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"Perpetuum mobile": Sind EU-Sanktionen rechtswidrig?

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen und die Außenbeauftragte der Europäischen Union Kaja Kallas am 10. Juni 2025 im EU-Hauptsitz in Brüssel
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen und die Außenbeauftragte der Europäischen Union Kaja Kallas am 10. Juni 2025 im EU-Hauptsitz in Brüssel Copyright  Geert Vanden Wijngaert/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.
Copyright Geert Vanden Wijngaert/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.
Von Johanna Urbancik
Zuerst veröffentlicht am
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Die EU-Sanktionen gegen Russland treffen nicht nur Oligarchen, sondern auch deren Familien – Experten kritisieren Effizienz und Rechtsstaatlichkeit des Systems und fragen, ob Teile der Sanktionen rechtlich haltbar sind.

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 hat die Europäische Union über 2.500 Personen und Institutionen sanktioniert.

Für sanktionierte Personen bedeutet das: Ihre Konten in der EU werden eingefroren, sie dürfen nicht mehr in die EU einreisen, und es ist verboten, ihnen – direkt oder indirekt – Vermögenswerte oder finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.

Mit diesen Maßnahmen will die EU die russische Wirtschaft schwächen, die militärischen Kapazitäten Moskaus begrenzen und zugleich ein Signal für die Geltung des Völkerrechts und die Unverletzbarkeit nationaler Grenzen senden.

Wie die Sanktionen zustande kommen

Formell werden Sanktionen in einem zweistufigen EU-Verfahren verhängt: Zunächst fällt der Rat im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einen Beschluss, daran schließt eine Verordnung nach Artikel 215 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) an.

In der Praxis tut sich insbesondere Deutschland jedoch weiterhin schwer bei der konsequenten Durchsetzung der Maßnahmen. Im Dezember 2024 meldete das Bundesfinanzministerium, dass in Deutschland Vermögenswerte russischer Herkunft im Wert von rund 3,5 Milliarden Euro eingefroren sind.

Gleichzeitig ist die für die Durchsetzung zuständige Zentralstelle für Sanktionsdurchsetzung (ZfS) chronisch unterbesetzt: Laut Medienberichten waren 2024 zwar über 120 Vollzeitstellen vorgesehen, tatsächlich besetzt waren zu diesem Zeitpunkt aber nur 45. Wie effektiv Vermögenswerte sanktionierter Personen damit tatsächlich aufgespürt und eingefroren werden, bleibt offen.

"Schlampige" Sanktionspolitik und ein "Perpetuum mobile"

Vor diesem Hintergrund übten der österreichische Rechtsanwalt und EU-Sanktionsrechtsexperte Gabriel Lansky und der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler bei einer Pressekonferenz in Berlin scharfe Kritik an der europäischen Sanktionspraxis. Lansky bezeichnete die europäische Sanktionspolitik als "schlampig" und warf der EU vor, rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen und Entscheidungen der Gerichte zu ignorieren.

Besonders problematisch für ihn sei das, was er als "Perpetuum mobile der Sanktionen" beschreibt: Die Russlandsanktionen werden alle sechs Monate verlängert. Selbst wenn Betroffene vor dem Gericht der EU erfolgreich gegen ihre Listung vorgehen, ist daher aufgrund der langen Verfahrensdauer im Regelfall bereits eine neue Sanktionsrunde erlassen worden und der Betroffene verbleibt auf der Liste.

Lansky spricht von "zeitlich offenen Strafen ohne Garantien" und sieht darin einen Verstoß gegen Grundrechte, insbesondere gegen Artikel 47 der EU-Grundrechtecharta (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht). Die sanktionierten Personen seien seiner Meinung wirtschaftlich "praktisch tot", obwohl sie vor Gericht Recht bekommen hätten.

Die Sanktionsregelungen gegen Russland existieren bereits seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und wurden nach der großangelegten Invasion 2022 massiv ausgeweitet. Derzeit werden sie im Halbjahresrhythmus verlängert und gelten – Stand 2025 – mindestens bis Anfang 2026 weiter. Gleichzeitig signalisiert die EU, dass sie mit weiteren Sanktionspaketen Druck auf Russland ausüben will, solange der völkerrechtswidrige Agriffskrieg andauert.

"Sippenhaft" durch Familienlistungen?

Ein weiterer Kritikpunkt Lanskys ist die aus seiner Sicht "oft willkürliche Auswahl" der Betroffenen – vor allem dort, wo Familienangehörige auf die Sanktionslisten gesetzt werden. Er spricht von einer Art "Sippenhaft".

Nach Angaben des Europäischen Rates werden Personen gelistet, die für Handlungen verantwortlich sind, welche die territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben. Betroffen sind unter anderem politische Entscheidungsträger, führende Geschäftsleute sowie Akteure, die Russlands Staatseinnahmen oder Militär stärken.

Seit Juni 2023 erlauben geänderte Regelungen des Rates der Europäischen Union, auch "unmittelbare Familienmitglieder" führender russischer Geschäftsleute zu listen. Begründet wird dies damit, dass Vermögenswerte und Kontrolle über Vermögen häufig über Familienmitglieder oder Strohmänner verlagert werden, um Sanktionen zu umgehen.

Lansky hält diese Praxis für problematisch: Aus gezielten Sanktionen sei "ein familiäres Haftungsregime" geworden. "Man bleibt gelistet wegen des falschen Nachnamens, nicht wegen eigenen Handeln", sagt er mit Blick auf Ehepartner oder Kinder, denen nach seiner Auffassung nach keine aktive Rolle im russischen System nachgewiesen werde.

