'Verängstigt und hilflos': 3 Schweizer Politikerinnen sprechen über Online-Mobbing

'Verängstigt und hilflos': 3 Schweizer Politikerinnen sprechen über Online-Mobbing
Copyright Bilder geliefert von Ada Marra, Jolanda Spiess-Hegglin und Amanda Gavilanes
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Von Cristina Abellan Matamoros
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Belästigungen im Parlament sind ein Problem, aber es ist der verbale Missbrauch, den sie online erfahren, der ihr Privatleben beeinträchtigt, wie drei Politikerinnen aus der Schweiz gegenüber Euronews erklärten.

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Belästigungen im Parlament sind ein Problem, aber es ist die verbale Gewalt, die sie online erfahren, die ihr Privatleben beeinträchtigt, berichten drei Politikerinnen aus der Schweiz gegenüber Euronews.

Eine Online-Kampagne 2016 ergab, dass zahlreiche Frauen im Schweizer Parlament täglich mit Sexismus und Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert sind. Aber im digitalen Zeitalter sind Schweizer Politikerinnen auch außerhalb des Büros Opfer von Cybermobbing und verbalem Missbrauch. Viele von ihnen sagen, dass sie unangemessene Kommentare über ihre Herkunft, ihre Meinungen und ihr Geschlecht in sozialen Netzwerken abbekommen. Meist geschieht das, nachdem sie sich zu einem bestimmten Thema geäußert haben.

"Die Leute dachten, ich lüge über die Vergewaltigung"

Jolanda Spiess-Hegglin, ehemalige Parlamentsabgeordnete des Kantons Zug bei Luzern, sagte, sie fühlte sich "hilflos", als sie von Cyberbullies ins Visier genommen wurde.

Im Dezember 2017 geriet die grüne Politikerin in einen Skandal, nachdem sie eine Vergewaltigungsklage gegen einen Schweizer Politiker eingereicht hatte.

"Die Leute dachten, ich lüge über die Vergewaltigungsvorwürfe, weil das Krankenhaus nicht beweisen konnte, dass Drogen gegen mich eingesetzt wurden. Es gab eine böse Hexenjagd in den Medien, und ich war das Opfer aller Schweizer Boulevardzeitungen", sagte sie gegenüber Euronews.

Auch heute - Monate nach dem Vorfall -  sagte die ehemalige Schweizer Politikerin, dass sie immer wieder boshafte Kommentare in den sozialen Netzwerken und per E-Mail erhält.

Und Spiess-Hegglin ist nicht allein. Zwei weitere Schweizer Politikerinnen sprachen mit Euronews darüber, wie sie aufgrund ihrer politischen Karriere verbalen Attacken ausgesetzt waren.

"Ich war empört und verängstigt"

Amanda Gavilanes, Stadträtin und stellvertretende Abgeordnete des Kantons Genf, hat schwere Zeiten durchgemacht. Sie wurde verbal attackiert.

"Das erste Mal, dass ich verbal angegriffen wurde, war nach einem Fernsehinterview 2013. Darin habe ich die militärkritische Lobby verteidigt, für die ich damals arbeitete. Ich erhielt einen Brief voller Fehler, in dem ich und meine Familie beleidigt wurden - und das war ziemlich schwer."

Quelle: Amanda Gavilanes
Amanda GavilanesQuelle: Amanda Gavilanes

Der Brief brachte Gavilanes völlig aus dem Gleichgewicht. Zwei Monate dauerte es, bis sie über die Angst und die Empörung, die sie empfand, hinweg kam.

"Meine Kollegen sagten mir, ich solle es ignorieren, und das habe ich dann auch getan. Die Situation war wirklich schwer zu ertragen."

Nachdem sie 2017 in einem Fernsehinterview das Tragen von Burkinis in öffentlichen Schwimmbädern verteidigte, kam es auf ihrer Facebook-Seite zu einer Flut von Online-Belästigungen. Man bezeichnete sie als "Hure" und "Schlampe".

