Zwischen Emotionen und Gesellschaftskritik: visionäre Opernregisseure, die neue Wege gehen

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Von Andrea BüringSabine Sans
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Sie stellen die Welt der klassischen Musik auf den Kopf - Lydia Steier, Simon Stone und Tobias Kratzer sind begabte junge Opernregisseure. Sie arbeiten regelmäßig an den renommiertesten Opernhäusern im In- und Ausland. Ihre Produktionen wurden wiederholt mit Preisen ausgezeichnet. Ihr Geheimnis?

Diese neue Generation von Regisseuren vermag es, klassischen Meisterwerken eine moderne Wendung geben - wie die epische Erzählung "Faust", inszeniert von Tobias Kratzer an der Pariser Opéra Bastille. Eine Oper wie im Film.

"Man sitzt in einer Welt, die einen körperlich ergreift"

"Faust ist ja eine Grand Opéra", sagt der gefragte Regisseur. "Und da war mir sehr klar, da muss auch wirklich ein Spektakel abbrennen. Für diesen großen Trip, den Faust und Mephisto in unserer Inszenierung durch Paris unternehmen, da muss auch eine Überfülle an Bildern ran."

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Tobias Kratzereuronews

Der Direktor der Pariser Oper Alexander Neef meint: "Tobias hat sehr gut verstanden, dass man heute eine zeitgenössische Idee für 'Faust' liefern kann, aber mit heutigen Mitteln, mit Videos. Das war alles sehr gut gemacht. Wir vermitteln dem Publikum den Eindruck, dass diese Geschichte aktuell ist."

Die Zeitschrift "Opernwelt" kürte Kratzer 2020 zum "Regisseur des Jahres".

Das Geheimnis seines Erfolges? Eine Zutat ist sicher sein Team: Videokünstler Manuel Braun und Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier.

"Es wird mit jedem Mal noch interessanter, weil wir animieren uns eigentlich gegenseitig immer wieder, vollständig neue Räume, aber auch neue Ansätze zu Stücken zu entwickeln", findet Kratzer.

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Videokünstler Manuel Braun, Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier und Tobias Kratzereuronews

Wenn es sich anbietet, setzt Kratzer moderne Technologien ein wie Videoprojektionen oder LED-Wände ein. Wie in der Produktion "Moise et Pharaon", die auf dem Opernfestival von Aix-en-Provence Premiere feierte und Anfang des Jahres in Lyon gezeigt wurde. Ein Clip zeigt den Exodus aus Ägypten, der am Strand von Marseille gedreht wurde.

"Für mich war das auch das erste Mal, dass man mit Unterwasser-Kameramännern gearbeitet hat", erzählt Videokünstler Manuel Braun. "Wir hatten zwei Taucher, die unter Wasser gefilmt haben. Das war eine aufwendige Produktion und auch ein sehr tolles Abenteuer. Wir haben versucht den Moment einzufangen, wenn sich das geteilte Meer wieder schließt und die Ägypter ertrinken.”

Für Rossinis Oper über Moses' Auszug aus Ägypten zog Kratzer eine Parallele zur Flüchtlingskrise. "Bei 'Moïse et Pharaon' war für uns von Beginn an noch nicht ganz klar, ob wir auf eine politische Lesart zielen, ob es vielleicht ein großer Glaubensdiskurs wird... Ob Rossini all das mit seiner Musik unterläuft und gar nichts davon das Thema ist. Und irgendwann kommt dann der Moment der Wahrheit, wo man sich für einen Zugang entscheiden und den dann auch sehr konsequent machen muss."

Rainer Sellmaier beschreibt sein Bühnenbild:

"Wir haben einmal als Situation ein Flüchtlingslager. Das ist auf der einen Seite (der Bühne, Anm. der Red.) mit Ruinen, Sand und verlassenen Häusern. Und auf der anderen Seite die westliche Zivilisation in Form eines Großraumbüros von einer NGO."

Was Kratzer an Oper fasziniert? Er formuliert es folgendermaßen: "Man sitzt sozusagen direkt in einer Welt, die einen körperlich ergreifen kann und wo Musik direkt auf den Nervenapparat Zugriff hat."

2025 wartet ein neues Abenteuer auf Kratzer, wenn er den Posten des Intendanten an der Hamburger Staatsoper übernimmt.

"Eine schöne Stimme reicht nicht, es muss sehr gutes Theater sein"

Lydia Steier fortschrittlich, feministisch und bekannt für ihre sehr direkten, visuell intensiven Inszenierungen. Sie ist eine der wenigen bekannten Opernregisseurinnen in Europa.

