Nach einem Jahrzehnt gibt die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O'Reilly ihr Amt ab. Sie fordert mehr Transparenz in den Verfahren der EU-Kommission, externe Kontrolle des Parlaments, und nicht nur Grenzschutz, sondern auch Seenotrettung durch die EU-Küstenwache Frontex.
Die Europäische Kommission sollte transparenter sein und Rechenschaft darüber abgeben, wer Einfluss auf sie nimmt. Und sie sollte offen dafür sein, alle beteiligten Parteien anzuhören: Das sind die Schlüsselforderungen der Europäischen Bürgerbeauftragten Emily O’Reilly, zu Gast in The Global Conversation.
Isabel Marques da Silva, Euronews: Frau O'Reilly, danke, dass Sie unsere Einladung angenommen haben. Nach gut einem Jahrzehnt werden Sie demnächst Ihren Posten als Europäische Bürgerbeauftragte abgeben. Sie haben dort überwacht, wie transparent die Institutionen der Europäischen Union arbeiten. Es bleibt aber immer noch eine Menge zu tun. Und erst vergangene Woche haben Sie eine neue Untersuchung gestartet zur Entscheidung der Europäischen Kommission, einige Auflagen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu lockern. Es fließt ja viel Geld an die Bauern, aber die sind dieses Jahr immer wieder auf die Straße gezogen. Welche Erklärungen erwarten Sie von Ursula von der Leyen? Ich schätze, Sie haben um einen Termin gebeten?
Emily O' Reilly, Europäische Bürgerbeauftragte: Ja, wir werden uns die entsprechenden Dokumente genau ansehen, und wir werden die zuständigen Beamten befragen. Im Prinzip geht es, wie Sie sagen, um die Gemeinsame Agrarpolitik und Änderungen, die vorgenommen wurden, um die Vorgaben zum Umweltschutz für die Landwirte ein bisschen weniger belastend und weniger schwierig zu machen. Und natürlich, es gab tatsächlich große Bauernproteste hier in dieser Stadt und anderswo. Daraufhin wurden die Änderungen vorgenommen. Das rief aber Umweltorganisationen auf den Plan, die sich beklagten - so die Beschwerde, die wir bekamen - dass nur Landwirtschaftsverbände konsultiert worden seien. Jetzt versuchen wir herauszufinden, was genau geschah, wie diese Änderungen erarbeitet wurden. Wer wurde zu Rate gezogen? Wer wurde berücksichtigt? Und wenn wir die Antworten darauf bekommen haben, werden wir entscheiden, ob sie es richtig gemacht haben, oder ob wir Empfehlungen abgeben müssen, wie sie es in Zukunft machen sollten. Oder wir geben ihnen einfach nur eine allgemeine Handlungsanleitung, wie sie diese speziellen Themen korrekt managen, die ja große Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger haben.
Bürger haben das Recht zu wissen, wer Einfluss auf die Regeln nimmt
Euronews: Ist in dieser Angelegenheit also der Eindruck von gewisser Ungerechtigkeit bei der Behandlung der verschiedenen Beteiligten entstanden?
Emily O' Reilly: Ich denke schon. Und das ist eine Art Leitmotiv bei unserer Arbeit, denn bei vielem, was wir gemacht haben, geht es im Hauptthema um Einflussnahme. Wer beeinflusst die Regeln, die Gesetze, die in Brüssel gemacht werden? Sie wissen, Brüssel ist ein riesiges Lobbyisten-Zentrum - das zwei größte Lobbyisten-Zentrum der Welt hinter Washington. Deshalb haben die Bürger ein Recht darauf, zu wissen, wie die Regeln gemacht werden, und wer darauf Einfluss nimmt. Ein Teil unserer Arbeit ist, wenn wir Beschwerden erhalten oder auf eigene Initiative eine Untersuchung einleiten, dass wir sicherstellen, dass die Kommission zum Beispiel oder die anderen Institutionen auch wirklich alle Seiten anhören, und dass sie nicht Entscheidungen treffen, die zu sehr oder unangemessen von einer Seite beeinflusst sind.
