Tschernobyl-Jahrestag: Was bei einer Nuklearkatastrophe zu tun ist

Ein Besucher des Kraftwerks in Fukushima
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Von Euronews
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Vor 37 Jahren hat ´sich die Tschernobyl-Katastrophe ereignet. Gerade werden die Atomkraft und ihre Gefahren in Europa wieder heiß diskutiert. Was bei einem Unfall zu tun ist:

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Es gibt nur wenige Dinge, die für die Ängste einer Gesellschaft so prägend sind wie Nuklearkatastrophen - und obwohl sich die Katastrophe von Tschernobyl heute vor 37 Jahren ereignet hat, ist sie immernoch zentral für die Debatte über die (Un-)Sicherheit der Kernkraft.

Die Gefahr eines weiteren nuklearen Unfalls in Europa wurde im vergangenen Jahr plötzlich unmittelbar, als russische Soldaten mehr als fünf Wochen lang die Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl besetzten und möglicherweise eine Strahlenvergiftung erlitten.

Und auch das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja, das nur knapp einem schweren Bombardement durch russische Streitkräfte entgangen ist, wird von der Welt mit Sorge beobachtet.

Abgesehen von den Ereignissen in der Ukraine gibt es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft der Kernenergie. Deutschland hat sich nach der Katastrophe von Fukushima 2011 verpflichtet, sein Atomstromnetz vollständig abzuschalten und hat diesen Prozess in diesem Frühjahr abgeschlossen. Dennoch leben Millionen von Europäer:innen heute in unmittelbarer Nähe mindestens eines Atomkraftwerks.

Wann immer die Gefahr eines Atomunfalls wieder auftaucht - sei es durch einen Krieg oder eine von der Kritik gefeierte Fernsehserie - fragen sich die Menschen unwillkürlich, was passieren wird, wenn etwas schiefgeht.

Lokale Ratschläge in Europa

Die Anwohner:innen des Royal Navy-Stützpunktes in Portsmouth, England, haben von der Gemeindeverwaltung ausführliche Ratschläge erhalten, wie sie sich im Falle eines Atomunfalls verhalten sollen.

Ein nuklearer Unfall wäre zwar wahrscheinlich klein und auf den Stützpunkt begrenzt und würde in keiner Weise einer Atombombenexplosion ähneln. Dennoch könnten die Menschen in einem solchen Fall radioaktiven Partikeln ausgesetzt sein oder mit kontaminierten Oberflächen, Lebensmitteln oder Trinkwasser in Berührung kommen.

"Die wichtigste Maßnahme, um sich in Sicherheit zu bringen, besteht darin, Fenster und Türen geschlossen zu halten, damit die radioaktiven Partikel nicht zu Ihnen gelangen können", rät die Gemeindeverwaltung.

"Schließen Sie alle Türen und Fenster, um das Risiko eines Eindringens der Kontamination in das Gebäude zu verringern. Schalten Sie Ventilatoren, Belüftungsanlagen oder Geräte wie Heizkessel und Gaskamine aus, die Luft von außen ansaugen", so die Stadtverwaltung.

Die Menschen werden außerdem aufgefordert, Radio zu hören oder sich im Internet über die neuesten Nachrichten zu informieren. Auf die Nutzung von Mobiltelefonen solle verzichtet werden, da die vielen Anrufe das Netz überlasten könnten.

Efrem Lukatsky/AP
Aufnahmen des beschädigten Atomreaktors in Tschernobyl aus dem Jahr 2013Efrem Lukatsky/AP

In Frankreich wird in den Anweisungen der Regierung zur Vorbereitung auf einen Nuklearunfall darauf hingewiesen, dass dieser auf einer Skala von 1 bis 7 eingestuft werden würde, wobei die Zahl 7 der von Tschernobyl entspricht.

In Frankreich gibt es 56 Kernkraftwerke. Die Regierung rät den Menschen, für den Fall eines Unfalls eine Notfallausrüstung mit Kopien wichtiger Papiere und Medikamenten sowie mit Kleidung, Lebensmitteln und Wasser bereitzuhalten.

Die Menschen sollen sich bei geschlossenen Fenstern in geschlossenen Räumen aufhalten und Jodtabletten einnehmen, um einer möglichen Strahlenvergiftung entgegenzuwirken.

In Spanien, wo sieben Kernkraftwerke rund 20 Prozent der Energie des Landes erzeugen, hat die Regierung Ratschläge für den Notfall in verschiedenen Sprachen herausgegeben.

"Der beste Weg, sich bei einem Strahlungsnotfall in Sicherheit zu bringen, besteht darin, sich in ein Gebäude zu begeben, dort zu bleiben und auf dem Laufenden zu bleiben. Wenn Sie Material zwischen sich und die Strahlung bringen, schützen Sie sich, während Sie auf Anweisungen der Rettungskräfte warten", raten die spanischen Behörden.

In Schweden, wo es sechs Reaktoren in drei Kernkraftwerken gibt, haben die Behörden einen Ratgeber verfasst, der die Menschen darauf hinweist, dass "Vorsorge bedeutet, auf das Unerwartete vorbereitet zu sein [...] und in der Lage zu sein, die Folgen eines Unfalls zu minimieren."