"Als Frau in diesem Geschäft muss man sich anders verhalten als Männer, man muss sich des Unterschieds in der Wahrnehmung bestimmter Reaktionen aufgrund des Geschlechts bewusst sein", sagt sie. "Ein Mann, der einen Wutanfall bekommt und aus dem Zimmer rennt, ist zum Beispiel ein Perfektionist. Eine Frau, die das tut, ist hysterisch. Genau dasselbe Verhalten, genau dieselbe Situation. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass man das berücksichtigen muss."

Lydia Steier
Lydia SteierLydia Steier
So etwas wie eine traditionelle Inszenierung gibt es nicht. Man muss die Zeit und ihre politischen Zwänge widerspiegeln.
Lydia Steier
Opernregisseurin

Die US-Amerikanerin mit österreichischen Wurzeln kam dank eines William J. Fulbright-Stipendiums nach Deutschland. Zunächst wollte sie Sängerin werden, bevor sie ihre Berufung fand. 

"Wir haben es mit enormen Kräften zu tun. Wenn man die Oper "Frau ohne Schatten" sieht, dann sind das 350 Leute, die an einem Strang ziehen - in perfekter Koordination, um diese Atmosphäre zu schaffen, die einen berühren soll", sagt Steier.

"Die Frau ohne Schatten" ist ein anspruchsvolles Werk voller Symbole - es wird beeinflusst von Freuds Traumdeutung. Steier inszenierte es für die Osterfestspiele Baden-Baden.

Oft arbeitet die Regisseurin mit Bühnenmodellen. "Alle meine Bühnenbildner wissen, dass es bewegliche Elemente geben muss. Ich liebe schnelle Veränderungen und Treppen, Bewegungen müssen möglich sein", erklärt Lydia Steier. "Es ist unmöglich, all die Bilder zu gestalten, die auf der Bühne passieren müssen, ohne sie vorher am Modell mit den Händen durchgespielt zu haben."

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Die Regisseurin mag Treppen und probt die Bühnenbilder am Modelleuronews

Steier wuchs mit Filmmusicals und Broadway auf. Moderne Einflüsse, die ihre Opernproduktionen prägen. Die Regisseurin:

"Ich will das Publikum verführen, es unterhalten und für eine visuelle Sprache begeistern, um dann Salz in die Wunde zu streuen und zu sagen: Erkennt ihr euch darin nicht wieder? Es geht um uns. Jedes Stück, bei dem ich Regie führe, muss von uns handeln."

"Ich mach keine Oper, wenn sie in unserer Welt nicht vorkommt"

Und schließlich Vorhang auf für den preisgekrönten Regisseur Simon Stone, ein Australier mit Schweizer Wurzeln. Bevor er nach Europa zog, war er als "Enfant terrible" des australischen Theaters bekannt. 

Der Regisseur erwartet von seinen Darstellern, sich durch Improvisationen am Schaffensprozess zu beteiligen, denn "wenn man etwas Neues erreichen will, muss man auf eine Art und Weise arbeiten, die einem selbst unbekannt ist. Wir fordern uns als Künstler nicht genug heraus, um uns in Situationen zu begeben, in denen wir keine Spezialisten sind. Ich bewege mich ständig zwischen den Kunstformen und lerne ständig etwas dazu."

Stone liebt die Herausforderung: Sein Spielfeld sind Theaterstücke, Opern und auch Filme. "The Dig" wurde 2021 für einen BAFTA-Award nominiert.

Auch viele seiner Operninszenierungen erinnern an Filme. Stone verfolgt einen realistischen und intimen Ansatz. 

Eine Handschrift, die besonders gut zur zeitgenössischen Produktion "Innocence" der finnischen Komponistin Kaija Saariaho passt. In der Oper geht es um ein Schulmassaker und seine Spätfolgen. Stones Inszenierung feierte im April am Royal Operahouse in London Premiere.

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Simon Stoneeuronews

So beschreibt Stone seinen Schaffensprozess: "Man hört sich die Musik an, komponiert Bilder und denkt: 'Welchen Film würde ich zu dieser Musik machen? Man muss das Musikstück für das feiern, was es ist, und wenn man die Musik nicht mag, sollte man die Oper nicht machen."

Moderne Themen, Klassiker, die auch heute noch relevant sind, und wirkungsvolle Inszenierungen. All das ist die Oper im 21. Jahrhundert.

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