Sie bedauere es heute, nicht sofort eine Beschwerde über Online-Belästigung eingereicht zu haben. Statt dessen hatte sie gewartet, bis es nur noch schwer erträglich für sie war, erklärte die Genfer Stadträtin.

"Ich beschwerte mich über etwas, das weniger brutal war als das, was ich zuvor erlebt hatte."

Letztlich brachte das ständige Mobbing sie dazu zu überdenken, ob sie weiterhin in der Politik arbeiten wollte.

"Das Schlimmste ist, dass die Leute immer deine Meinung in Frage stellen und dir sagen, dass du falsch liegst. Du erreichst einen Punkt, an dem du dich fragst, warum du in der Politik arbeitest, warum du die Gleichberechtigung von Männern und Frauen verteidigst, wenn Menschen sexistisch reagieren oder dich beleidigen."

Das politische System in der Schweiz sei ein Katalysator für Verbalattacken, weil es "das Fachwissen, das Frauen in einem extrem männlichen Umfeld in das politische System einbringen, disqualifiziert", so Gavilanes.

"Es gibt eine Form der Akzeptanz von Gewalt in der [Schweizer] Politik gibt - einen strukturellen Sexismus - so unterscheidet sich die verbale Belästigung gegenüber Politikerinnen von derjenigen, die männliche Politiker erleben", sagte die 35-Jährige über die Art und Weise, wie verbale Gewalt von Frauen in Schweizer Politikkreisen wahrgenommen wird.

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"Ich bedaure, dass ich durch verbale Gewalt mein Verhalten verändert habe"

Eine weitere Schweizer Politikerin, die sagte, dass Opfer von Verbalattacken wurde, ist Ada Marra. Sie habe das Gefühl, eine "freie Mitgliedschaft für Beleidigungen in sozialen Medien" zu haben.

Marra ist Schweizer Nationalrätin. Vor etwa einem Jahr, als Marra einen Beitrag über die Schweizer Identitätspolitik für den Nationalfeiertag der Schweiz schrieb, erlebte sie Angriffe der heftigsten Art.

"Die Idee einer einzigen Schweiz gibt es nicht. Nur die Menschen, die hier leben - mit unterschiedlichen Ideen und Meinungen sowie unterschiedlichen Prioritäten und Themen. [...] Meine Schweiz ist nicht deine und deine Schweiz ist nicht meine", schrieb sie.

Aber was sie nicht erwartete, war der Rückschlag, den sie erlebte, als Leute sie online als "Hure", "dumme Immigrantin" bezeichneten und sie aufforderten, "ihren Schweizer Pass zurückgeben und nach zu Italien gehen".

Marra ist sich sicher, dass die Beleidigungen darauf zurückzuführen sind, dass sie Streitthemen wie Einwanderung und Integration offen anspricht.

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"Wenn man über solche Themen spricht und eine Frau mit Migrationshintergrund ist, sind die Reaktionen sehr heftig."

Wie Gavilanes bedauert auch Marra, dass sie nicht früher und rechtzeitig Beschwerde eingereicht hat.

"Ich habe die Beleidigungen viel zu lange hingenommen. Schließlich habe ich beschlossen, dass ich eine Beschwerde über alles systematisch einreichen werde."

Aber was die Abgeordnete am meisten bedauert, ist, dass das verbale Online-Mobbing ihr Verhalten über die Zeit verändert hat: "Ich werde jetzt ängstlich, wenn ich meinen Briefkasten öffne. Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich in mancher Hinsicht paranoid geworden bin."

Laut Marra sind es vor allem Mitglieder rechtsextremer Netzwerke und politischer Parteien, die sie ins Visier nehmen. Doch die Beleidigungen werden sie nicht davon abhalten, ihre Meinung zu äußern und ihre politische Karriere fortzusetzen, so Marra.

