Brexit: Rettung oder Todesstoß für Wales und den britischen Stahl?

Brexit: Rettung oder Todesstoß für Wales und den britischen Stahl?
Von Euronews
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*Den britischen Stahl retten: Das haben bei einer Demonstration in London Hunderte Stahlarbeiter von der Regierung gefordert.

*Den britischen Stahl retten: Das haben bei einer Demonstration in London Hunderte Stahlarbeiter von der Regierung gefordert. Der Konzern Tata Steel hatte einen Monat zuvor angekündigt, alle seine Standorte in Großbritannien zu verkaufen oder zu schließen. Das bringt 15.000 Arbeitsplätze in Gefahr.*

Stirbt die britische Stahlindustrie?

Mark Turner von der Gewerkschaft Unite nimmt an den Protesten in der britischen Hauptstadt teil. Für ihn geht es um alles oder nichts: “Die Stahlindustrie in Großbritannien steht am Scheideweg. Es könnte sein, dass bei uns bald kein Stahl mehr hergestellt wird. Wir wollen das verhindern.” Der Stahlarbeiter Steve Davies fügt hinzu: “Wir haben lange um Hilfe gebeten. Wir sind aber damit auf taube Ohren gestoßen. Sie haben uns Versprechungen gemacht, aber die haben sich nicht erfüllt. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln.”

» Tata retaining control of Port Talbot steel plant 'would be welcome', say campaigners: If Tata… https://t.co/AXNE1OXY8J#thisiswales

— this is Wales (@thisiswales) 4 juin 2016

Mitglied der Europäischen Union zu sein, oder nicht, wird das einen Einfluss auf das Schicksal der britischen Stahlarbeiter haben? Euronews-Journalistin Valérie Gauriat hat in Port Talbot, der Hochburg der Stahlarbeiter im Süden von Wales, nachgefragt. Von dem örtlichen Stahlunternehmen hängen Tausende Jobs in der ganzen Region ab.

Wir treffen erneut auf Steve, den wir zuletzt bei der Demo in London gesehen haben. Er hat vor 37 Jahren als Lehrling in dem Konzern angefangen. Seine Eltern waren Angestellte der Firma und heute arbeitet sein Sohn dort.

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Für Steve steht die Zukunft der gesamten Region auf dem Spiel: “Viele Menschen arbeiten seit vier, fünf oder sechs Generationen in diesem Unternehmen. Ohne die Port Talbot Stahlwerke gibt es kein Port Talbot. Es wird eine katastrophale Kettenreaktion geben. Firmen werden pleite gehen. Es sind nicht nur die Stahlwerke, sondern auch die Lastwagen für den Transport, die Tante-Emma-Läden, die Zeitungsverkäufer und die Friseure. Es geht nicht nur um die Stahlwerke, man muss sich das Gesamtbild anschauen. Sie alle müssen gerettet werden. Wir müssen in der EU bleiben. Wir sind auf der Suche nach interessierten Käufern. Und für sie ist es sehr wichtig zu wissen, dass wir auch einen Fuß in Europa haben.”

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Was für eine Zukunft für Wales?

Die Kohleförderung in Wales ist Geschichte, der Niedergang des Bergbaus begann in der 1980er Jahren. Und Anfang dieses Jahrhunderts mussten schon mehrere Stahlwerke schließen. Wales wird mit mehreren europäischen Strukturfonds gefördert und unterstützt. Viele sorgen sich trotz dieser Hilfen um die wirtschaftliche Zukunft der Region. Und der Regierung in London misstrauen sie. Sie fühlen sich von den Politikern im Stich gelassen.

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Die pro-Brexit-Aktivisten haben uns versichert, dass 70 Prozent der Lokalbevölkerung für den Austritt aus der EU stimmen wird. Valérie Gauriat hat sich in einem Café, in das viele Stahlarbeiter gehen, mal umgehört. Nur wenige sind bereit, sich vor der Kamera zu äußern. Im Gespräch erfahren wir, dass die Meinungen auseinandergehen.

Die Befürworter des Brexits sind gegen die EU, aber auch gegen die britische Regierung. Der Autowerkstattbesitzer Paul David Smith klagt: “Die Regierung macht nichts für uns. Sie ist immer gegen uns. Deswegen müssen wir jetzt aufstehen und sagen, dass es reicht. Genug ist genug. Lasst uns für den EU-Austritt stimmen, dann stehen wir auf eigenen Beinen. Wir müssen uns genau anschauen, wo das Geld in Großbritannien hingeht. Wir können Geld sparen, wenn wir es nicht mehr der Europäischen Union geben. Wir müssen Großbritannien wieder auf die richtige Bahn bringen und auf eigenen Beinen stehen.”

Tata, der zweitgrößte Stahl-Konzern Europas, exportiert 40 Prozent seiner Produktion. Dem Wirtschaftsprofessor David Blackaby zufolge wäre der Brexit nicht das Ende der Stahlindustrie, aber es wäre problematisch für den Absatz: “Es wird immer eine Stahlindustrie in Großbritannien geben, unabhängig davon, ob wir in der EU bleiben oder nicht. Die Frage ist, ob die Wirtschaft stärker wachsen wird. In diesem Fall hätten wir in der EU die besseren Karten. Viele Firmen, viele multinationale Konzerne kommen wegen der EU in diesen Teil der Welt. Wenn wir austreten, besteht das Risiko, das die Investitionen in Wales zurückgehen, seien es die Investitionen in die Stahlindustrie, in die Automobilindustrie oder in andere Bereiche.”