Euronews: Lobbyarbeit ist extrem wichtig. Aber die meisten Lobbyisten sind registriert und wohl bekannt. Was ein bisschen geheimer sein könnte, das sind die Berater, die Experten und Expertinnen, die hinzugezogen werden. Im Zusammenhang mit diesem Fall gab es Berichte über einen deutschen Wissenschaftler, der möglicherweise 150.000 Euro erhalten hat für sechs Monate Beratungstätigkeit zum Thema Landwirtschaft. Trägt so etwas auch zur Wahrnehmung bei, dass nicht genügend Transparenz darüber herrscht, wer die Entscheidungen trifft und wer berät?
Emily O' Reilly: Ja. Viele Leute sagen über die Kommission, dass sie eine riesige Verwaltung sei, aber tatsächlich ist sie ziemlich klein im Vergleich zu den Verwaltungen der Mitgliedsstaaten. Dadurch hat sie nicht all die interne Expertise, die sie braucht, wenn sie Verordnungen entwirft oder darüber berät. Also holt sie Experten aus unterschiedlichen Bereichen dazu. Bei einer unserer Untersuchungen vor ein paar Jahren wollten wir herausfinden, wie ausgewogen diese Expertengruppen sind. Natürlich, wenn Sie ein großes Unternehmen sind, dann haben Sie per Definition viel Geld und können viele Leute bezahlen, die für Sie Auge und Ohr in Brüssel sind und herausfinden, was da so läuft. Wenn Sie aber eine Nichtregierungsorganisation sind mit einem kleineren Budget, dann haben Sie nicht dieselben Möglichkeiten, Leute einzusetzen, die das herausfinden, was Sie wissen wollen. Deshalb hat die Kommission die Pflicht, sicherzustellen, dass Nichtregierungsorganisation, die Zivilgesellschaft und so weiter, genauso gehört werden wie die anderen.
Euronews: Und meinen Sie, dass es jetzt ausgewogener abläuft nach all den Jahren, die Sie für die Beobachtung zuständig waren?
Emily O' Reilly: Ja, schon. Ich finde, dass es jetzt mehr Bewusstsein dafür gibt, auf jeden Fall innerhalb der Kommission. Sowohl dank unserer Arbeit, als auch dank der Arbeit der Medien, und der Arbeit, die die Zivilgesellschaft und andere geleistet haben. Aber immer noch taucht hin und wieder so ein Vorfall auf, und man befasst sich mit diesen Dingen von Fall zu Fall. Aber grundsätzlich meine ich, dass kulturell die Akzeptanz dafür gewachsen ist, dass mehr Ausgewogenheit vonnöten ist, wenn man wichtigere Fragen des öffentlichen Interesses entscheidet. Jede Stimme muss gehört werden.
Sind Ursula von der Leyens Kurznachrichten Dokumente?
Euronews: Einer der berüchtigtsten Fälle, in die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verwickelt war, das war der Nachrichtenaustausch mit dem Vorstandsvorsitzenden von Pfizer in der Corona-Pandemie, als es um einen Vertrag für Impfstoffe ging. Die Kommissionspräsidentin hat sich bis heute geweigert, darüber Informationen herauszugeben. Sie selbst sehen dies als Missstand in der Verwaltung an, aber von der Leyen hat auf diesen Rat oder diese Kritik nicht besonders gehört. Legt sie Wert auf diese Kritik?
Emily O' Reilly: Also, der Europäische Gerichtshof befasst sich ja jetzt mit der ganzen Angelegenheit. Wir werden sehen, was dann passiert. Wir haben eine Liste von Fragen gestellt, wir fanden Verwaltungsmissstände heraus vor allem deswegen, weil die Kommission anfangs nicht akzeptierte, dass diese Kurznachrichten, diese Textnachrichten Dokumente sind. Man muss aber kein Genie sein und kein Anwalt, um Verordnung 1049 (des Europäischen Parlaments, A.d.R.) lesen zu können und zu sehen, dass es doch Dokumente sind. Denn das Medium spielt keine Rolle - das Thema spielt die Rolle! Wenn man also "textet" oder "Whatsappt" über das, was passiert oder was man mit Themen macht, die mit dem Betrieb der Institution zu tun haben, dann sind das Dokumente. Das heißt nicht, dass diese sofort veröffentlicht werden müssen. Sie können überprüft werden auf Ausnahmen, die Verordnung 1049 vorsieht. Wir haben aber einen Verwaltungsmissstand festgestellt, weil die Kommission zuerst nicht akzeptieren wollte, dass es sich um Dokumente handelt. Die sind es meiner Ansicht nach eindeutig. Hinsichtlich dessen passiert also vorerst nichts: Ich habe die Kommission kritisiert, und dann hat die New York Times, das Medium, das ursprünglich darüber berichtete, die Kommission vor Gericht gebracht. Wir wissen nicht, wann der Fall vor Gericht verhandelt wird, aber ich denke, das wird zu jedermanns Vorteil sein. Das oberste Gericht in der EU wird Klarheit in diesen Fall bringen.