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Was sagt das Schweizer Gesetz über verbale Belästigung?

Kurz gesagt: Es kommt darauf an, so der Genfer Anwalt Pascal Rytz.

"Es kommt darauf an, wie man verbale Belästigung definiert", sagte er gegenüber Euronews. "Nach Schweizer Recht enstpricht die Belästigung keiner spezifischen Straftat."

Aber innerhalb des Verhaltens des Belästigers gibt es mehrere mögliche Straftaten, sagte Rytz.

Alles, was die Ehre eines Menschen verletzt, wie Verleumdung oder Beleidigung, kann eine Straftat sein, gegen die ein Opfer Beschwerde einreichen kann.

Um also eine Klage wegen Cybermobbing einzureichen, muss sie aus krimineller Sicht die Ehre oder den Ruf einer Person schädigen, eine Person verleumden oder üble Nachrede sein. Die spezifischen Straftaten, die durch das Verhalten begangen wurden, müssen in der Beschwerde erscheinen.

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Wenn zum Beispiel jemand eine andere Person in Sofortnachrichten beleidigt oder verleumdet, kann eine Beschwerde über Verleumdung und den Missbrauch von Telekommunikation eingereicht werden.

Die Beschwerde ist an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zu richten und muss innerhalb von drei Monaten nach dem Vorfall eingereicht werden. Die einzige Ausnahme ist Nötigung, die eine längere Verjährungsfrist hat als andere Straftaten, sagt Rytz.

Kommt der Staatsanwalt zu dem Schluss, dass die Tatsachen eine Straftat darstellen, steht es ihm frei, eine Verurteilung zu beantragen.

Die Sanktionen reichen von Geldstrafen bis hin zu Freiheitsstrafen, die je nach Verhalten des Belästigers und seiner Vorgeschichte auch eine Bewährungsstrafe sein können, sagte Rytz und fügte hinzu, dass es schwierig sei, jemanden für diese Art von Straftaten ins Gefängnis zu stecken.

Und was halten die Leute von diesem System? "Einige sagen, dass die Strafen keine starke Abschreckung sind, während andere glauben, dass das System hauptsächlich auf sozialen Frieden ausgerichtet ist", sagte der Anwalt.

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Frauen, die sich wehren

Als Ergebnis der verbalen Belästigungen ihr gegenüber beschloss Spiess-Hegglin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und gegen die Cyberbullies vorzugehen. Sie gründete #NetzCourage, eine NGO, die Frauen unterstützt, die mit verbaler Online-Gewalt und Hassreden konfrontiert sind.

Die Organisation berät Opfer nicht nur rechtlich, sondern versucht auch, einen Dialog mit Cyberbullies aufzunehmen, um sie auf den von ihnen verursachten Schaden aufmerksam zu machen.

#NetzCourage arbeitet besonders mit Frauen, die aufgrund ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit stehen, seien es Politikerinnen, Autorinnen oder Aktivistinnen. Sie sind diejenigen, die Cybermobbing am häufigsten ausgesetzt sind, wie die Website schreibt.

"Seit der Gründung von #NetzCourage im Jahr 2016 sind Menschen, die von verbaler Belästigung online betroffen sind, nicht mehr allein. Wir unterstützen die Opfer bei der Bewältigung und helfen ihnen, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben es geschafft, die Hassrede zu verringern, indem wir uns mit den Tätern unterhalten", sagte Spiess-Hegglin.

Innerhalb von zwei Jahren haben die Gründer der Organisation rund 180 Anklagen eingereicht.

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Sowohl Gavilanes als auch Marra halten die Arbeit von Organisationen wie #NetzCourage in der Schweiz für enorm wichtig. Doch beide sind sich auch einig, dass noch viel zu tun ist. Darunter fällt die Aufklärung junger Erwachsener über die Folgen von verbaler Gewalt im Internet.

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