In den Anweisungen heißt es, man solle sich von der Strahlungsquelle fernhalten, sich so wenig wie möglich in dem kontaminierten Gebiet aufhalten und einen Schutzschild zwischen sich und der Strahlungsquelle errichten, indem man sich zum Beispiel in einem Haus aufhält.

Mikael Fritzon/AP
Eine Aufnahme des Kernkraftwerks Oskarshamn im Südosten von Schweden aus dem Jahr 2008Mikael Fritzon/AP

Ältere Kernkraftwerke bergen mehr Risiken

Glücklicherweise ist es ziemlich unwahrscheinlich, in Europa nach einem Unfall in einem Kernkraftwerk Strahlung ausgesetzt zu werden - wenn auch nicht völlig unmöglich.

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Was die Explosion in Tschernobyl 1986 so katastrophal machte, war eine Kombination aus schlechter Konstruktion, mangelhaften Sicherheitspraktiken, schlecht durchgeführten Tests und verwirrenden Informationen nach dem Ereignis. Die meisten dieser Faktoren sind im modernen Kernenergiesektor in Europa nicht vorhanden.

Das hat die Europäer:innen jedoch nicht davon abgehalten, sich Sorgen um eine mögliche Nuklearkatastrophe zu machen.

Wissenschaftler:innen des Genfer Institut Biosphère haben sich eingehend mit den Schäden befasst, die ein Unfall in einem der fünf schweizerischen Kernkraftwerke, darunter der älteste noch in Betrieb befindliche Reaktor der Welt, Benzau I, verursachen könnte.

Ihren Ergebnissen zufolge könnte eine Kernschmelze in der Schweiz je nach Wetterlage 16-24 Millionen Europäer:innen betreffen und Tausende von strahlungsbedingten Todesfällen über die Grenzen der Schweiz hinaus zur Folge haben.

Einige Länder sind besorgt über mögliche nukleare Unfälle in Nachbarländern oder haben sogar bereits Zwischenfälle erlebt. Großbritanniens ältester Reaktor, die inzwischen stillgelegte Atomanlage Sellafield, ist seit Jahrzehnten Thema: Bei einem Brand im Jahr 1957 wurden radioaktive Partikel in die Luft gesandt, die in Skandinavien und Deutschland nachgewiesen werden konnten; nicht nur einmal wurden Abfälle versehentlich in die Irische See gekippt.

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Heute kostet die unglaublich komplizierte Sanierung des Standorts den britischen Staat bis zu 2,25 Milliarden Euro pro Jahr und birgt die Gefahr, dass weitere radioaktive Abfälle ins Meer gelangen, mit denen dann Irland, Island und der Rest von Nordwesteuropa fertig werden müssen.

DAVE THOMPSON/AP2007
Eine Aufnahme des Kernkraftwerks Sellafield in England aus dem Jahr 2007DAVE THOMPSON/AP2007

Als das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi in Japan im Jahr 2021 von einem Tsunami beschädigt wurde, evakuierten die japanischen Behörden alle Menschen im Umkreis von 20 km, insgesamt 109.000 Menschen. Zehntausende weitere verließen die nahe gelegenen Gebiete freiwillig.

Die britischen Forscher William Nuttall und Philip Thomas führten ein Experiment durch, um herauszufinden, was bei einer ähnlichen Katastrophe in Südengland notwendig wäre. Dabei errechneten sie, dass die Evakuierung nur ein nahe gelegenes Dorf betreffen würde.

Die Konstruktion von Tschernobyl und die Vernachlässigung von Sicherheitsprotokollen waren der Grund für die massive Strahlungsfreisetzung; modernere Reaktoren, die mit Sicherheitsbehältern gebaut werden, stellen im Regelfall kein vergleichbares Risiko dar.

Es gäbe auch andere Gründe, die gegen eine große Evakuierungsaktion sprechen würden. Die Forscher wiesen darauf hin, dass die Folgen einer langfristigen Massenevakuierung eigene Probleme für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen können.

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"Die Weltgesundheitsorganisation dokumentierte die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe auf die umgesiedelte Bevölkerung und stellte zahlreiche Fälle von Depressionen und Alkoholismus fest", schrieben sie für The Conversation: "In der gesamten Bevölkerung kann ein Anstieg von Selbstmord und Drogenmissbrauch das Leben der Evakuierten weitaus stärker verkürzen, als die Strahlung in ihren alten Häusern. Ähnliche Beobachtungen werden allmählich in Fukushima gemacht, insbesondere für Selbstmord bei Männern."

Im Moment ist die europaweite Zukunft der Kernenergie noch unklar, verschwinden wird sie absehbarerweise jedoch nicht. Während an verschiedenen Orten die Stilllegung von Kernkraftwerken aufgeschoben wird, schalten Länder wie Finnland neue Reaktoren ein, um die durch die russische Energiepolitik entstandene Versorgungslücke zu schließen - was bedeutet, dass ihre Bürger:innen mit Reaktoren leben werden, die für eine Laufzeit von einem halben Jahrhundert oder länger ausgelegt sind.

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