Corona-Lockdown treibt Sexarbeiterinnen in die Illegalität - oder in die Armut

Corona-Lockdown treibt Sexarbeiterinnen in die Illegalität - oder in die Armut
Copyright © Valérie Gauriat, euronews
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Von Valérie GauriatSabine Sans
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Das berühmte Amsterdamer Rotlichtviertel ist gähnend leer. Prostituierte kämpfen ums Überleben.

"De Wallen" nennen die Niederländer das Rotlichtviertel mitten in ihrer Hauptstadt, es ist nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. "De Wallen" ist nicht nur das älteste, sondern das bei Touristen angesagteste Viertel Amsterdams. Rechts und links der Grachten liegen die Backsteinhäuser mit den berühmten Schaufenstern: Darin sitzen rund um die Uhr Prostituierte und warten auf Kundschaft. Der Coronavirus-Lockdown hat die Sexarbeiterinnen schwer getroffen. Nach eigener Aussage haben sie nur zwei Möglichkeiten: illegale Prostitution oder Armut. Das ist unser Thema in dieser Unreported-Europe-Folge.

Gähnende Leere in Amsterdams Rotlichtviertel

In den Frühsommerwochen nimmt das Leben in den Straßen Amsterdams langsam wieder seinen Lauf. Aber nicht überall: Die berühmtesten Nachtlokale der Stadt sind menschenleer; nur noch wenige Neonröhren leuchten in den Gassen. Erstmals seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Prostitution in den Niederlanden wieder in die Kriminalität gedrängt.

"Ich bin mitten im Amsterdamer Rotlichtviertel, an einem Samstagabend", so euronews-Reporterin Valérie Gauriat. "Normalerweise könnte man sich kaum einen Weg durch die Touristenmenge bahnen."

Aber es herrscht gähnende Leere, für die Sexarbeiterinnen gilt immer noch der Coronavirus-Lockdown. Wenn sie sich nicht daran halten, riskieren sie hohe Geldstrafen und eine Vorstrafe.

Das Verbot gefährde ihr Leben, sagen sie. Die euronews-Reporterin trifft Stella während einer Demonstration vor dem Rathaus: "Ich bin hier, damit das Rotlicht wieder angeht. Ich will arbeiten, und ich will es legal und sicher tun", sagt Stella. "Sexarbeiterinnen sind auch wichtig. Wir sind auch Menschen - wie sie auch."

Ich will arbeiten, und ich will es legal und sicher tun. Sexarbeiterinnen sind auch wichtig. Wir sind auch Menschen."
Stella
Sexarbeiterin

Stella arbeitet in einem von Amsterdams berühmten Fensterbordellen. Sie zeigt der euronews-Reporterin ihren Arbeitsplatz. Sie gehört zu der Minderheit von Sexarbeiterinnen, die bei der niederländischen Handelskammer als selbständig Erwerbstätige registriert sind und erhält eine monatliche Coronavirus-Sperrpauschale von etwa 1000 Euro. Das reiche nicht aus, um ihre Ausgaben zu decken, erzählt sie, da Vermieter Sexarbeiterinnen oft höhere Mieten berechnen:

"Meine Miete beträgt 1500 Euro, für eine kleine Einzimmerwohnung! Aufgrund der aktuellen Situation teile ich meine Wohnung mit jemand anderem, um die Miete bezahlen und überleben zu können, ohne etwas Schlechtes zu tun", erzählt Stella. "Die Regierung übersieht die wichtige Tatsache, dass geschlossene Schaufenster viel mehr Frauen in die Illegalität drängt. Wenn die Schaufenster zu bleiben, werde ich wahrscheinlich einen Weg finden, auch illegal zu arbeiten. Ich will es nicht, aber man zwingt mich dazu!"

Ein Passant spricht Stella an und will wissen, ob sie trotz der Sperre arbeitet. Der regelmäßige Kunde von Fensterbordellen machte kürzlich schlechte Erfahrungen mit einer illegal arbeitenden Prostituierten in einem Hotel:

"Als ich in das Zimmer kam, nahm sie das Geld, und sagte dann, sie müsse einen Anruf entgegennehmen. Sie ging aus dem Zimmer und weg war sie. Bei Frauen aus den Schaufenstern gibt es diesen Alarmknopf, den man drücken kann, wenn es Probleme gibt. Man weiß also, dass alles in Ordnung und sicher ist. Und es gibt gewisse Hygienevorschriften, die man einhalten muss. Man wird aus dem Zimmer geworfen, wenn man kein Kondom benutzt."

