Er habe "großen Respekt für die Bundeswehr", so der höchste EU-Militärbeamte General Clancy. Er betont im Interview mit Euronews Deutschlands Vorreiterrolle in der Aufrüstung. Ein Vorbild für die europäischen Nachbarländer?
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die europäische Verteidigungshaltung grundlegend verändert. Deutschland hat ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr freigelegt. Das Verteidigungsministerium spricht selbst von einer "historischen Wende" bezüglich des Anstiegs des diesjährigen Verteidigungshaushaltes.
"Deutschland war von Anfang an einer der Vorreiter, wenn es darum geht, die Lücken in den eigenen militärischen Fähigkeiten zu erkennen und darauf mit Investitionen und der eigenen Bereitschaft zu reagieren", sagte General Seán Clancy im Interview mit Euronews über Deutschland.
Seit Mai 2025 ist General Clancy Vorsitzender des EU-Militärausschusses. Er berät unter anderem die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und ist der höchste Militärbeamte Europas. Zuvor war er Stabschef der irischen Streitkräfte.
Neben dem Sondervermögen hat Deutschland schon seit 2022 deutlich aufgerüstet: Im europäischen Kooperationsrahmen wurden mehrere hundert Panzer bestellt, für die eigenen Bestände sind ebenfalls Bestellungen herausgegangen. Auch die Flotte der Kampfflugzeuge und U-Boote soll sich vergrößern. Am Dienstag stellte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) zudem eine neue Truppe zur Drohnenabwehr bei der Bundespolizei vor.
General Clancy: "Deutschland hat große Führungsrolle"
"Deutschland hat in den letzten Jahren eine große Führungsrolle übernommen", so Clancy weiter. "Als eines der wichtigsten Länder innerhalb der EU-Mitgliedstaatenstruktur spielen sie meiner Meinung nach eine sehr wichtige Rolle bei der Gestaltung der zukünftigen Verteidigungspolitik."
Die geplante und bereits teilweise umgesetzte Aufrüstung diene inbesondere auch der "Abschreckungsfunktion, die dazu beitragen wird, dass wir auch in Zukunft ein sicheres und friedliches Europa haben", erklärte der Vorsitzende des EU-Militärausschusses.
Deutschlands Führungsrolle sei für einen zentralen Beitragszahler zur Europäischen Union auch zu erwarten. Damit gehe auch ein gewisser Einfluss auf die anderen Mitgliedsstaaten einher. "Die Stärke der Europäischen Union liegt natürlich in ihrer Einheit und darin, dass 27 Mitgliedstaaten zu einer einvernehmlichen Sichtweise gelangen können. Aber wir erkennen natürlich auch an, dass jeder Mitgliedstaat seine Stärken hat", so Clancy.
Eine der deutschen Stärken sei ihm zufolge die militärische Kapazität und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr, außerdem "ihre zahlenmäßigen Vorteile und natürlich ihre breitere Perspektive in Bezug auf die Militär-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik." Der Einfluss sei hier, so Clancy, sowohl finanziell als auch politisch bemerkbar. Gerade würden sich die europäischen Länder in einer Phase befinden, in der "wir Politik in die Tat umsetzen müssen".
Wehrdienstpläne im Bundestag besiegelt
Gesagt, getan: Am Freitag wurde im Bundestag das neue Wehrdienst-Modernisierungsgesetz beschlossen. Nun muss noch der Bundesrat zustimmen. Nach monatelangen Diskussionen ist die Regierung zu dem Schluss gekommen, dass der Wehrdienst freiwillig bleiben soll. Bereits ab Januar 2026 soll das Gesetz greifen.
Eine verpflichtende Musterung gilt dann für alle ab dem Geburtsjahr 2008. Männer und Frauen erhalten mit 18 Jahren einen Fragebogen zu Motivation und Eignung. Männer müssen diesen ausfüllen. Aufgrund fehlender Strukturen werden komplette Jahrgänge vermutlich erst ab Juli 2027 ganzheitlich gemustert.
"Dieser Wehrdienst ist freiwillig und er bleibt es", betonte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Rahmen der Abstimmung am Freitag. "Wenn es nicht reicht, werden wir um eine Teil-Wehrpflicht nicht umhinkommen", sagte er weiter. Bei fehlenden Rekruten könnte es zu einer Wehrpflicht kommen - diese müsste allerdings mit einem neuen Gesetz beschlossen werden.
