Der Kreml steht kurz davor, Belarus de facto zu annektieren, und wenn die aktuellen Trends anhalten, wird er dies wahrscheinlich innerhalb eines Jahrzehnts erreichen, heißt es in einem ISW-Bericht.
Der Kreml wird Weißrussland in den nächsten zehn Jahren annektieren, um es für Aggressionen gegen die NATO zu nutzen. Zu diesem Schluss sind Experten des Institute for the Study of War (ISW) gekommen. In ihrem auf der Website des Washingtoner Think Tanks veröffentlichten Bericht „Russia's Quiet Conquest: Belarus“ heißt es: „Russlands Bemühungen, Weißrussland effektiv zu annektieren, schaffen strategische Risiken für die Vereinigten Staaten, die NATO und die Ukraine.“
Der Kreml befinde sich am Ende einer jahrzehntelangen strategischen Anstrengung, Weißrussland de facto zu annektieren. Dadurch würden die militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten Russlands für immer so gesteigert, daß es Russland möglich werde, seine revanchistischen geopolitischen Ziele gegenüber den Vereinigten Staaten und der NATO zu verfolgen.
Der Kreml versuche Weißrussland de facto zu annektieren, indem er den Staatenbund mit einer russisch dominierten Bundesregierung formalisiere, die Moskau die alleinige Macht über die meisten, wenn nicht alle Aspekte der weißrussischen Staatsführung verleihe. Dazu gehöre die vollständige operative und administrative Kontrolle über die weißrussischen Streitkräfte in Friedenszeiten und eine dauerhafte russische Militärbasis in Weißrussland. Zudem solle eine politische Union mit einer vom Kreml dominierten Bundesregierung mit gemeinsamen föderalen Gesetzen und Institutionen entstehen, die Weißrussen und Russen als ein einziges Gemeinwesen regieren.
Der existierende Staatenbund sei zwar noch unvollständig, habe aber bereits bedeutende Erfolge erzielt. Dies mache eine Neubewertung der Folgen der zunehmenden russischen Kontrolle über Weißrussland und der Fähigkeiten und Ressourcen, die Russland dadurch gegen die USA, die NATO und die Ukraine einsetzen könnte, durch die NATO erforderlich.
„Weißrussland ist nicht nur ein Verbündeter Russlands; der Kreml macht es zu einem strategischen Instrument für Russlands Fähigkeit, seine Macht weltweit zu verbreiten“, schreiben die Analysten. Die politischen Entscheidungsträger müssten mit der Planung einer Zukunft beginnen, in der Weißrussland nicht nur ein gefangenes Land ist sondern faktisch eine "Fortsetzung der Russischen Föderation".
Die Autoren des Berichts glauben, dass Russland eine vollständig integrierte Wirtschaft mit gemeinsamen Märkten, freiem Arbeitskräftefluss, gemeinsamen Gesetzen und einer Währungsunion anstrebe.
„Russlands Bemühungen, Weißrussland effektiv zu annektieren, sind zwar noch nicht abgeschlossen, befinden sich jedoch in einem fortgeschrittenen Stadium und haben bereits ein Stadium erreicht, das eine Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten, der NATO und der Ukraine sowie eine existenzielle Bedrohung für den Fortbestand von Weißrussland als souveräner Staat darstellt“, stellen die Experten des Instituts fest. Sie betonen, dass „Russlands militärische Erfolge Weißrussland zu einem Stützpunkt machen, von dem aus Moskau russische Streitkräfte gegen die NATO und die Ukraine einsetzen kann.“
Der Westen müsse angesichts der schleichenden Annexion der belarussischen Bevölkerung und Ressourcen durch Russland die Anforderungen zum Schutz der Ostflanke der NATO und zur Aufrechterhaltung der Verteidigung der Ukraine überdenken, fordern die Autoren.
„Russland gewinnt in Weißrussland“, stellt das ISW fest. „Der Kreml steht kurz vor der tatsächlichen Annexion Weißrusslands und wird dies höchstwahrscheinlich innerhalb eines Jahrzehnts tun, wenn die aktuellen Trends anhalten.“
Nach Ansicht der Experten des Think-Tank-Experten muss die NATO eine Zukunft planen, in der Weißrussland weitgehend, wenn nicht vollständig, von Russland kontrolliert wird, unabhängig vom Ausgang des Kriegs in der Ukraine.
„Der Kreml beabsichtigt, die faktische Annexion Weißrusslands auch im günstigsten Szenario, in dem der Westen der Ukraine zum Sieg verhilft, voranzutreiben“, ist das ISW überzeugt und kommt zu dem Schluß: „Ein immer wahrscheinlicher werdender russischer Sieg in Weißrussland wird schwerwiegende Folgen für die Sicherheit der NATO haben.“