In einem ausführlichen Interview mit Euronews betont der georgische Premierminister Irakli Kobachidse, dass die bevorstehenden Wahlen angesichts des Wirtschaftswachstums und der politischen Polarisierung von entscheidender Bedeutung für den EU-Beitritt und die Abkehr vom russischen Einfluss sind.
Der georgische Premierminister Irakli Kobachidse macht den Eindruck eines gelassenen, aber zugleich gefassten und zielbewussten Mannes.
Zum Interview erscheint er ohne großes Aufgebot und plaudert bereitwillig über Fußball, erinnert sich voller Stolz an die heimische Legende Temur Ketsbaia, einen ehemaligen Spieler von Newcastle United, und weist darauf hin, dass es einen neuen, aufstrebenden Star im selben Verein gibt.
Gleichzeitig weiß Kobachidse genau, was für sein Land bei den bevorstehenden Parlamentswahlen am Sonntag auf dem Spiel steht - ein entscheidender Moment, da das Ergebnis den künftigen Beitritt des Landes zur EU und seine Abkehr vom russischen Einfluss beeinflussen könnte.
Die politische Landschaft in Georgien hat sich zunehmend polarisiert, und die Meinungsumfragen geben weiterhin unzuverlässige und widersprüchliche Prognosen ab. Besonders spürbar war dies in Tiflis, wo am Tag unseres Interviews eine große politische Kundgebung stattfand: Alle Straßen wurden gesperrt und für den Abend wurden Bühnen aufgebaut, da Tausende auf den Straßen der Hauptstadt erwartet wurden.
Während die Regierung unter „Georgischer Traum“ die Wahl als eine Entscheidung zwischen „Frieden und Krieg“ darstellt, sehen die Oppositionsparteien die Wahl als eine Schlacht zwischen dem demokratischen Westen und dem autoritären Russland.
Euronews sprach mit Kobachidse in einem ausführlichen Interview über die Bedeutung der Wahlen vor dem Hintergrund der Beitrittsgespräche zur Europäischen Union und der Frage nach russischem Einfluss.
Euronews: Wie sehen Sie als junger Premierminister die Zukunft Georgiens?
Irakli Kobachidse: Wir erwarten entscheidende Wahlen für Georgien. Unser Land entwickelt sich zwar recht schnell, aber es gibt nach wie vor Herausforderungen.
Wir sagen ganz klar und deutlich, dass diese Wahl auch ein Volksentscheid über die Fragen von Krieg und Frieden ist.
Die Regierung unter „Georgischer Traum“ ist unserer Meinung nach die beste Garantie für den Frieden in diesem Land, aber es geht auch um die Entwicklung des Landes.
In den letzten zweieinhalb Jahren hatten wir ein fast zweistelliges Wirtschaftswachstum, und wir hatten das höchste Wachstum nicht nur in der Region, sondern auch in Europa.
Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Georgien lag in den Jahren 2021, 2022 und 2023 bei rund 9,7 %. Und auch in diesem Jahr liegt das Wirtschaftswachstum nach vorläufigen Angaben bei 10 %. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, diesen Trend beizubehalten.
Wir wissen, dass Georgien ohne korrekte Wirtschaftszahlen niemals als Mitglied, als vollwertiges Mitglied, in die Europäische Union aufgenommen werden wird.
Euronews: Wie weit ist der Dialog mit der EU in Bezug auf Ihre EU-Mitgliedschaft gediehen und wie sieht die nächste Phase für Georgien aus?
Kobachidse: Leider stehen wir im Moment vor einigen Herausforderungen in Bezug auf den Dialog, aber im Allgemeinen, wenn wir die Ergebnisse unserer Politik zusammenfassen, ist es der Regierung unter „Georgischer Traum“ gelungen, alle wichtigen Schritte zum EU-Beitritt zu erreichen.
Es ist uns gelungen, das Beitrittsabkommen mit der Europäischen Union im Jahr 2014 zu unterzeichnen.
Es ist uns gelungen, das DCT mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Wir haben die Visafreiheit für unsere Bürger erreicht.
