Novemberpogrome: Ruth erinnert sich an den Tag, der ihre Kindheit beendete

Novemberpogrome: Ruth erinnert sich an den Tag, der ihre Kindheit beendete
Copyright 
Von Lena Roche
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

November 1938: Für die 10-jährige Ruth, die mit ihrer Familie in einem Vorort von Berlin lebte, waren die Novemberpogrome das Ende ihrer bislang unbeschwerten Kindheit.

WERBUNG

Vor 80 Jahren: Eine Nacht des Terrors im November. Nazi-Gruppen zündeten Synagogen an, zerstörten und plünderten jüdische Geschäfte und Wohnungen. Deutsche Juden wurden misshandelt, ermordet, verhaftet und deportiert.

Der Tag, der die Kindheit abrupt beendete

Die Kristallnacht war für die damals 10-jährige Ruth, der Tag an dem ihre Kindheit endete. Ruth erzählt: "Die Pogromnacht habe ich ganz stark in Erinnerung, weil ich da ja etwas Böses erlebt habe. Ich bin in der Auguststrasse in der Berliner City zur Schule gegangen. Wir sind in die Stadt reingefahren. Erst in Wittenau haben wir die ersten kaputten Scheiben gesehen. Und auch Trümmer auf dem Gehweg, alles voll, und da habe ich gesagt: 'Guck mal, Vati, hier müssen sie ja eingebrochen haben. Mein Grossvater fragte: 'Was denn, alle Fenster sind kaputt?' 'Nein, nur ein paar Fenster, aber das sieht nicht aus wie ein Einbruch, das hier ist etwas Anderes,' antwortete mein Vater noch. Und nachher in der Gartenstraße war ein jüdischer Mann, den hatten zwei SA-Leute festgehalten und auf seinen Rücken einen Davidstern mit weißer Farbe geschmiert. Und sie haben ihn geschlagen und das war natürlich für mich als Kind erschreckend, muss ich sagen. Aber ich habe mir dann immer gesagt: Wir sind hier im Auto. Im Auto sind wir als Juden nicht erkennbar. Außerdem saß mein Vati bei mir. Da habe ich sowieso keine Angst gehabt. Wenn mein Vati bei mir ist, wird mir schon nichts passieren."

Flucht aus der Schule über die Dachböden

Ihre Schule war hinter der Neuen Synagoge. An jenem Tag im November 1938 schien in dieser Nachbarschaft alles ruhig zu sein. Ihr Vater setzte Ruth vor der Schule ab. Einmal in der Schule wurden die Kinder in die Aula gebracht. Ruth erinnert sich: "Dann hat man uns erzählt, dass viel kaputtgemacht wurde und viel zerstört wurde und dass man auch vor körperlichen Angriffen nicht zurückschreckte. Das hat man uns ganz klar und deutlich gesagt. Und in der Zwischenzeit, wo wir uns dort versammelt haben, haben sie die Tür mit altem Gerümpel blockiert. Wir konnten nicht mehr raus und die ganze Fassade war völlig beschmiert worden." Am Ende gelang es den Kindern über die Dachböden zu fliehen.

Für Ruth war es der Tag, an dem sie erwachsen wurde. Während des Krieges fand sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Eddi Unterschlupf in einer Gartenlaube. Sie lebten in ständiger Angst vor der Gestapo und den Bomben.

Leben in ständiger Angst: Nur zwei Familienmitglieder überlebten

Viermal sollte Ruth deportiert werden. Sie entkam nur knapp. Von ihrer gesamten jüdischen Familie überlebten nur Ruth und ein Cousin. Ihr Vater wurde im Lager Monowitz umgebracht. Ruth suchte ihn nach Kriegsende jahrelang. Berlin zu verlassen kam dennoch für sie nie in Frage. "Warum sollte ich aus Berlin raus. Warum? Ich bin Berlinerin, ich bin deutsche Jüdin. Warum sollte ich aus Berlin raus. Weil so ein Anstreicher aus Österreich uns vergiften wollte? Nein, Politiker kommen und gehen. Die Bevölkerung bleibt. Ich bin Berlinerin, da kann man mich nicht so einfach vertreiben. Und bin Deutsche, und bin Brandenburgerin mit Leib und Seele. "

Ruth gibt Lesungen über das was ihr und ihrer Familie damals angetan wurde. Mit Blick auf die Zukunft ist sie besorgt: "Ja, Sorge kann man sagen, keine Angst sondern Sorge, dass zu viele Menschen dem wieder hinterherrennen. ohne zu überlegen. Weil die Menschheit einfach verlernt hat zu denken. Die meisten haben nur einen Kopf zum Spazierenfahren aber nicht zum denken."

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Schon seit vor der Mauer in Berlin - Ältester Gorilla der Welt: Fatou feiert 67. Geburtstag

In Gedanken im Krieg: Ukrainer und Russen in Deutschland

Berlinale: Goldener Bär geht an Dokumentarfilm "Dahomey"