Euronews: Aber meinen Sie, dass da eine Lektion gelernt wurde, dass Ursula von der Leyen in gewisser Weise ihr Verhalten in diese Richtung verändert hat?
Emily O' Reilly: Nun, ich weiß nicht, was sie täglich so tut. Ich bin mir sicher, dass sie jetzt darauf achtet, klar. Innerhalb der Kommission haben wir Diskussionen mit den Leuten, ich weiß, dass die Kommission jetzt ihrem Personal eine Handlungsanleitung gegeben hat in Bezug auf Rückhaltung von Textnachrichten, und wie diese korrekt registriert und veröffentlicht werden sollten und so weiter. Ich denke, dass das Thema ganz allgemein behandelt worden ist, und dass wir jetzt alle wissen, wenn wir unsere Geschäfte auf Whatsapp oder Snapchats oder wo auch immer erledigen, dass wir eben Geschäfte erledigen, und dass wir wissen müssen, gerade wenn man in der öffentlichen Verwaltung arbeitet, dass diese Nachrichten potenziell veröffentlicht werden können.
Mehr Transparenz: Verzögerung bei Herausgabe von Dokumenten
Euronews: Wie Sie eben erwähnten: Sie wissen, dass diese Nachrichten Dokumente sind. Würden Sie sagen, dass der Zugang zu Dokumenten eines der Hauptthemen ist bei den Beschwerden, die Sie erhalten?
Emily O' Reilly: Ach wissen Sie, Transparenz ist generell ein großes Thema. Ich würde sagen, gut ein Viertel oder sogar mehr der Beschwerden, die bei uns eingehen, beziehen sich generell auf Transparenz und Zugang zu Dokumenten. Und das ist der Punkt, an dem wir auf den meisten Widerstand treffen. Ich meine im Allgemeinen. Denn ich stehe mich gut mit der Kommission, wir arbeiten in der Tat sehr gut mit ihr zusammen, auch beim Zugang zu Dokumenten. Aber wir stellen fest, dass es zu enormen Verzögerungen kommen kann. Und wenn die Dokumente Themen enthalten, die die Kommission als, sagen wir mal, politisch sensibel einstuft, dann kann es zu Verzögerungen kommen, die über die gesetzlich zulässigen Fristen hinausgehen. Deshalb haben wir dem Parlament im letzten Jahr einen Sonderbericht zu diesem Thema vorgelegt. Das habe ich nur zweimal in den vergangenen elf Jahren getan. Das zeigt, wie wichtig mir das ist. Das Parlament hat unsere Arbeit und unsere Empfehlungen mit überwältigender Mehrheit unterstützt. Wir werden also sehen, was jetzt mit der neuen Kommission geschieht und ob diese besonderen Lektionen gelernt wurden. Denn manchmal denken die Leute, dass Themen wie Transparenz und Zugang zu Dokumenten nur für Nichtregierungsorganisationen, die Zivilgesellschaft, Wissenschaftler und Bürgerbeauftragte von Belang sind. Aber sie sind so wichtig, weil die Bürger nach dem EU-Vertrag das Recht haben, am Leben der Union teilzunehmen.
Euronews: Würden Sie dies "Kultur der Geheimhaltung" nennen, oder liegt es nur daran, dass intensive Bürokratien zu schwierig für den Zugang zu Dokumenten sind?