Und schließlich gelang es der Regierung unter „Georgischer Traum“, Georgien den Status des Beitrittskandidaten zu verschaffen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass sich die Beziehungen zwischen Georgien und der EU sowie zwischen Georgien und den USA wesentlich verbessern werden, sobald diese Wahlen vorbei sind und der Krieg in der Ukraine beendet ist.
Euronews: Was bedeutet Europa für Sie als Georgier, und was würde es bedeuten, Teil dieses Clubs zu sein, den man als Europäische Union bezeichnet?
Kobachidse: Die Zugehörigkeit zur europäischen Familie ist eine Art historische Entscheidung für Georgien und für die Georgier.
Sie wissen, dass wir eine christliche Nation sind und Europa immer mit dem Christentum verbunden war. Es ging darum, es zu verteidigen und das Christentum für Georgien zu schützen.
Aus diesem Grund war Europa für Georgien und die Georgier immer eine natürliche Wahl.
Und das ist einer der Gründe bzw. der stärkste Grund, warum wir ein vollwertiges Mitglied der europäischen Familie sein wollen.
Die Zugehörigkeit zu Europa bedeutet auch ein höheres Wohlstandsniveau, was wiederum Fortschritt für die Georgier bedeutet.
Aus diesem Grund engagieren wir uns sehr für diese außenpolitische Priorität Georgiens.
Euronews: Sind Sie pro-russisch oder anti-europäisch? Können Sie das für uns ein für alle Mal klären?
Kobachidse: Wir sind als Regierung eindeutig pro-europäisch, und das haben wir durch unser Handeln bewiesen. Und auch hier gibt es ganz konkrete Maßnahmen, mit denen wir das Land auf die EU ausgerichtet haben.
Deshalb ist für derartige Manipulationen seitens der Opposition kein Platz. Das ist ihre Entscheidung. Das ist ihre Aufgabe. Das ist ein Teil der Demokratie.
Wir werden auch in Zukunft alles tun, um den EU-Beitritt Georgiens zu fördern.
Euronews: Sie sprechen natürlich nicht nur mit der EU, was Sie alle eindeutig tun, sondern auch mit Regierungen in der ganzen Welt. Wann haben Sie das letzte Mal mit dem Kreml gesprochen?
Kobachidse: Wir haben keine diplomatischen Beziehungen zu Russland. Georgien ist vermutlich das einzige Land in der Region, das keine diplomatischen Beziehungen zu Russland unterhält.
Wir stehen mit unseren westlichen Partnern in Europa und den USA in Verbindung. Das ist der aktuelle Stand der Dinge.
Euronews: In dieser Woche haben wir wieder einmal Wahlen in anderen Ländern erlebt, und insbesondere in Moldawien gab es viele Kontroversen über die Beteiligung Russlands am dortigen politischen Prozess. Werden wir so etwas auch in Georgien erleben?
Kobachidse: Ich kann sagen, dass Russland in Georgien keinen Einfluss hat.
Es gibt keine politischen Parteien, die von Russland beeinflusst werden. Es gibt keine Medienkanäle, die unter dem Einfluss Russlands stehen.
Aus diesem Grund kann die russische Seite die Wahlen in Georgien nicht beeinflussen.
Euronews: Es hat den Anschein, dass Sie bestimmte Kreml-Narrative in Bezug auf einige der politischen Maßnahmen und Gesetze, die hier eingeführt werden, wie z. B. die Gesetze über „ausländische Agenten“ und LGBTQ+, teilen. Ist das etwas, von dem Sie sagen würden, dass es ihren Vorstellungen entspricht?
Kobachidse: Dies sind die Entscheidungen der georgischen Regierung. Und diese Entscheidungen haben nichts mit den Entscheidungen der russischen Regierung zu tun.
Wir haben das Transparenzgesetz eingeführt, und der Inhalt dieses Gesetzes hat nichts mit dem Inhalt des russischen Gesetzes über NRO zu tun, es geht nur um Transparenz.
Eine weitere Maßnahme, die in diesem Gesetz vorgesehen ist, besteht darin, sicherzustellen, dass die NRO ihre jährlichen Finanzerklärungen an den Justizminister übermitteln, und das ist alles.