"Hier liegt es an den einzelnen Mitgliedstaaten zu entscheiden, denn bei den Fähigkeiten geht es natürlich nicht nur um Hardware", kommentierte General Clancy. "Es geht um Menschen, Logistik, Unterstützungsstrukturen, es geht um Infrastruktur, um Doktrin und darum, wie man Fähigkeiten implementiert." Dennoch sei es, so Clancy, die Sache "jedes einzelnen Mitgliedstaats ist, zu entscheiden, welchen Grad an Bereitschaft er bei seinen Menschen benötigt".
Für den General ist der Faktor Mensch "wahrscheinlich sogar der wichtigste Teil". Dass hier auch große Uneinigkeit herrscht, zeigen nicht zuletzt die Proteste der Initiative "Schulstreik gegen Wehrpflicht" am Freitag in mehr als 90 deutschen Städten. In Berlin versammelten sich etwa 3.000 junge Menschen, teilweise in erwachsener Begleitung, in Kiel waren es 1.000, in Freiburg 600.
Großen Respekt für die Bundeswehr
Natürlich sei die Wehrpflicht eine der Möglichkeiten, die Mitgliedsstaaten bei der Aufrüstung prüfen müsse, wie Clancy Euronews erzählt. "Und ich begrüße eine solche Debatte, weil sie zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen Verteidigung und Sicherheit und unseren Werten und unserer Lebensweise beiträgt."
Für ihn gehe es nicht darum, militärische Kapazitäten für einen Krieg aufzubauen, sondern Kapazitäten, um einen Krieg zu verhindern und Frieden zu ermöglichen, weil Abschreckung gewährleistet sei. "Es geht darum, sicherzustellen, dass wir die demokratische Lebensweise, die wir genießen, schätzen und pflegen, bewahren können", so Clancy. "Und ich würde die Kompetenz der nächsten Generation, diese Dinge zu verstehen, nicht unterschätzen."
Der Bundeswehr spricht der Chef des Militärausschusses seine Bewunderung aus. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, habe in Zeiten großer Herausforderungen enorme Charakterstärke, Kompetenz, Belastbarkeit und Führungsstärke bewiesen. "Ich habe daher großes Vertrauen in die Bundeswehr, ihre Fähigkeiten und die Rolle, die sie derzeit im militärischen Bereich innerhalb Europas spielt", erklärte Clancy.
Deutschland ist mit dem neuen Plänen zum Wehrdienst nicht allein. Andere Länder planen ähnliche Schritte oder haben bereits Regelungen für den Dienst im Militär verändert. "Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass wir einen Krieg auf dem europäischen Kontinent erleben, einen Krieg in vollem Umfang", rufte General Clancy in Erinnerung.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine muss die Sicherheitslage und die Kapazität der Verteidigung ihm zufolge neu bewertet und überdacht werden. "Wir mussten unsere Herangehensweise und unseren Status ändern. Nach dem Kalten Krieg befanden wir uns vielleicht in einer Phase der Ruhe, vielleicht in einem falschen Gefühl der Sicherheit."
General Clancy gegen EU-Militärbündnis
Bis zu 800 Milliarden Euro sollen im Rahmen des Verteidigungspakets ReArm Europe Plan/Readiness 2030 mobilisiert werden, um die Lücke zu schließen. Dieses ehrgeizige Ziel schlug Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im März des laufenden Jahres vor. Die Mitgliedsstaaten reagierten unterschiedlich auf die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Kreditaufnahme. Insbesondere die Niederlande, Spanien und Italien zeigten sich zunächst skeptisch.
Inzwischen steht fest, dass mindestens 18 Mitgliedsstaaten Interesse an SAFE-Darlehen bekundet, die Beschaffungen belaufen sich auf rund 127 Milliarden Euro, so eine Meldung der Europäsichen Kommission.
"Es ist Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, zu entscheiden, welchen Grad an Bereitschaft er bei seinen Menschen benötigt", sagte auch General Clancy und betont, dass die EU kein Militärbündnis sei. "Daher liegt die Souveränität in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten." Eine Militärunion der EU, zusätzlich zur NATO, steht für den Vorsitzenden des EU-Militärausschusses außer Frage.
"Aus militärischer Sicht müssen wir natürlich verstehen, dass wir in jedem einzelnen souveränen Staat nur über eine einzige Streitmacht verfügen. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese gemeinsam einsetzen können", erklärte Clancy. Die Rolle Europas sehe er in der politischen und strukturellen Unterstützung. "Ich denke, dass Europa den einzelnen Mitgliedstaaten Instrumente und Erleichterungen in Bezug auf die Gesetzgebung bieten kann."Die kollektive Reaktion der Mitgliedsländer auf Bedrohungen werde ihm zufolge dann verbessert, wenn für Kohärenz gesorgt sei und Doppelarbeit vermieden werde.