Emily O' Reilly: Nein - meiner Meinung nach ist der Reflex in den meisten öffentlichen Verwaltungen, in die Defensive zu gehen, sich zu fragen: Kann uns das Schwierigkeiten einbringen? Die Standardposition hinsichtlich Zugang in den Verträgen und Verordnungen ist aber, zu veröffentlichen, herauszugeben. Man sollte also, sobald man Zugang zu Dokumenten bekommt, sagen: Wie kann ich das veröffentlichen? Während es meist andersherum läuft: Wie kann ich verhindern, dass das veröffentlicht wird? Die Kommission wird sagen, wir geben doch tausende Dokumente heraus, und ein hoher Prozentsatz unserer Erstanfragen wird akzeptiert. Aber wir reden hier nicht über die breite Mehrheit der Fälle. Wir reden über diejenigen Fälle, in denen es um Fragen von großem öffentlichen Interesse geht, um Umweltschutz, Verteidigung, Sicherheit, internationale Beziehungen zum Beispiel.
Europa-Parlament muss Rechenschaftsmechanismus für EU-Kommission sein
Euronews: Kommen wir auf die Europäische Kommission, auf Ursula von der Leyens Wiederwahl zurück. Sie hat 26 Kandidaten für die künftige Exekutive vorgestellt. Das Europäische Parlament wird diese Kandidaten jetzt überprüfen, zunächst den Lebenslauf und die jeweilige Finanzerklärung. Finden Sie, dass das Parlament genug Werkzeuge hat, um jemanden wirklich zu überprüfen, wenn der Verdacht auf einen Interessenkonflikt besteht?
Emily O' Reilly: Das ist eine gute Frage! Das Parlament hat bestimmte Ermittlungsbefugnisse, aber nicht dieselben wie zum Beispiel die Europäische Staatsanwaltschaft, oder OLAF, die Antibetrugsbehörde. Deshalb denke ich schon, dass es ein Problem mit einigen nominierten Kommissaren geben könnte. Aber ich halte die Frage für wichtiger, ob das Parlament wirklich seine Rolle als Rechenschaftsmechanismus für die Kommission ausfüllt. Also gewährleistet, dass die Kommission rechenschaftspflichtig ist. Über die Zeit tun einige Parlamente dies in sehr starker Weise, andere nicht so sehr. Es ist wahrscheinlich noch zu früh, zu sagen, wie stark dieses Parlament darin sein wird, die Kommission zur Rechenschaft zu ziehen.
Mehr Kontrolle der Europa-Abgeordneten
Euronews: Erinnern wir uns einmal an den Korruptionsskandal, in den Europaabgeordnete verstrickt waren, das sogenannte Katargate Ende 2022, das immer noch in den Gerichten anhängig ist. Sind die neuen Regeln strikt genug, um Fehlverhalten der frisch gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu verhindern?
Emily O' Reilly: Die Regeln sind verschärft worden, was die Aufzeichnung von Treffen angeht, die die Abgeordneten haben, und so weiter. Sie können nicht mehr einfach wie privat herumgehen und Leute treffen, vor allem nicht, wenn sie in einem bestimmten Dossier involviert sind. Aber auch wenn wir sehr erfreut über die Regeln sind - unser Anliegen war, was kommen wird? Was passiert zum Beispiel, wenn sich herausstellt, dass jemand eine bestimmte Regel gebrochen hat? Denn weder die Kommission noch das Parlament - insbesondere das Parlament - sind aus der Selbstregulierung herausgekommen. Wissen Sie, da gibt es einen Ausschuss im Parlament, der sich mit mutmaßlichen Verletzungen verschiedener Kodizes und Regeln befasst. Aber der berichtet dann dem Parlamentspräsidenten und der Präsident entscheidet danach. Es gab einen Vorstoß, unabhängige Experten einzubinden, unabhängige Leute in diesem Ausschuss, doch das ist vom Parlament niedergestimmt worden. So sind also die Leute in dem Ausschuss selbst Abgeordnete. Auch wenn ich mir sicher bin, dass es gute, ganz wunderbare, aufrichtige Menschen sind.