Es gibt keine Einschränkungen. Deshalb war diese Meldung über das russische Gesetz eine reine Fälschung. Auch die Gesetze über LGBTI sind eine nationale Entscheidung.
Euronews: Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, scheint sich der Ton geändert zu haben. Sieht Georgien dies als Chance, sich unabhängig Gehör zu verschaffen? Und wenn diese Gelegenheit besteht, was bedeutet sie für Sie?
Kobachidse: Nun, im Allgemeinen unterstützen wir die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nachdrücklich, und wir haben die russische Militäraggression mehrfach verurteilt.
Wir haben uns mehr als 600 internationalen Aktionen zur Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine und zur Verurteilung der russischen Militäraggression angeschlossen.
Deshalb können wir mit aller Entschiedenheit sagen, dass unsere Position in Bezug auf den laufenden Krieg in der Ukraine unmissverständlich ist. Dieser Standpunkt stützt sich natürlich auf internationale Rechtsnormen.
Euronews: Jeder Krieg bringt Schrecken mit sich, wie wir in der Ukraine sehen, und Georgien hat im Laufe der Geschichte Gebiete verloren. Wie hat Sie das als Person und als Politiker in Bezug auf Ihre Tätigkeit während Ihrer gesamten Laufbahn* geprägt?*
Kobachidse: Wir haben eine sehr komplizierte Geschichte, insbesondere in den letzten 30 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Aber wir haben auch eine Menge gelernt. Diese Erfahrung hat uns in den letzten zehn Jahren geholfen, viele Probleme zu vermeiden.
Für mich als Politiker ist diese Erfahrung sehr nützlich und sehr wichtig.
Euronews: Was bedeutet das für ein Land wie Georgien, das von Kriegsgebieten umgeben ist?
Kobachidse: Das bringt uns natürlich in eine sehr komplizierte Situation. Aber trotz all dieser Herausforderungen ist es uns gelungen, den Frieden im Lande zu bewahren.
Euronews: Wie reagieren Sie auf die westlichen Sanktionen gegen Russland und welche Auswirkungen haben sie auf die Region?
Kobachidse: Die Opposition hat uns gedrängt, uns diesen Sanktionen anzuschließen, aber wir haben eine andere Entscheidung getroffen, und ich kann das sehr leicht erklären.
Der Anteil des georgischen Handels am gesamten russischen Handel beträgt 0,3 %. Natürlich kann Georgien die russische Wirtschaft nicht durch die Einführung von Wirtschaftssanktionen schädigen.
Zugleich würde die Einführung von Sanktionen eine Eskalation des Konflikts bedeuten. Deshalb hatten wir gute Gründe, der Forderung der Opposition nicht zu folgen.
Aber auch hier tun wir unser Bestes, um zu verhindern, dass jemand georgisches Territorium nutzt, um die Sanktionen zu umgehen.
Euronews: Lassen Sie uns über Handel und Energiesicherheit sprechen, die für diese Region sehr wichtig sind. Welche Rolle spielt Georgien hier? Die strategische Lage ist für Georgien entscheidend, nicht wahr?
Kobachidse: Die Stärkung der Vernetzung Georgiens ist für uns eine zentrale Aufgabe, insbesondere angesichts der neuen geopolitischen Umstände.
Wir haben zum Beispiel ein sehr wichtiges strategisches Projekt, das uns mit Aserbaidschan und der Türkei verbindet.
Das Untersee-Stromkabel durch das Schwarze Meer und die Internetkabel-Projekte werden Georgien mit dem europäischen Markt verbinden.
Und wir investieren auch viel in den Ausbau der Infrastruktur. Es ist uns gelungen, in Georgien rund 300 km Autobahnen zu bauen, und jetzt haben wir den Bau eines neuen Hafens am Schwarzen Meer in Auftrag gegeben.
Außerdem bauen wir einen neuen internationalen Flughafen in Tiflis und erweitern die Kapazitäten des internationalen Flughafens von Kutaisi.