"Insight": Die Türkei vor dem Verfassungsreferendum

"Insight": Die Türkei vor dem Verfassungsreferendum
Von Euronews
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Am 16.

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Am 16. April stimmt die Türkei über eine neue Verfassung ab. Sie würde dem Präsidenten einen deutlichen Machtzuwachs bringen. Fast 55 Millionen Bürger können darüber entscheiden. Der Wahlkampf sorgte zwischen einige Verstimmung zwischen Ankara und der europäischen Union.

Vor allem mit den Niederlanden und Deutschland gab es zeitweise schwere diplomatische Krisen. Anfang März untersagten die Niederlande eine Kundgebung des türkischen Außenministers in Rotterdam. Die Regierung machte Sicherheitsbedenken geltend.

Kurz danach hielten Sicherheitskräfte die türkische Familienministerin auf und verhinderten ihren Besuch in den Niederlanden. Sie eskortierten sie zurück zur deutschen Grenze. Erdogan sprach daraufhin von einem Verhalten aus der Zeit des Dritten Reiches. “Das sind Nazi-Methoden, und zwar gegenüber unseren türkischen Brüdern und Schwestern, die jetzt in Deutschland leben.”

In Brüssel war damit für viele Politiker und Diplomaten eine rote Linie überschritten. “Ich fand es skandalös, was in der Türkei über die Niederlande oder Deutschland gesagt wurde”, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. “Ich werde solche Vergleiche zwischen den Nazis und aktuellen Regierungen niemals akzeptieren.”

Kritiker befürchten durch eine Verfassungsänderung eine Diktatur in der Türkei. Wir haben mit Marc Pierini vom Brüsseler Thinktank Carnegie Europe über die möglichen Konsequenzen des Referendums gesprochen.

Grégoire Lory, euronews
“Wie beurteilen Sie die aktuellen Spannungen zwischen der europäischen Union und der Türkei? “

Marc Pierini, Carnegie Europe:
“Es ist eine Brücke, die zerstört wurde, und zwar auf einer persönlichen Ebene zwischen dem türkischen Präsidenten und seinen Amtskollegen in der EU. Ich glaube nicht, dass es Schäden auf wirtschaftlicher, finanzieller, technologischer oder kultureller Ebene gibt, es sei denn, die Türkei entscheidet sich dazu, alle Verbindungen nach Europa abzureißen. Das wird Ankara aber nicht tun. Die Türkei ist sich im klaren, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit weitergehen muss. Dies ist vielleicht der Punkt, an dem das Projekt der Anlehnung der Türkei an europäische Werte für die türkische Regierung überprüft wird. Es macht eigentlich keinen Sinn mehr.”

Grégoire Lory:
“Was wird passieren, wenn Präsident Erdogan das Referendum gewinnt? “

Marc Pierini:
“Es gibt keine unmittelbaren Konsequenzen. Der Präsident ist 2014 gewählt worden und bleibt bis 2019 im Amt. Das Parlament wurde Ende 2015 gewählt und die AKP hat dort eine Mehrheit und wird sie auch behalten. Aus dieser Perspektive ist es also gleichgültig, wie das Referendum ausgeht. Wenn das Volk mit “Ja” stimmt, dann kommen wir von einem de facto autoritären System zu einem offiziell autoritären System mit einem Präsidenten, der absolute Macht hat und keinen echten Gegenspieler. Ein “Nein” wäre eine politische Niederlage für Erdogan. Aber an der Machtsituation würde sich nichts ändern, vor allem, wenn man die Möglichkeit des permanenten Ausnahmezustands in Rechnung stellt.”

Grégoire Lory:
“Welche Konsequenzen gibt es für die Europäische Union nach dem Referendum?”
Marc Pierini:
“Die Herausforderung für die EU ist vor allem – vor und nach dem Referendum – dass sie mit einer destabilisierten Türkei umgehen muss. Das Land ist durch den fehlgeschlagenen Putsch in einer schwierigen Lage. Die Säuberungsaktionen danach waren so außerordentlich umfangreich und wir befinden uns da schon längst nicht mehr in europäischen Standards. Wenn das “Ja”-Lager gewinnt, wird sich diese Entwicklung ja noch verstärken. Ich erwarte, dass die Beziehungen einen Schritt zurück machen werden und wir bei einer modernen Fassung der alten Zollunion landen, dann vielleicht bei einer Anti-Terror-Zusammenarbeit und Kooperation beim Thema Syrien und beim Flüchtlingsabkommen, solche Dinge.”

Grégoire Lory: “Was wird aus dem türkischen Wunsch nach einem EU-Beitritt nach dem Referendum werden?” Marc Pierini:“Mit den ausgedehnten Säuberungsaktionen nach dem fehlgeschlagenen Putsch ist der Rechtsstaat in einer Art und Weise in sich zusammengebrochen, dass die politischen Voraussetzungen für einen Beitritt nicht mmehr gegeben sind. Der Kandidat Türkei steht also derzeit im politischen Abseits und wenn nach dem Referendum ein autokratisches System ohne Gewaltenteilung eingeführt wird, ist die Sache entgültig erledigt. Es ist unstreitig, dass sich die politischen Standards in Europa mit Erdogans Machtverständnis nicht vertragen. Das sagt er selbst auch jeden Tag. Deshalb ist der Beitrittsprozess tot oder wir halten ihn vielleicht pro forma aufrecht in der Hoffnung auf bessere Zeiten. “

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