Euronews: Ich fand Sie tatsächlich sehr kritisch, als die Abgeordneten sich so dagegen sträubten, dass OLAF, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, ihre Geschäfte ebenfalls unter die Lupe nimmt. Sollte dies eine Option sein?
Emily O' Reilly: Also, das war ein großes Thema zwischen OLAF und dem Parlament. Die Leute vom OLAF meinen, dass sie unter seinem Statut das Recht haben, genauso zu ermitteln wie sie bei anderen Institutionen ermitteln können. Sie können in dein Büro kommen, in Deinen Computer schauen und so weiter. Das Parlament sieht das anders. Und deshalb waren es bei Katargate zum Beispiel, glaube ich, die Sicherheitskräfte aus Belgien oder anderen Staaten, die all das aufdeckten - das war nicht unsere eigene Anti-Betrugsbehörde. Und ich weiß, dass der Chef von OLAF darauf hingewiesen hat, dass das Parlament ihnen denselben Zugang zugestehen muss wie die anderen Institutionen. Das geht also noch weiter.
"Drehtür-Effekt": Scheidende Kommissare im Auge behalten
Euronews: Darum wird sich vielleicht Ihr Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin weiter kümmern müssen. Ein anderes wichtiges Thema während dieser Übergangsphase nach den Wahlen ist, dass sehr viele Beamte, die Kommissare eingeschlossen, weggehen und im privaten Sektor arbeiten - der so genannte „Drehtür-Effekt“. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass es dieses Mal anders sein könnte? Es gibt bereits Fälle, Leute von der Kommission, von der Wettbewerbsabteilung, einen Direktor der Europäischen Investitionsbank. Ist das nur die Spitze des Eisbergs?
Emily O' Reilly: Nun, ich denke, Präsidentin von der Leyen hat den scheidenden Kommissaren geschrieben und sie an ihre Pflichten erinnert bezüglich der "Abkühlungsphasen" und Ähnlichem. Und wieder geht es darum, ob das adäquat überwacht wird. Wenn Leute weggehen, ist es nicht ganz klar, wie das überwacht wird, falls sie Verhaltenskodizes verletzen, oder Regeln oder Protokolle. Es war ein so langwieriger Prozess, die Kommission dazu zu bringen, wirklich zu versuchen, ihre Kultur zu ändern und mehr Verständnis dafür zu haben, warum dies wichtig ist und welchen Schaden bestimmte "Drehtür"-Fälle anrichten können.
Was Frontex leisten sollte
Euronews: Unter den Institutionen, die der oder die Bürgerbeauftragte überwacht, sind auch EU-Agenturen, namentlich Frontex. Sie stehen der EU-Agentur für Grenzkontrolle und Küstenwache sehr kritisch gegenüber, vor allem im Zusammenhang mit der Adriana-Schiffstragödie im vergangenen Jahr. Damals starben mehr als 500 Menschen im Mittelmeer. Was sollte sich bei der Seenotrettung ändern?
Emily O' Reilly: Wir haben uns speziell mit Frontex befasst. Das ist die Agentur für Küstenwache und Grenzschutz und deshalb würde man erwarten, dass sie bei Suche und Rettung eine Rolle spielt. Aber sie haben uns ganz klar zu verstehen gegeben, dass sie keine Such- und Rettungsmission sind, sondern für die Überwachung zuständig.
Euronews: Das sollte sich Ihrer Meinung nach ändern?
Emily O' Reilly: Ja. Aber wir entdeckten wirklich im Laufe unserer Ermittlungen, dass es da keinen proaktiven Such- und Rettungseinsatz in der EU gibt.
Euronews: Sollte dies eine europäische Bemühung sein, wie es sie in der Vergangenheit gab, nach dem Krieg in Syrien?
