Protestwelle im Iran: Abgeebbt, aber noch lange nicht vorbei

Eine Demonstration gegen das Regime im Iran
Eine Demonstration gegen das Regime im Iran Copyright AFP PHOTO / UGC IMAGE
Von Ilaria FedericoEuronews, Eva Kandoul
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Die landesweiten Demonstrationen im Iran nach dem Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam sind weitgehend von den Sicherheitskräften niedergeschlagen worden. Doch Expert:innen meinen, der Protest habe nur eine andere Form angenommen. Für viele ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Regime stürzt.

WERBUNG

Im Iran weht immer noch der Wind der Revolution. "Die Wut ist immer noch da, aber sie hat ihre Form geändert. Sie äußert sich sporadischer und individueller. Sie wird nicht mehr von Demonstrationen auf der Straße begleitet", erklärt Farhad Khosrokhavar, Soziologe und Studiendirektor an der renommierten Pariser Hochschule "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS)".

"Wir befinden uns jetzt in einem Zermürbungskrieg", so Khosrokhavar weiter. Acht Monate nach dem Tod von Mahsa Amini und dem Beginn der Protestwelle im Iran haben die Demonstrationen eine andere Form angenommen. Angesichts der brutalen Niederschlagung durch das iranische Regime war der Widerstand gezwungen, sich anzupassen.

Neue Phase der Proteste

"Die Straßenproteste wurden nach und nach unterdrückt. Aber die feministische Dimension der Bewegung geht weiter. Die Frauen weigern sich, den Schleier auf der Straße zu tragen", sagt der französisch-iranische Forscher. Diese Veränderung in der Form der Proteste könne vom Regime nur schwer unterdrückt werden, meint Khosrokhavar.

Heute tritt die Revolution in der iranischen Gesellschaft in eine neue Phase ein. Um dagegen vorzugehen, hat das Regime aber auch zu einer anderen Form der Repression gegriffen: die Schließung von Banken und Geschäften, die unverschleierte Frauen empfangen, und die Installation von Überwachungskameras.

"Aber all diese Maßnahmen haben sich als unwirksam erwiesen", sagt Khosrokhavar. Das harte Durchgreifen habe es nicht geschafft, "die Situation wieder so herzustellen, wie sie vor dem Tod der jungen Kurdin war", der das Land in Aufruhr versetzte, fügt Mahmood Amiry-Moghaddam, Direktor der Nichtregierungsorganisation, "Iran Human Rights", hinzu.

Ein zweitrangiges internationales Problem

Das Ausmaß der Krise hat die internationale Gemeinschaft nicht kaltgelassen. "Die führenden Politiker der EU-Länder, aber auch der USA, haben in den letzten Monaten Sanktionen gegen Personen verhängt, die für die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Iran verantwortlich sind," sagt Cornelius Adebahr, Iran-Experte beim Think-Tank Carnegie Europe.

Dabei handele es sich um Kommandeure der islamischen Revolutionsgarde, Polizeichefs und regionale Beamte, erklärt Adebahr. "Ihr Vermögen in der Europäischen Union wurde eingefroren, und es ist ihnen untersagt, in die Europäische Union einzureisen", erklärt Adebahr.

Für einige sind die von der internationalen Gemeinschaft ergriffenen Maßnahmen jedoch nicht ausreichend. "Der Hauptgrund dafür ist vielleicht, dass es im Moment noch keine Alternative gibt, die von der Mehrheit der Demonstranten akzeptiert wird", kommentiert Azadeh Kian, französisch-iranische Soziologin an der Universität von Paris.

"Der Krieg in der Ukraine hat die westlichen Staaten vollständig gegen Russland mobilisiert, so dass der Iran zu einer Art Nebenthema geworden ist", ergänzt Farhad Khosrokhavar.

Ist ein Regimewechsel möglich?

"Man kann nicht erwarten, dass das Regime über Nacht gestürzt wird", sagt Azadeh Kian, Iran-Expertin und Autorin des Buches "Frauen und Macht im Islam". "Viele politische Oppositionsgruppen haben sich gebildet. Sie brauchen Zeit, um sich die Positionen der anderen anzuhören und sich vielleicht zu einer Koalition zusammenzuschließen, um das Regime schließlich zu stürzen", so Kian weiter.

"Die Bewegung ist in ihrer politischen Dimension, d. h. der Sturz des islamischen Regimes, gescheitert, aber in ihrer kulturellen Dimension ist sie meiner Meinung nach erfolgreich. Sie hat in gewisser Weise die große Legitimationskrise dieser Macht offenbart", analysiert Farhad Khosrokhavar.

Internationale Solidarität mit den Iranern

Der Freiheitskampf der iranischen Jugend und der iranischen Frauen hat viele Menschen weltweit begeistert. "Millionen von Menschen in Kanada, den Vereinigten Staaten und Europa wurden mobilisiert", erklärt der iranische Soziologe Khosrokhavar. Die Bildung einer Opposition in der iranischen Diaspora ist eine treibende Kraft für einen möglichen Regimewechsel. "Sie verleiht ihnen eine Legitimität, die die Generation der Eltern und der Großeltern überzeugen könnte, sich der Bewegung anzuschließen", so Khosrokhavar weiter.

Nur eine Frage der Zeit

Auch wenn die Revolution das Regime nicht gestürzt hat, könnte sie längerfristig große politische Auswirkungen haben. "Diese Bewegung hat den Grundstein für die künftige Beteiligung des größten Teils der iranischen Zivilgesellschaft gelegt", sagt der Iran-Experte.

"Das ist noch nicht vorbei", sagt Cornelius Adebahr. Und weitere Aufstände könnten stattfinden, "sobald sich eine Gelegenheit ergibt", versichert Mahmood Amiry-Moghaddam, Direktor der Nichtregierungsorganisation Iran Human Rights. "Der Countdown begann an dem Tag, an dem sie Mahsa töteten." Für ihn ist eine neue Revolution in Vorbereitung, "es ist nur eine Frage der Zeit".

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Rolle rückwärts: Im Iran patroulliert wieder die "Sittenpolizei"

Geiseldiplomatie: Was tut die EU für ihre im Iran inhaftierten Bürger?

Zum ersten Mal seit 14 Jahren: Der iranische Regisseur Panahi darf das Land verlassen