Die Ukraine will 1.000 Kriegsgefangene mit Russland austauschen. In russischer Haft erleben viele Misshandlungen – und hören bizarre Angebote wie: „Schließt euch uns an, um Europa zu erobern.“
Als sich die Ukraine und Russland in der vergangenen Woche darauf einigten, ihre Kriegsgefangenen im Rahmen eines Austausches von 1.000 gegen 1.000 freizugeben, war dies ein kleiner Hoffnungsschimmer für viele Familien.
In den meisten Fällen wissen Angehörige ukrainischer Gefangener nicht, wo ihre Liebsten festgehalten werden, ob sie verlegt wurden, unter welchen Bedingungen sie leben – oder ob sie überhaupt noch am Leben sind.
Alles, was sie tun können, ist, mit Fotos vermisster oder gefangener Soldaten zu Tauschaktionen zu kommen, in der Hoffnung, dass jemand aus dem Austausch die Gesichter wiedererkennt und Informationen geben kann – vielleicht, weil sie im selben Gefängnis oder sogar in derselben Zelle saßen.
Die Fotos tragen häufig Namen, Brigadezugehörigkeit und manchmal das Datum des Verschwindens – sofern es bekannt ist.
Am 6. Mai nahm eine ukrainische Mutter an einem dieser Austausche teil. Sie hielt eine Fahne mit dem Foto ihres Sohnes in der Hand. Einer der freigelassenen Soldaten erkannte ihn und berichtete, dass er mit ihm in einer Zelle saß – er sei am Leben und halte sich „gut“.
Neun von zehn ukrainischen Kriegsgefangenen berichten von Folter in russischer Gefangenschaft – von physischer und psychischer Gewalt, sexuellen Übergriffen, illegalen Urteilen und sogar Hinrichtungen.
Volodymyr Labuzov, leitender Sanitätsoffizier der 36. Marinebrigade, war einer von ihnen. Er wurde in Mariupol stationiert, als Russland im Frühjahr 2022 seine Großinvasion begann.
Wochenlang verteidigte seine Einheit die belagerte Stadt, bis Labuzov und andere im April 2022 von russischen Truppen gefangen genommen wurden.
Im Interview mit Euronews erklärte Labuzov, dass Russland nicht nur Soldaten, sondern auch Tausende ukrainischer Zivilist:innen – darunter Kinder – festhalte. Viele hätten keinerlei Verbindung zum Militär und müssten bedingungslos freigelassen werden.
Zwar sei der Austausch von 1.000 gegen 1.000 sinnvoll, betonte Labuzov, aber nur, wenn es sich um militärisches Personal handle.
„Russland macht keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten“, sagte er. Die meisten der Inhaftierten stammen laut Labuzov aus Gebieten, die Russland angeblich „befreit“ habe. Doch auch dort würden Zivilist:innen ebenso misshandelt wie Soldaten.
Wie viele ukrainische Zivilist:innen aktuell in russischen Gefängnissen sitzen oder unter Besatzung leben, ist unklar.
„Sie werden gezwungen, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen – nur um überleben zu können oder sich überhaupt auf den Straßen ihrer Dörfer bewegen zu dürfen. Ohne russischen Pass ist man ein Niemand“, so Labuzov.
Er nennt das „eine der größten Demonstrationen von Völkermord an der ukrainischen Nation durch ihren nördlichen Nachbarn“.
Wenn Zivilist:innen sich weigerten, die Bedingungen zu akzeptieren, oder sich den russischen Truppen widersetzten, würden ganze Ortschaften ausgelöscht. „Das ist in Mariupol geschehen – ich habe es mit eigenen Augen gesehen“, berichtet Labuzov.
Ebenso seien Städte wie Awdijiwka, Bachmut und Soledar systematisch zerstört worden: „Es ist nichts mehr übrig. Nur noch Ruinen.“
Viele ehemalige Kriegsgefangene berichten, dass ihnen wiederholt gesagt wurde, die Ukraine existiere nicht mehr, ihr Land habe sie vergessen. Labuzov ergänzt: „Sie bieten uns an, die Seiten zu wechseln und Europa gemeinsam zu besetzen.“
„Bei einem Verhör boten mir diese Folterer an, mit ihnen zusammenzuarbeiten“, erinnerte er sich. „Sie sagten: ‚Unser Ziel ist es, dass du dich uns anschließt – damit wir gemeinsam Europa besetzen.‘“
Laut Labuzov erhalten fast alle ukrainischen Gefangenen solche Angebote. „Diese Leute sagen: ‚Komm zu uns. Wir befreien die Ukraine und erobern Europa.‘“
Sein Appell zum Schluss: „Ich hoffe, dass sich die europäische Gesellschaft mehr für das interessiert, was in der Ukraine passiert – und was ukrainischen Gefangenen in russischer Haft angetan wird.“