Warum in Ungarn (fast) täglich Lehrer entlassen werden, und Schüler auf die Straße gehen

Ende Oktober gingen rund 70.000 Menschen wegen der Krise im Bildungssektor auf die Straße.
Ende Oktober gingen rund 70.000 Menschen wegen der Krise im Bildungssektor auf die Straße. Copyright Bea Asboth, Euronews
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Von Nóra ShenoudaAlexandra Leistner
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In Ungarn fehlen in manchen Schulen so viele Lehrkräfte, dass der Unterricht ausgesetzt werden muss. Wie kommt es zu der Krise im Bildungssystem?

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Das ungarische Bildungssystem befindet sich in einer schweren Krise. Seit Monaten protestierten Schüler:innen in der Hauptstadt Budapest. Nachdem ihre Lehrer und Lehrerinnen gefeuert wurden, sehen sie keine andere Lösung, um auf die verzweifelte Lage an Schulen aufmerksam.

Und nicht nur Schüler:innen sind verzweifelt, auch Direktorinnen und Direktoren wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll. Die ersten Schulen schließen bereits. Nach zahlreichen Streiks im Jahr 2023 sind auch für diese Woche wieder Proteste angekündigt.

Warum werden in Ungarn Lehrkräfte entlassen?

Als an der Karinthy Frigyes-Schule in Budapest sechs Lehrkräfte wegen "zivilen Ungehorsams" entlassen wurden, entschied der Direktor, den Unterricht an der Schule auszusetzen. Die Begründung: Die Anzahl der noch verfügbaren Lehrkräfte reichte für den Betrieb schlicht nicht mehr aus.

Laut der ungarischen Lehrervereinigung Tanárok a Tanárokért wurden im Zuge der Proteste landesweit fast 10.000 Lehrer:innen suspendiert. 

In zahlreichen Lehreinrichtungen gab es als Reaktion Sitzstreiks, hunderte Lehrkräfte beteiligten sich an sogenannten Aktionen zivilen Ungehorsams, um sich mit den gefeuerten Kolleg:innen solidarisch zu zeigen.

Auch vor dem Innenministerium in Budapest protestieren Schüler:innen. 

Warum der "zivilie Ungehorsam"?

Lehrkräfte in Ungarn fordern höhere Gehälter, kürzere Arbeitszeiten und ein Recht auf Streik - das war ihnen zuvor aberkannt worden. In einer Unterschriftenaktion werden zudem die folgenden Forderungen gestellt:

  • Öffentlicher und transparenter Dialog über die Erneuerung des Bildungswesens, korrekte Informationen seitens der Regierung und der öffentlichen Medien
  • Schluss mit der Diskreditierung von Lehrern und der Einschüchterung von Bildungsakteuren; entlassene oder ersetzte Lehrer sollten unverzüglich wieder eingestellt werden
  • Verantwortungsbewusstes, kompetentes Bildungsmanagement und ein unabhängiges Bildungsministerium
  • Eine chancenorientierte, hochwertige allgemeine und berufliche Bildung für alle - vom Kindergarten bis zur Universität
  • Ein hochwertiges Umfeld des 21. Jahrhunderts für Lernen, Lehren und Bildung
  • Berufliche Freiheit und Unterstützung in der Bildung, moderne Kernlehrpläne und die freie Wahl der Schulbücher
Asboth, Euronews
Proteste in Ungarn gegen die miserablen Arbeitsbedigungen von Lehrern halten weiter an.Asboth, Euronews

Wie viel verdienen Lehrkräfte in Ungarn?

Im europäischen Vergleich verdienen Lehrkräfte in Ungarn wenig. Wer zwischen 10 bis 15 Jahren Erfahrung hat, verdient zwischen 520 und 560 Euro, in den ersten Jahren im Beruf liegt das Gehalt monatlich um 360 Euro.

