Die Gesetze der Reality-Shows

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Die zehn Menschen, die bei dem Hubschrauber-Unglück in Argentinien ums Leben kamen, waren auf dem Weg zu Dreharbeiten für die Reality-Show “Dropped”

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Die zehn Menschen, die bei dem Hubschrauber-Unglück in Argentinien ums Leben kamen, waren auf dem Weg zu Dreharbeiten für die Reality-Show “Dropped”. Bei dem Konzept, das aus Schweden stammt, geht es ums Überleben in der Wildnis. Zwei Teams werden in einsamen Landschaften ausgesetzt und müssen ihren Weg zurück in die Zivilisation finden.

Die Survival-Show sollte auf dem französischen Sender TF1 ausgestrahlt werden. Chef Nonce Paolini erklärte: “Das sind Umstände, mit denen man niemals gerechnet hätte. Das Schlimme ist: Wir wollten Freude bringen und es wurde ein Drama.”

Es ist nicht der erste Vorfall bei einer Reality Show des Senders. Bereits 2013 starb ein Kandidat bei den Dreharbeiten zu der Insel- und Dschungel-Show „Koh Lanta“. Der 25-Jährige hatte einen Herzinfarkt erlitten. Nur wenige Tage später nahm sich der zuständige Arzt das Leben, nachdem ihm die Medien Nachlässigkeit vorgeworfen hatten.

Seit den Anfängen von Reality-Shows hat sich einiges geändert. Alles begann 1999 in den Niederlanden mit Big Brother. Weltweit wurde das Erfolgskonzept vielfach übernommen. Mehrere Kandidaten leben drei Monate auf engstem Raum ohne Kontakt zur Außenwelt zusammen. Dabei werden sie 24 Stunden lang am Tag gefilmt. Jederzeit können sich die Zuschauer per Internet zuschalten und die Vorgänge im Haus beobachten. Das voyeuristische Konzept begeisterte die Massen. Es war die Erfolgsstunde für Reality-Shows.

Immer mehr Programme überschwemmen den Markt und die Risiken werden größer. Es geht nicht mehr nur darum, Leuten beim Alltag zuzusehen, die Zuschauer wollen sie dabei beobachten, wie sie an ihre Grenzen gehen, sich in Gefahr begeben und mit ihren Ängsten konfrontiert werden. Für die Teilnehmer ist es oft die einzige Chance, sich wieder in Gespräch zu bringen und auf den Bildschirm zurückzukehren.

euronews: Dominique Wolton, Sie sind der Leiter der Forschungsabteilung des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung. Sie sind ein Medien-Spezialist. Der Unfall hat auch mit einer Reality-Show zu tun. Es ist ein tragischer Unfall. Aber es ist nicht das erste Mal, dass bei so einer Art von Sendung, bei der das Risiko die Basis des Konzeptes ist, Menschen ums Leben gekommen sind. Was sagt uns das über den Zustand des Fernsehens heute?

Soziologe Dominique Wolton: “Es handelt sich hier um eine Tragödie, das ist klar. In unserer Gesellschaft ist neu, dass die Menschen als Zuschauer Gewalt, Gefahr und Abenteuer aus einer sicheren Entfernung erleben. Unsere Gesellschaft ist zum einen total besessen vom Prinzip der Vorsicht. Alles wird kontrolliert und vor dem Fernseher, oder vor der Spielkonsole, oder vor dem Computer, da können wir dann plötzlich alles machen. Alle denkbaren Ausschweifungen sind möglich. Wir leben eine Form des Voyeurismus, die Spiele werden immer gefährlicher und alle finden das ganz normal. Da es ja auch um viel Geld geht, geht man immer einen Schritt weiter. Es ist eine Art Rennen um Adrenalin im Gange. Und um die Spannung zu steigern, kommen nun Leute ins Spiel, die keine Anonymen sind, sondern bekannte Persönlichkeiten. Das ist ein befangenes Verhältnis zwischen ihnen und uns, zwischen dem Zuschauer und den Teilnehmern. Wir fragen uns, ob sie den Mut haben werden, wann sie aufgeben etc.”

euronews: In den 80er Jahren haben Sie gemeinsam mit Jean Louis Missika ein Buch darüber geschrieben, welche Macht das Fernsehen in unseren Gesellschaften ausübt und dass dies ein ideales Instrument der Realität sei. Das war vor der Erfindung von Reality-Shows. Was hat sich seitdem geändert?

Soziologe Dominique Wolton: “Es gibt ja nicht nur die Reality-Shows. Wir leben in einem Raum von konkurrierenden Bildern. Die Reality-Shows sind nicht mehr so vulgär wie früher, aber heute sind sie dramatischer, teurer, abenteuerlicher und risikobereiter. Etwas funktioniert hier nicht mehr. Wenn der Mensch diese Sendungen braucht, um sein Verhältnis zur Natur zu erleben, dann stimmt etwas nicht. Es gibt keine Grenzen mehr zwischen dem privaten und öffentlichen Leben. Das gefährliche Leben wird zum normalen Leben.”

euronews: Unter den Opfern dieses Unglücks waren bekannte Sportler, die theoretisch nichts mehr zu beweisen hatten. Muss die Fabrikation von Helden immer weiter getrieben werden?

Soziologe Dominique Wolton: “Das ist eine gute Frage. Menschen zu würdigen, die in der Lage sind, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, die gut zurechtkommen, egal, in welchem Metier, die Millionen von Menschen eine Lektion der Emanzipation erteilen, das finde ich großartig. Aber unter der Bedingung, dass alles in einem Rahmen bleibt, in den Grenzen eines Lebens, eines gewöhnlichen Lebens. Dass die Menschen sich in Gefahr begeben, ein Abenteuer erleben, warum nicht, aber es werden eben keine Grenzen gesetzt, Individuen in schwierige Situationen zu bringen. Nun sollte es entweder eine Selbstregulierung geben, oder eine Vorschrift, die sagt: Die Dinge können nur unter der Bedingung gemacht werden, dass sie nicht ein Risiko eines tödlichen Voyeurismus werden.”

euronews: Die Vermarktung durch die Medien stellt häufig die zweite Karriere für Sportler dar. Gibt es andere Alternativen?

Soziologe Dominique Wolton: “In unserer Gesellschaft erkennen wir zu unrecht nur die Menschen, die aus den Medien oder dem Internet bekannt sind. Nachdem die Karriere als Sportstar beendet ist, will man im Gespräch bleiben und kommt dann in diesen Kreislauf. Nach einer Weile entsteht da eine Diskrepanz, ein Bruch zwischen der Boulevardisierung und den Werten, die dem Sport oder der Politik zugrunde liegen. Ich verstehe, dass diese Menschen versuchen, zu überleben und eben in den Medien zu bleiben, aber nach einer Weile werden die Gesetze des Boulevards die Werte zerstören, auf denen die Menschen früher aufgebaut haben. Ich stehe einer grundlegenden Form des Boulevards nicht feindlich gegenüber, aber wenn dieser das einzige Wertesystem einer Gesellschaft ist, dann geht das nicht mehr.”

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