Sexarbeit: eine legale Branche in den Niederlanden

In den Niederlanden ist Sexarbeit legal, die Branche gehört zu den am besten organisierten und regulierten in Europa. Sie trägt offiziell zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei und ist zudem hoch besteuert. Aber die Kriterien für Sexarbeiterinnen und Bordellbetreiberinnen, um staatliche Beihilfen im Rahmen der Coronavirus-Sperre zu erhalten, erweisen sich als sehr einschränkend.

Bordellbetreiber im Rotlichtviertel haben ihre Fenster mit Protestplakaten beklebt. Jon Broers ist seit einem halben Jahrhundert im Geschäft. Er ist stolz auf die Räume, die er seinen regulären Sexarbeiterinnen für ihre Schichten vermietet. Er vermietet ihnen auch Unterkünfte in anderen Häusern, die er besitzt. Die meisten Frauen kommen aus Osteuropa und haben das Land verlassen. Und Jan Broers hat keine Einnahmen mehr:

"Bei einem erneuten Ausbruch kann es sein, dass wir länger geschlossen bleiben", so der Bordellbetreiber. "Die momentane Sperre ist eine Maßnahme der Regierung, um uns länger geschlossen zu halten. Denn jetzt wollen sie die Prostitution loswerden! Sie wollen uns loswerden. Sie denken, dass man pleite geht und dann kann man uns leicht vertreiben!"

Der Lockdown hat viele Sexarbeiterinnen in die Armut gestürzt. Viele haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung; Aber auch diejenigen, denen der Staat hilft, können ihre Kosten nicht mehr decken. Scarlett Cord ist eine der Wohltätigkeitsorganisationen, die sie jetzt wöchentlich mit Waren des Grundbedarfs und mit Lebensmittelgutscheinen versorgt. Samantha arbeitet seit 20 Jahren im Rotlichtviertel. Es ärgert sie, dass alle Kontaktberufe, Friseur- oder Massagesalons, erlaubt sind, aber nicht ihrer:

"Ich weiß, dass Amsterdam ein sehr schöner Ort ist, wir sind eine Touristenattraktion, sie kommen, um uns zu sehen. Das muss man doch zugeben. Es scheint uns nicht fair zu sein, dass jeder bereits arbeitet und jeder sein Geld verdient, nur wir nicht", meint Samantha. "Ich habe gerade von Freundinnen erfahren, die in Hotels arbeiten, dass es jetzt Frauen gibt, die für eine Woche, zwei Wochen hierherkommen und dann wieder gehen. Wir zahlen hier eine Menge Steuern! Und andere kommen, um einfach und leicht Geld zu verdienen! Wir fordern, dass man uns jetzt arbeiten lässt!

Sexarbeit mit sozialer Note

Irina arbeitet einmal pro Woche auf einem der belebten Marktplätze Amsterdams. Ihr Bäckerei-Stand ist beliebt bei Kunden. Nur ihre Kollegen wissen, womit sie ihren Lebensunterhalt die übrige Zeit verdient. Erstmals hat sie sich bereit erklärt, vor der Kamera darüber zu sprechen. Auf diese Weise will sie die Stigmatisierung bekämpfen.

Sie lässt die euronews-Reporterin in ihr geheimes Leben. Irina ist eine Sexarbeiterin mit einer sozialen Ader. Während des gesamten Lockdowns bleibt sie mit ihren Stammkunden in Kontakt: für sicheren Online-Sex im Internet, aber auch für tröstende Sitzungen.

Einer ihrer Kunden erzählt im Online-chat mit Irina: "Ich bin froh, dass ich ab und zu mit Dir plaudern kann. Du bist mein einziger Kontakt, die einzige, die ich anrufen kann. Mit Dir kann ich mich gut unterhalten. Das hilft mir. Du kannst gut zuhören. Bei uns ist es nicht nur hup hup hup, man macht es und tschüss."

Das Verbot der Sexarbeit ergebe keinen Sinn und sei nicht durchzuhalten, meint Irina: "Wir bieten eine Dienstleistung an, die von einem großen Teil der männlichen Bevölkerung der Niederlande in Anspruch genommen wird. Und wie Sie bei einem meiner Kunden gesehen haben, hat er den Kontakt zu mir wirklich nötig, und er schätzt ihn. Es geht nicht nur um Sex, es geht um viel mehr! Also, ja, wir sind ein wichtiger Teil der Gesellschaft! Nehmen Sie uns ernst! Tun Sie etwas, und helfen Sie uns!"

Ein Appell, der endlich gehört wurde: Als die euronews-Reportage auf Sendung ging, beschloss die niederländische Regierung, das Verbot der Sexarbeit ab dem 1. Juli aufzuheben.

Journalist • Valérie Gauriat

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