Emily O' Reilly: Exakt, ganz genau. So wurde vielen Nichtregierungsorganisationen, die diese Rettungseinsätze im Mittelmeer versuchten, mit Strafverfolgung gedroht, oder sie wurden verfolgt. Wir fanden auch heraus, dass Frontex, wenn solch ein Vorfall stattfand, unter der Kontrolle der Regierung des Mitgliedslandes steht, das den Einsatz leitet. Also kann Frontex nicht unabhängig handeln. Bei vier Anlässen, während die Adriana noch auf dem Meer war und bevor sie sank, hat Frontex versucht, die griechischen Behörden zu kontaktieren und Hilfe anzubieten. Die griechischen Behörden, die griechische Küstenwache, haben einfach nicht geantwortet. Als wir all das zusammengetragen hatten, haben wir es den Gesetzgebern ausgehändigt: Das ist die Kluft zwischen dem, was die Bürger wahrscheinlich erwarten, das man tun könnte, und dem, was tatsächlich unter dem Gesetz in der Praxis passiert. Wenn Sie diese Kluft überwinden wollen, dann tun Sie es!
Euronews: Man muss die Weise, wie Frontex handeln kann, verändern. Das Migrations- und Asyl-Paket ist bei dieser Thematik auch eine Schlüsselaufgabe. Das wirft nicht nur Fragen nach Legalität auf, sondern auch nach Gerechtigkeit, Anstand, Menschlichkeit. Und dann gibt es da diese Politik der Externalisierung des Managements - hin zu Ländern außerhalb der EU: Tunesien, Ägypten, Libanon. Was sind die größten Risiken, die Sie in dieser Strategie sehen?
Emily O' Reilly: Also, es gab da viel exzellente Berichterstattung über das, was in einigen dieser Länder geschieht. Erst diese oder letzte Woche veröffentlichte der Guardian aus Großbritannien einen großen Bericht darüber, was den Migranten in Tunesien widerfährt. Und wie Sie wissen, hat die EU jetzt eine gemeinsame Absichtserklärung mit Tunesien, der zufolge sie Geld gibt, und im Gegenzug hilft Tunesien, die Migranten an der Überquerung des Meeres zu hindern. Und die Kommission weiß selbst, dass es riskant ist, denn sie weiß, dass dort Missbrauch betrieben wird.
Euronews: Aber können diese Probleme behoben werden, jetzt, wo sie einmal entdeckt und gemeldet wurden?
Emily O' Reilly: Nun, das kann man hoffen. Eins der Dinge, die wir untersucht haben ist, dass wir die Kommission befragt haben, ob sie eine Folgenabschätzung für die Grundrechte durchgeführt hat, bevor sie die Daten erstellt hat. Nein, das haben sie nicht. Aber sie haben Menschenrechtsklauseln in den Verträgen, die sie mit den durchführenden Stellen geschlossen haben, also den Stellen, die das Geld in Tunesien ausgeben.
Euronews: Also geht es wieder darum, diese Klauseln zu überwachen und zu verfolgen.
Emily O' Reilly: Ja, genau. Doch die erste Frage ist zunächst: Es ist sehr schwierig, sich zu beschweren, wenn man den Eindruck hat, dass es dort Missbrauch gab. Die zweite Frage lautet: Ist die EU bereit, die Überweisungen zu stoppen oder das Geld zurückzufordern, wenn sie den Eindruck hat, dass Menschenrechte verletzt werden? Ich verstehe, wie politisch schwierig das ist. Sie haben da Europa, das in gewisser Weise leicht nach rechts abdriftet, wo Migration als Machtinstrument von bestimmen Gruppierungen und bestimmten politischen Führern benutzt wird.
EU-Bürgerbeauftragte: Kleines Büro mit großem Mandat
Euronews: Zum Schluss unseres Interviews: Sie machen diesen Job seit einem Jahrzehnt. Welche Hauptschlussfolgerung ziehen Sie aus all den Erfahrungen und Treffen mit Leuten in dieser Zeit? Welche Vorschläge, welchen Rat würden Sie Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin mitgeben?
Emily O' Reilly: Mein Rat wäre: Tun Sie, was Sie zu tun haben. Der Europäische Bürgerbeauftragte, das nenne ich ein kleines Büro mit einem großen Mandat. Es ist der Wachhund über die gesamte europäische Verwaltung. Es ist kein kleines Büro, das mit kleinen Beschwerden zu tun hat und seinen Kopf einzieht. Es muss wirklich seine Rolle ausfüllen. Und das habe ich in den vergangenen elf Jahren versucht.