Dabei ist auch Ungarn von hoher Inflation betroffen: Auf dem Wohnungsmarkt sind die Preise in den vergangenen Monaten um etwa 20 Prozent gestiegen. Doch die angekündigten Lohnerhöhungen gelten nicht für Lehrkräfte - sie bekommen 10 Prozent Bonus.

Als Lehrer bekommen wir keine Hilfe.

Die prekäre Lage wird in dem offenen Brief eines Lehrers an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban deutlich. Darin beschreibt der junge Hochschulabsolvent, dass er am Anfang seiner Laufbahn - und nach sechs Jahren Studium - 160.000 Forint (etwa 395 Euro) verdient. 120.000 Forint (296 Euro) gehen den Angaben nach für Miete und Nebenkosten für eine 17 Quadratmeter große, schimmelige Kellerwohnung drauf - bereits ein "unglaublich guter Preis".

Bleiben 40.000 Forint (98 Euro) zum Leben. In dem Brief schreibt der Mann, dass er nicht genug Geld hat, um seiner Familie Weihnachtsgeschenke zu kaufen, seinen kaputte Föhn zu ersetzen, oder irgendwas anderes als Nudeln oder Reis zu essen.

Er habe sogar schon aus der Schule Klopapier mit nach Hause gebracht, weil das Gehalt auch dafür nicht mehr reiche.

"Und dann soll ich in der Schule eine vorbildliche Person sein?"

"Als Lehrer bekommen wir keine Hilfe. Kein Geld für Kleidung, keine Jahresendprämie, keine Cafeteria, keine Zusatzleistungen der Welt. Es gibt kein soziales Sicherheitsnetz unter mir, obwohl ich mit Leib und Seele arbeite, balanciere ich am Rande der Obdachlosigkeit."

Wann begannen die Proteste?

Schon seit langem werden Lehrkräfte in Ungarn vertröstet. Als Orban im Frühjahr mit seiner Fidesz-Partei die Mehrheit bekam, war schnell klar, dass die Erhöhung der Lehrergehälter oben auf der Prioritätenliste stand. 

Das Wahlergebnis war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Lehrerinnen und Lehrer, die während der Covid-Pandemie viel leisteten und wenig forderten, gingen auf die Straße.

Die Regierung sagt, dass EU-Gelder aus dem Abkommen zur Finanzierung einer Gehaltserhöhung für den Sektor verwenden will. Die Lehrergewerkschaften haben ihre Forderungen Anfang November mit Zoltán Maruzsa, dem Staatssekretär für das öffentliche Bildungswesen, erörtert, konnten jedoch keine substanziellen Änderungen erreichen.

Die Regierung wird die Gehälter der Lehrer:innen in diesem Jahr nicht erhöhen, doch das jüngste Angebot sieht eine stufenweise Anhebung der Gehälter über drei Jahre vor. Wenn die Regierung eine Einigung mit der EU erzielt (was nach den jüngsten Nachrichten immer unwahrscheinlicher wird), werden die Lehrergehälter im nächsten Jahr um 20,8 Prozent, 2024 um 25 Prozent und 2025 um fast 30 Prozent gegenüber der derzeitigen Basis angehoben.

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Auf diese Weise könnte das Gehalt bis Januar 2025 80 Prozent des durchschnittlichen Absolventengehalts in Ungarn erreichen.

Starke Belastung, wenig Zeit für Bildung

Die Fidesz-Regierung hat 2011, also vor 10 Jahren, das Bildungswesen zentralisiert und Ungarn in Schulbezirke aufgeteilt, die als Exekutivorgane der Regierung fungieren. 

Gleichzeitig wurde den Lehrerinnen und Lehrern das Recht auf die Auswahl von Schulbüchern entzogen, wogegen die Ungarische Akademie der Wissenschaften protestiert hat. Die Lehrer sagen, dass es keinen Wettbewerb auf dem Büchermarkt gibt, dass die Qualität des Inhalts der zentral genehmigten Bücher schlecht ist.

Immer weniger Lehrkräfte wollen den Beruf noch ausführen. Weil so viel Personal fehlt, müssen diejenigen, die in Schulen arbeiten viele Vertretungsstunden leisten - oft auch in Fächern, die sie nicht studiert haben.

