Es ist ein politisches Erdbeben in Berlin: Friedrich Merz (CDU) hat die Abstimmung im Parlament verloren. Die Stimmen fehlten aus der eigenen Koalition. Nun könnte die Rechnung teuer werden für Merz. Die SPD könnte für die Rettung von Merz im zweiten Wahlgang viel verlangen.
Hat Friedrich Merz sich etwa verrechnet? Ob im Parlament oder im Schloss Bellevue: Am Dienstag wurde in der Hauptstadt alles auf die Minute geplant, damit er Kanzler werden kann. Er selbst rechnete fest damit, heißt es aus seinen engsten Kreisen.
Doch damit lag er falsch. Der CDU-Vorsitzende verlor die Abstimmung. Für ihn stimmte keine Mehrheit im Parlament. 18 Abgeordnete aus der eigenen schwarz-roten Koalition nicht für ihn gestimmt haben. Ein Kanzler, der im ersten Wahlgang nicht gewählt wird - das gab es in der deutschen Geschichte noch nie.
Das wirft Fragen auf: Waren die Verweigerer aus der SPD? Oder war es teils sogar ein Prostest aus den eigenen Unions-Reihen? Die Wahl ist bekanntlich geheim.
Klar ist jedenfalls, viele in der SPD wollen Merz' konservativen Politikwechsel nicht. Und auch einige in der Union trauen Merz eine Politkwende mit einem roten Partner nicht zu. Innerhalb der CDU-Basis brodelt es schon seit Wochen. Wer hat also hier was zu verhindern versucht?
Eine Regierungskoalition ohne stabile Mehrheit
Seine Versprechen im Wahlkampf unter dem Motto "Politikwechsel" waren enorm. Deutschland steht innenpolitisch vor großen Herausforderungen. Der CDU-Chef kündigte deshalb eine 180-Grad-Wende in der Migrationspolitik, einen Wirtschaftsaufschwung, eine technologie-offene Energiepolitik sowie eine Neuausrichtung der Sozial- und Arbeitspolitik an.
Doch schon nach der Wahl folgte der erste Bruch: Merz einigte sich mit der SPD auf ein 1-Billion-Schuldenpaket. Das Einhalten der Schuldenbremse stand plötzlich nicht mehr auf Merz' Tagesordnung. Dafür stand nach dem Schulden-Deal rasch die schwarz-rote Koalition.
Weil Merz wegen der politischen "Brandmauer" mit der AfD nicht einmal bloße Gespräche nach den Neuwahlen suchte, hatte er von Beginn an gegen die SPD eine schwache Verhandlungsposition.
Für seine "Politikwechsel"-Versprechen wurde seine Partei gewählt. Im schlecht verhandelten Koalitionspapier: blieb wenig davon übrig.
Ausgerechnet der neue Partner stand seinem Politikwechsel im weg. Dann auch noch sein Bruch mit der Schuldenbremse,um den Koalitions-Deal mit der SPD fest zu ziehen. Gleich am Anfang also zu viele Abschwächungen und Kompromisse, um am Ende im Kanzleramt zu sitzen. Am Dienstag zeigte die verlorene Abstimmung: Merz hat sich deutlich verrechnet.
Seit Wochen ist aus bundesweiten CDU-Kreisen zu hören, dass einige wenige in der CDU-Basis sich nicht mehr sicher sind, ob Merz seine Versprechen einhält - ob er noch der richtige Unions-Kanzlerkandidat ist.
Die Abgeordneten im Parlament zeigen heute: Eine Mehrheit im Parlament will ihn nicht als Kanzler. Und das trifft offenbar auch auf Teile der Deutschen zu. Eine Mehrheit in der Bevölkerung lehnt ihn in einer ZDF-Umfrage als Kanzler ab - 56 Prozent. Die Bürger erwarten erkennbar mehr, als das was im von Merz bekanntlich schlecht verhandelten Koalitionsvertrag steht.
Was will die SPD dafür, Merz im zweiten Wahlgang zu retten?
Kann der CDU-Chef so überhaupt noch in das Kanzleramt stolpern? Das werden sich Politbeobachter im Land heute fragen.
Die Fraktionschefs von Union, SPD, Grünen und Die Linken verhandelten den gesamten Vormittag im Bundestag über den zweiten Wahlgang-Termin. Es bestand die Möglichkeit, dass noch Dienstag, Mittwoch oder erst Freitag die Abstimmung stattfindet. Den Dienstag als zweiter Wahlgang wollte die Union unbedingt. Denn die CDU glaubt, wenn sie heute - am gescheiterten Tag - Merz doch noch zum Kanzler wählen, wäre der Schaden begrenzt.
Am späten Mittag wurde klar: Der zweite Wahlgang findet tatsächlich noch heute statt. Dafür braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag - dafür braucht Merz entweder die AfD oder Die Linke. Weil die SPD nicht zusammen mit der AfD zustimmen wollte, ermöglicht der CDU-Chef mit den Linken seinen zweiten Wahlgang. Obwohl es in der CDU einen sogenannten Unvereinbarkeitsbeschluss mit den Linken gibt.
Wie Euronews im Bundestag raushört: Wenn die SPD beim zweiten Versuch für Merz stimmt, will sie wohl etwas dafür gerne haben. Immerhin werden die Sozialdemokraten dann seine politische Karriere mit diesen Stimmen retten. Was kann das bloß sein? Ein gemeinsam angestrebtes AfD-Verbot? Doch keine Migrationswende an den deutschen Grenzen?
Merz will es definitiv noch mal versuchen, heißt es seitens seiner Vertrauten. Doch selbst wenn er beim zweiten Versuch eine knappe Mehrheit vom Parlament erhält: Spätestens der heutige Tag gezeigt, dass diese neue Regierung keine stabile Mehrheit zum regieren hätte. Es ist eine zu scheitern drohende Regierung, bevor sie überhaupt ins Amt kommt.
Und das in Zeiten, in denen das Land vor großen Herausforderungen und Krisen steht. Ob Migrations-, Wirtschafts, Energiepolitik: Die Probleme können nicht mehr warten.