Die Woche in Europa - Bidens Sinn für Dramatik in Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Joe Biden in Kiew, 20. Februar 2023.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Joe Biden in Kiew, 20. Februar 2023. Copyright AP/Ukrainian Presidential Press Office
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Von Stefan Grobe
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Der US-Präsident reist unter strengster Geheimhaltung nach Kiew, um die ukrainische Moral zu stützen. Für Putin ist das Land nur eine Geisel Washingtons.

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Seit Abraham Lincoln Bürgerkriegsschlachten in Nord-Virginia beobachtete, hat sich kein US-Präsident in aktive Kriegszonen begeben, die nicht unter amerikanischer Kontrolle waren.

Bis diese Woche.

Die Welt registrierte mit großer Verblüffung, als Joe Biden heimlich in die belagerte ukrainische Hauptstadt reiste, entschlossen die amerikanische Unterstützung zu demonstrieren und die Moral der kriegsmüden ukrainischen Verteidiger zu stärken.

In Kiew zeigte sich Biden auf öffentlichen Plätzen, scheinbar unbeeindruckt von Sirenen, die vor Luftangriffen warnten.

Doch die Reise war auch eine direkte Herausforderung von Russlands Präsident Wladimir Putin, dessen engste Berater Berichten zufolge sehr wütend af Biden waren.

Biden: „Russlands Ziel war es, die Ukraine von der Landkarte zu tilgen. Putins Eroberungskrieg schlägt fehl. Russlands Militär hat die Hälfte seines einst besetzten Territoriums verloren. Junge, talentierte Russen fliehen zu Zehntausenden, weil sie nicht in ihre Heimat zurück wollen."

Bidens Reise in die Ukraine und dann nach Polen war jedoch Teil scharf gegensätzlicher Interpretationen.

Während der US-Präsident Putin die alleinige Verantwortung für den Krieg gab, erwiderte Putin, Russland sei zur Selbstverteidigung in die Ukraine einmarschiert.

In seiner Rede zur Lage der Nation wiederholte der Kreml-Chef, dass Kiew und seine westlichen Verbündeten an dem Konflikt schuld seien: „Wir kämpfen nicht gegen das ukrainische Volk, das habe ich schon oft gesagt. Das ukrainische Volk ist zur Geisel des Kiewer Regimes und seiner westlichen Oberherren geworden, die dieses Land im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Sinne im Griff haben."

Putin ließ keinen Zweifel daran, dass der Krieg so schnell nicht enden würde.

Stattdessen versprach er, weiterhin moderne Ausrüstung für das russische Militär zu beschaffen und gleichzeitig die nukleare Aufrüstung des Landes fortzusetzen und sich vom letzten verbleibenden Atomwaffenkontrollvertrag mit den USA Staaten zu lösen.

Sind diese Handlungen eines selbstbewussten Staatsmanns? Vielleicht nicht. Auf dem Schlachtfeld ist zu viel passiert, was Moskaus Fähigkeit, einen Krieg des 21. Jahrhunderts zu führen, ernsthaft in Frage stellt.

Dazu ein Interview mit Dara Massicot, leitende Politikforscherin bei der RAND Corporation in Washington und Autorin des Essays "Was Russland falsch macht" in der März-Ausgabe von Foreign Affairs.

Euronews: Zu Beginn des Krieges vor einem Jahr prognostizierten viele Experten einen russischen Feldzug in der Ukraine, der eher in Wochen als in Monaten beendet sein würde. Gehörten Sie auch zu dieser Expertengruppe?

Massicot: Ich habe darüber nicht in Zeitrahmen gedacht, aber vermutete auf jeden Fall, dass die Russen ihre Invasion mit einer Reihe verheerender Luft- und Raketenangriffe führen würden, was sich bestätigt hat. Aber zu sehen, wo sie zwölf Monate später stehen, war meiner Meinung nach für viele Experten überraschend. Und dafür gibt es viele Gründe. Viele wurden erst nach Kriegsbeginn bekannt. Einiges aber hängt jedoch mit Problemen innerhalb des russischen Militärs selbst zusammen.

Euronews: Lassen Sie mich da nachhaken. Sie schreiben in ihrem Essay, dass die russische Armee schon vor dem Krieg strukturelle Schwächen hatte, die ihre Fähigkeit einschränkte, einen Krieg des 21. Jahrhunderts zu führen. Was sind diese Probleme und warum tun sie nichts dagegen?

Massicot: Nun, vor 15 Jahren startete das russische Militär ein Reformprogramm und verkleinerte seine Armee, um weg vom sowjetischen Modell zu kommen. Der Grund war das damalige Denken, dass man keinen großangelegten langwierigen Landkrieg mehr führen müsse. Einen Landkrieg, wie wir ihn jetzt in der Ukraine sehen. Also wurden viele militärische Einheiten aufgelöst. Dazu kamen Rekrutierungsprobleme. Zudem wurde überhaupt nicht auf ihre Mobilisierungsfähigkeit geachtet. Und es oblag wirklich Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerasimov, diese Probleme vor dem Krieg dem Kreml mitzuteilen. Und es scheint, dass sie das nicht getan haben.

Euronews: In der Vergangenheit hat Russland immer wieder gezeigt, dass es bereit ist, enorme Verluste auf dem Schlachtfeld zu erleiden, um seine Ziele zu erreichen. Sehen Sie eine solche Strategie – wenn man das so nennen kann – auch in der Ukraine am Werk?

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Massicot: Darauf haben sie sich in der Tat verlagert. Vieles, was wir in dieser neuen Offensive sehen, ist grob, vielleicht ist rudimentär das richtige Wort. Es sind Wellen von Soldaten, einige gepanzerte Angriffe, Artillerieangriffe, 24 Stunden am Tag. Es ist sehr kostspielig für die Russen, sowohl in Bezug auf das Leben ihrer Soldaten als auch auf die Ausrüstung, die sie verlieren. Aber es belastet auch die ukrainischen Verteidiger.

Euronews: Wir haben diese Woche viel über die Kraft der Symbolik gesprochen, als Präsident Biden Kiew besuchte. Wie wichtig war Bidens Reise für die Moral des Landes?

Massicot: Ich denke, sie kam genau zum richtigen Zeitpunkt, zum ersten Jahrestag der Invasion. Viele Ukrainer haben viele Traumata erlitten, innerhalb des Militärs oder der Zivilbevölkerung. Präsident Biden dort zu haben, um physisch neben Präsident Selenskyj zu stehen, ist also ein großes Maß an Unterstützung. Nicht nur metaphorisch. Es geht nicht nur um die Bereitstellung von Waffen, sondern um den Beweis des Vertrauens und der Unterstützung, den die USA dem ukrainischen Volk entgegenbringen.

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