere Aufnahmen zu finden.

Mein Vater hat uns nie erzählt, dass er im Ghetto Bilder gemacht hat, vielleicht weil es zu hart war.
Maciej Zbigniew
Sohn des Fotographen

Und es war Zbigniews Sohn Maciej, der den alten Film mit den beschädigten Rändern in einem seit Jahrzehnten vergessenen Karton fand, der das Fotoarchiv seines 2003 verstorbenen Vaters enthielt.

"Mein Vater hat uns nie erzählt, dass er im Ghetto Bilder gemacht hat, vielleicht weil es zu hart war. Vor nicht allzu langer Zeit erfuhr ich, dass sich seine Fotos in Washington befanden", gestand Grzywaczewski. "Auf Anweisung der Kuratorin der Ausstellung begann ich zu suchen, lange Zeit ohne Erfolg. Als ich schließlich in die letzte Kiste des letzten Kartons mit dem Fotoarchiv meines Vaters schaute, fand ich diesen Film".

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