Dr. Gabriel Lansky und Peter Gauweiler in Berlin, 01.12.2025
Dr. Gabriel Lansky und Peter Gauweiler in Berlin, 01.12.2025 Foto zur Verfügung gestellt von StoryMachine New Classic

Beispiel Pumpyansky: Unternehmer und Familie im Fokus

Anschaulich macht Lansky seine Kritik am Fall des russischen Unternehmers Dmitry Pumpyansky.

Laut EU-Begründung wurde Pumpyansky sanktioniert, weil er als Eigentümer und Leiter von TMK und der Sinara-Gruppe enge wirtschaftliche Verbindungen zu staatlichen Konzernen wie Gazprom unterhielt und damit zur Einnahmenerzielung des russischen Staates beitrug.

In dem EU-Sanktionsdokument vom 9. März 2022 heißt es, dass Pumpyansky "am 24. Februar 2022, nach den ersten Phasen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, sich zusammen mit 36 anderen Geschäftsleuten mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und anderen Mitgliedern der russischen Regierung getroffen habe, um die Auswirkungen der Maßnahmen im Zuge der westlichen Sanktionen zu erörtern."

Die Sanktionen werden demnach mit diesem Treffen begründet, da es der EU zufolge zeige, dass Pumpyansky "zum engsten Kreis des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin", gehört.

Dmitry Pumpyansky, Leiter von TMK, Russlands größtem Hersteller von Stahlrohren für die Öl- und Gasindustrie am  18. September 2014
Dmitry Pumpyansky, Leiter von TMK, Russlands größtem Hersteller von Stahlrohren für die Öl- und Gasindustrie am 18. September 2014 Maxim Shemetov/AP

Die EU wertet zudem seine Funktionen in regionalen Wirtschaftsverbänden und gemeinsame Vermögensstrukturen mit seiner Familie als Sanktionsgrundlagen. Das Gericht der Europäischen Union (EUG) sieht das allerdings anders: in drei Urteilen hat es sämtliche Sanktionen gegen Dmitry Pumpyansky seit September 2022 als unzureichend begründet und ungerechtfertigt aufgehoben. Pumpyansky bleibt allerdings aufgrund der halbjährlichen Verlängerungen dennoch sanktioniert, die Gerichtsverfahren kamen jeweils erst dann zum Abschluss, als bereits die neueste Verlängerung verhängt wurde.

Neben Pumpyansky selbst wurde auch sein Sohn Alexander Pumpyansky gelistet, der bereits seit seiner Jugend in Genf lebt und als Doppelstaatsbürger tief in der Schweiz verwurzelt ist. Die EU rechtfertigt die Sanktionen gegen ihn unter anderem mit ihrer familiären Bindung und der damit verbundenen mutmaßlichen Nähe zu Dmitry Pumpyansky.

Doch auch in seinem Fall hat das EUG in zwei Entscheidungen alle angefochtenen Sanktionen seit September 2022 als ungerechtfertigt aufgehoben – auch er bleibt sanktioniert, Verfahren gegen die neuesten Sanktionen laufen.

Zur Begründung für die Listung seines Sohnes führt der Rat an, Alexander sei ein "unmittelbares Familienmitglied", das von seinem Vater Dmitry Pumpyansky profitiert.

Lansky argumentiert, Familienangehörige dürften seiner Ansicht nach nur dann gelistet werden, wenn konkrete Nachweise für sanktionswürdige Handlungen vorlägen – "nicht einfach, weil du eine Frau oder ein Sohn oder eine Tochter bist". Im Fall von Alexander Pumpyansky haben die Sanktionendem Anwalt zufolge ein Fortführen seines Lebens in Genf unmöglich gemacht, da er mit seiner Frau und seinen Kindern, die dort geboren wurden, die Schweiz verlassen musste.

Rechtsstaat, Gewalteinteilung und Grundrechte

In Berlin betonen Lansky und Gauweiler, dass das europäische Sanktionssystem "dringend reformiert" werden müsse, um rechtsstaatlichen Standards zu genügen.

Gerichtsentscheidungen müssten ihrer Meinung nach konsequent umgesetzt werden: Wird eine Listung aufgehoben, dürfe eine erneute Aufnahme in die Sanktionsliste nur erfolgen, wenn tatsächlich neue, substanzielle und belegbare Fakten vorliegen. Veraltete Medienberichte, pauschale Assoziationen oder formelhafte Begründungen sollten keine Grundlage für schwerwiegende Eingriffe in Eigentums-, Berufs- und Persönlichkeitsrechte sein.

Stattdessen fordern die Juristen eigene Ermittlungen, Plausibilitätsprüfungen und eine klare, nachvollziehbare Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen. Proportionalität müsse Leitprinzip des Sanktionsregimes sein, damit die Maßnahmen gezielt bleiben und Grundrechte nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Nur dann lasse sich das Sanktionssystem dauerhaft rechtsstaatlich legitimieren.

Die Sicht der EU

Der Rat der EU verweist seinerseits darauf, dass Sanktionsentscheidungen auf einer Vielzahl von Quellen beruhen: Neben Regierungsberichten und Medienrecherchen fließen demnach nachrichtendienstliche Informationen der Mitgliedstaaten, Wirtschafts- und Finanzanalysen sowie Untersuchungen von EU-Agenturen wie Europol oder OLAF (Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung) ein.

Jede gelistete Person oder Organisation müsse klar mit Handlungen verknüpft sein, die die territoriale Integrität, Souveränität oder Sicherheit der Ukraine untergraben oder die Einnahmen der Russischen Föderation direkt fördern, betont der Rat.

Die Debatte darüber, ob diese Standards im Einzelfall eingehalten werden – und ob das System in seiner jetzigen Form rechtsstaatlich ausreichend abgesichert ist –, wird jedoch nicht zuletzt durch Fälle wie den der Familie Pumpyansky weiter an Schärfe gewinnen.

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