Dass ein Mathematiklehrer einen Sportlehrer ersetzt oder ein Sportlehrer eine Literaturklasse übernimmt ist nicht ungewöhnlich. Besonders groß ist die Lücke in Fremdsprachen.

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Entzug des Streikrechts - per Notstandsdekret

Im Februar entzog die Regierung in Budapest dann den Lehrern das Streikrecht, woraufhin die Lehrergewerkschaften das Verfassungsgericht anrief. 

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungarische Regierung dreimal den Gefahrenzustand (eine Art Sonderrechtsverordnung) mit Bezug auf die Pandemie angeordnet. Die letzte Verordnung (vom Februar 2021) ist immer noch in Kraft, ebenso wie die Gesetze, die der Regierung einen Freibrief erteilen, Gesetze des Parlaments durch besondere Notstandsverordnungen ohne parlamentarische Kontrolle auszusetzen oder von ihnen abzuweichen. 

Während ein Großteil der während des Ausnahmezustands erlassenen Notstandsdekrete tatsächlich im Zusammenhang mit der Pandemie stand, hat die Regierung wiederholt von ihrer Ermächtigung Gebrauch gemacht, um Dekrete zu erlassen, die in keiner Weise mit der Eindämmung von COVID-19 zusammenhängen, sondern sich negativ auf die Menschenrechte oder die Rechtsstaatlichkeit auswirken. 

Eines der emblematischsten Beispiele dafür seit der letzten Anhörung Ungarns gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV im Juni 2021 war die Einmischung der Regierung in den Streik der Lehrer für bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Bildungswesen. 

Lehrer müssen "erforderlichen Mindestdienste" leisten

Die Lehrergewerkschaften kündigten Pläne für einen Streik ab dem 16. März 2022 an und verhandelten mit dem zuständigen Ministerium über die genauen "notwendigen Mindestleistungen", die während eines Streiks gemäß dem Streikgesetz erbracht werden müssen. Dieses Gesetz sieht vor, dass die Parteien, wenn sie sich nicht über den Umfang dieser Mindestdienstleistungen einigen können, ein Gericht anrufen können, das festlegt, welche Dienstleistungen während des Streiks erbracht werden müssen. 

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Die Lehrkräfte waren kurz davor, sich an das Gericht zu wenden, um den Streit mit dem Ministerium beizulegen, als die Regierung am 11. Februar 2022 den Dringlichkeitserlass 36/2022 (II. 11.) erließ, in dem die "erforderlichen Mindestdienste" so weit gefasst wurden, dass ein sinnvoller und gleichzeitig rechtmäßiger Streik unmöglich wurde. 

Ihnen blieb nur noch ein Mittel zum Protest: der so genannte "zivile Ungehorsam". In einigen Schulen haben die Lehrer angekündigt, dass sie ihre Arbeit im Rahmen des zivilen Ungehorsams nicht aufnehmen werden, was dazu führte, dass in mehreren Schulen Lehrer entlassen wurden, oft Lehrer, deren Klassen gerade ihren Abschluss machen.

Schüler und Eltern wollen helfen

Vor allem die Gymnasiasten zeigen eine große Solidarität mit ihren Lehrern: Schüler:innen haben eine Organisation gegründet, die bereits mehrere große Demonstrationen durchgeführt hat. 

Daraus hat sich eine Reihe landesweiter Proteste entwickelt, die von Jugendlichen initiiert wurden. 

Sie halten Reden, Künstler:innen und Schauspieler:innen haben sich ihnen angeschlossen. Die Demonstration am 23. Oktober war die bisher größte, aber im November wurden die Demonstrationen häufiger, und im Dezember gibt es wöchentliche Demonstrationen und Sitzstreiks.

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Welche Art von Demonstrationen kommen noch?

Die Demonstrationen haben sich teilweise in generelle Proteste gegen die Regierung verwandelt, die sich gegen Viktor Orbán richten.

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