Wollsocken und Rosenkranzsonaten

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Von Hans von der Brelie
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Die Barock-Virtuosin Nadja Zwiener spielt für euronews.

Covid-19 öffnet Türen, die ansonsten vermutlich verschlossen geblieben wären. Wer in der internationalen Musikszene den Ton angibt, als Star-Tenor, angesagter Dirigent, Weltklassepianist oder Solo-Geigerin, nun, der möchte nach Auftritt, Rampenlicht und tosendem Applaus abends halt auch einmal seine Ruhe haben, verständlicherweise, auch vor Journalisten und Kamerateams.

Nadja Zwiener ist Spitzengeigerin bei "The English Concert", einem Londoner Ensemble, das Standards setzt für die historische Aufführungspraxis. Für Euronews hat sie die Türen ihres Leipziger Zuhauses geöffnet und unser Kameramann Fabian Welther durfte Zwiener beim Üben aus nächster Nähe beobachten.

"Normalerweise" wäre Nadja Zwiener in diesem Frühling unterwegs gewesen, ihr Kalender ist oft eng getaktet, ihr Können gefragt, in Deutschland, Europa, Übersee - weltweit. Es schmerzt schon, wenn man den Termin in der Carnegie Hall in New York ersatzlos streichen muss. Doch da geht es Zwiener wie tausenden ihrer Kollegen. Covid-19 hat ein unbarmherziges Licht auf die sehr unterschiedliche Situation freischaffender Künstler geworfen. Je nach Wohnort, Staatsangehörigkeit, Vertragsgestaltung macht sich der Totalausfall von Konzerten auf dem Konto der Künstler mal weniger, meist stärker bemerkbar. Nicht alle Veranstalter zahlen Ausfallhonorare, staatliche Hilfsangebote für freischaffende Künstler sind in den EU-Mitgliedstaaten gelegentlich großzügig, häufiger unzureichend oder - wie im Falle Deutschlands - im Kompetenzchaos zwischen Bund und Ländern einfach nur stümperhaft konzipiert (siehe hierzu auch das Euronews-Interview mit Nadja Zwiener).

Schmerzhafte Entscheidungen

In unserer jüngsten Ausgabe von "Unreported Europe: Covid-19 macht den freischaffenden Künstlern das Leben schwer" beleuchten wir zwei Länder genauer, Deutschland und Ungarn. Wie so oft müssen dabei im Schneideraum der Sendezentrale schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden: Was machen wir mit dem ungarischen Akkordeonvirtuosen? Wohin mit der zeitgenössischen Tanzvorführung aus Budapest? Bekommt Willy, der coole Frankfurter am E-Bass, zwei oder drei Minuten? Sollen wir den Manager eines der grössten europäischen Musikfestivals in einer Minute abhandeln oder ist doch mehr Zeit drin? Der Nürnberger Kinderliedkomponist, das ist klar, funktioniert im Gesamtrhythmus der üblichen Acht-Minuten-Reportage nur, wenn er mit knapp drei Minuten als Schlusskapitel eingebaut wird. Eine Reportage, die - ganz bewusst - Rocker, Alte Musiker, Musikmanager und einen Kinderliedermacher Seite an Seite stellen will, eine Reportage, die zeigen will, dass in dieser Krise E- und U-Musik gewissermassen im gleichen Boot auf stürmischer See unterwegs sind, eine Reportage, die im Gesamtkonzept eines Nachrichtensenders nicht länger sein darf als acht Minuten, nun, für eine solche Reportage ist es eine nicht ganz einfach zu lösende Herausforderung, mit klassischer Musik zu operieren. Spannung wird hier üblicherweise nicht wie in der Popmusik über einige wenige Sekunden aufgebaut, sondern über längere Zeiträume...

Ein echtes Dilemma, wenn einem eine Spitzengeigerin auf dem Gebiet der Alten Musik - Nadja Zwiener - ein Geschenk macht, das nicht alltäglich ist, die Passacaglia, letztes Stück der Rosenkranzsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber, vermutlich um 1676 vollendet, dann verschollen - und erst 1905 wiederentdeckt und veröffentlicht. Eine Perle der Musikgeschichte, ein Diamant des virtuosen Spiels auf der Barockgeige, ein Rubin warm leuchtender Ausdruckskraft - ach, was sollen all' die Wörter, hören Sie sich einfach an, wie Zwiener mit diesen Takten arbeitet, sie aufblühen lässt an einem dieser sonnendurchfluteten Covid-19-Frühlingstage bei sich zu Hause im Arbeitszimmer, auf dicken Wollsocken wippend, sich wiegend, streckend, mit dem ganzen Körper an diesem Meisterwerk barocker Tonkunst arbeitend.

Virtuose Musik mit Lächeln (und einer Tecchler anno 1723)

Da im Rahmen eines Acht-Minuten-Formates Zwieners Kunst noch nicht einmal ansatzweise vermittelt werden kann, haben wir beschlossen, dem allzu kurzen 15-Sekunden-Ausschnitt in der Reportage, hier diesen etwas längeren "Bonus" an die Seite zu stellen, ganz ohne Kommentar, einfach nur: Zwiener und Heinrich Ignaz Franz Biber. - Reporter sind ja nicht unbedingt ausgewiesene Musikkritiker, und doch entsteht hier auf einmal Verstehen für den sprachlichen Ausdruck, die Musik atmen, die Melodie erblühen lassen. Ohne Worte.

Auch Menschen im Rampenlicht sind eben das, Menschen aus Fleisch und Blut. Menschen mit Alltagssorgen, Menschen, die Kinder zu ernähren und zu erziehen haben, Menschen, die sich darum sorgen, dass das Mittagessen rechtzeitig auf dem Tisch steht, die üben müssen und üben müssen und dann noch mehr üben müssen, auch wenn die Kinder Aufmerksamkeit einfordern, etwas zeigen, gelobt werden wollen. So auch in Leipzig, in der Wohnung von Nadja Zwiener und ihrer Familie. Und doch, in diesem Alltag atmet Luft, Ruhe, Gelassenheit - trotz Covid-19-Sorgen. Ist es das, das Geheimnis der Barockmusik, diese Gabe, auch in schweren und schwierigen Zeiten immer ein Lächeln zu bewahren, den Glauben daran, dass sich eines Tages alles zum Besseren wenden wird, die Fähigkeit zu hoffen, getragen von der Harmonik der "Alten Musik"?

Das Instrument, wir wissen, es ist ein Kleinod. Eine David Tecchler aus dem Jahr 1723. Nadja Zwiener und "The English Concert" spielen auf alten Instrumenten, auf Darmsaiten. Der so erzeugte Ton ist nicht vergleichbar mit dem Ton "moderner" Instrumente, er wirkt gewissermaßen "ehrlicher", näher, unmittelbarer. Als Euronews-Team möchten wir uns nach Leipzig bedanken, dass wir während des Übens "mit Kamera zuhören" durften. Wir wissen, das ist keine Selbstverständlichkeit. Dankeschön.

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