Ist der Brexit die Lösung?

Im Zentrum der Stadt treffen wir uns mit pro-Brexit-Aktivisten. Wettbewerbsregeln, Staatshilfen, öffentliche Ausschreibungen oder fehlende Maßnahmen gegen Preisdumping: Für sie ist der Fall klar, die Mitgliedschaft in der EU zieht die Stahlindustrie noch weiter nach unten.

Llyr Powell ist Mitglied der EU-skeptischen Partei UKIP. Er erzählt: “Nicht weit von hier bauen sie einen neuen Windpark mit chinesischem Stahl. Der Auftrag war öffentlich ausgeschrieben. Wir konnten nicht verlangen, dass sie den Stahl, der hier in Port Talbot, also gleich nebenan, hergestellt wird, verwenden. Und dann wäre da noch die Unternehmenssteuer. Wir können sie wegen des europäischen Gesetzes für Staatshilfen nicht senken. Denn wir dürfen unsere Stahlwerke nicht bevorzugen. Wenn wir aus der Europäischen Union austreten, könnten wir die Unternehmenssteuer senken und wir könnten unseren eigenen Stahl bei Bauvorhaben verwenden, sei es für die Bahn, für Windparks oder in Bergwerken. Wenn wir die EU verlassen, gibt es viele Vorteile, um unsere Stahlwerke zu retten.”

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Morgan Brobyn macht ebenfalls für den Brexit Kampagne. Er sagt: “Das größte Problem sind die EU-Regulierungen für die Firmen. Insbesondere die Energie-Regulierungen haben allen energieintensiven Industrien sehr geschadet. Hinzu kommt, dass wir ohne das Einverständnis der EU keine Maßnahmen gegen Preisdumping ergreifen können, da dies eine Exlusivkompetenz der EU ist. Außerhalb der EU könnten wir uns wieder nach den Regeln der Welthandelsorganisation richten, das würde es uns erlauben höhere Zölle durchzusetzen. Die USA haben das bereits gemacht, um ihre Industrie zu schützen.”

Boris Johnson, der frühere Bürgermeister von London, rät den Stahlarbeitern für den Brexit zu stimmen.

Steelworkers should vote for Brexit. Mad that we can't cut steel energy costs because of EU rules (1/2) #VoteLeave#InOrOut

— Boris Johnson (@BorisJohnson) 3. Juni 2016

Oder doch lieber in der EU bleiben?

Die USA belegen Stahlimporte aus China mit einem Strafzoll von mehr als 200 Prozent. In der Europäischen Union beträgt er lediglich 20 Prozent. Brüssel will diesen Zoll anheben. Doch vor allem die britische konservative Regierung stellt sich dagegen, betont Stephen Kinnock. Diesem Labour-Abgeordneten zufolge käme der Stahlindustrie ein Austritt aus der EU teuer zu stehen. Denn sie exportiert rund die Hälfte ihrer Produktion zollfrei in die EU.

“Wenn wir die Europäische Union verlassen, müssen wir die Handelsbeziehungen neu verhandeln. Bleiben wir im gemeinsamen Markt, oder nicht? Und wenn nicht, was für Zölle müssen wir dann bezahlen? Was für Gebühren müssen wir dann für Stahl bezahlen? Was für Abgaben müssen wir dann z.B. für jedes Auto, das wir exportieren, zahlen? Ein Großteil des Stahles, das die Werke in Port Talbot herstellen, geht an die Automobilindustrie. In diesem Sektor haben die Werke die meisten Kunden. Angesichts der heutigen Situation wäre es ein schwerer Schlag für die Stahlindustrie,” so Stephen Kinnock.

As MP for Port Talbot, I believe Brexit would be disastrous for British steel | Stephen Kinnock https://t.co/UrqDgRNSHz

— Therese (@TiggerTherese) 1. Juni 2016

Scott Bamsey ist der jüngste Gewerkschaftler im Stahlwerk von Port Talbot. Seine Familie arbeitet seit Generationen in der Stahlindustrie. Zur Europäischen Union haben sie gemischte Gefühle, aber ein Brexit kommt für sie nicht in Frage. Scott hält es für zu riskant: “Wenn wir raus aus Europa sind, dann haben wir in Europa nichts mehr zu sagen. Wir müssen in der EU bleiben und gegen Chinas Preisdumping kämpfen.” Peter Bamsey meint: “Wir müssen im europäischen Markt bleiben. Wir werden nicht anfangen zu versuchen, neue kleine Marktanteile in Asien, in den USA und in Kanada zu bekommen.”

Scott sagt zum Abschluss: “Europa zu verlassen, wäre ein Sprung ins Unbekannte. Es ist sicherer, dort zu bleiben, wo wir sind. Wir müssten neue Handelsabkommen finden und das würde eine bereits schwierige Situation noch weiter verschlechtern. In Europa zu bleiben, ist für uns und die Stahlindustrie die bessere Lösung.”

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