Gegen russische geopolitische Gier: "Europa muss jetzt in seine Verteidigung investieren" so Kaja Kallas

Estlands Premierminister Kaja Kallas spricht mit Journalisten, als er am 1. Februar 2024 zu einem EU-Gipfel in Brüssel ankommt.
Estlands Premierminister Kaja Kallas spricht mit Journalisten, als er am 1. Februar 2024 zu einem EU-Gipfel in Brüssel ankommt. Copyright AP Photo/Omar Havana
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Von Maria Psara, Alice Tidey
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Die europäischen Länder müssen angesichts der russischen geopolitischen Gier jetzt massiv in die Verteidigung investieren, meint Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas: "Denn wenn man sie braucht, ist es zu spät".

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Vor dem zweitägigen EU-Gipfel in Brüssel, auf dem die Unterstützung der Ukraine und die europäische Verteidigung ganz oben auf der Tagesordnung stehen werden, hat die Ministerpräsidentin Estlands Kaja Kallas, vor Russland und seiner geopolitischen Gier gewarnt. 

Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, könnten einige europäische Länder ins russische Visier geraten, so Kallas in einem Hintergrundgespräch mit Medien, darunter auch Euronews: „Wenn wir nicht wollen, dass dieser Krieg noch weiter geht, müssen wir den Ukrainern wirklich helfen, sich zu verteidigen. Es steht eindeutig nicht nur die europäische Sicherheitsarchitektur auf dem Spiel, sondern auch die globale Sicherheitsarchitektur."

Wenn wir der Ukraine wirklich helfen, müssen wir uns keine Gedanken darüber machen, wer als Nächstes dran ist.
Kaja Kallas
Ministerpräsidentin Estlands

Sie forderte die Länder der Ramstein-Koalition auf, mindestens 0,25% ihres Bruttoinlandsprodukts für die Militärhilfe der Ukraine bereitzustellen. Dies, so argumentierte sie, „würde wesentlich zum Sieg der Ukraine über Russland beitragen“.

„Wenn wir der Ukraine wirklich helfen, müssen wir uns keine Gedanken darüber machen, wer als Nächstes dran ist. Doch wenn die Ukraine fällt, werden wir dasselbe nach einer Pause von einigen Jahren auf breiterer Ebene erleben - vor allem, wenn wir nicht massiv in Verteidigung investieren."

Sie forderte die europäischen Länder auf, ihre eigenen Verteidigungssysteme zu stärken, und zog dabei Parallelen zur Zwischenkriegszeit.

„Wenn du es brauchst, ist es schon zu spät“

„1933 waren die Verteidigungsinvestitionen Estlands auf einem Rekordtief. Und warum? Weil es Friedenszeiten waren. Wir haben unser Land aufgebaut und wir waren ein neutrales Land. 1938, als klar war, dass ein Krieg kurz bevorsteht, wurden die Verteidigungsinvestitionen um 100% erhöht. Aber da war es bereits zu spät", so Estlands Regierungschefin.

„Für ein kleines Land wie Estland bedeutet Krieg immer Zerstörung, er bedeutet menschliches Leid“, sagte sie.

Der baltische Staat, der an Russland grenzt, wurde während des Zweiten Weltkriegs von sowjetischen und nationalsozialistischen Streitkräften überfallen und von 1944 bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 von seinem großen Nachbarn besetzt.

Die Verantwortung, so Kallas, liege bei den politischen Entscheidungsträgern. Sie müssen ihren Wählern die Notwendigkeit eines solchen Investitionsanstiegs erklären und deutlich machen, dass dies nicht mit einer Befürwortung eines Krieges gleichzusetzten ist.

„Das Problem bei Investitionen in die Verteidigung ist natürlich, dass es für Politiker, die bessere Nachbarn haben als wir, in Friedenszeiten sehr schwer ist, dies den Menschen zu erklären“, fügt sie hinzu. „Aber das Problem mit der Verteidigung ist: wenn man sie braucht, ist es bereits zu spät ist, um weitere Schritte zu unternehmen.“

Wir wollen Frieden, aber wir wollen dauerhaften Frieden, und Frieden zu Russlands Bedingungen ist nicht dauerhaft.
Kaja Kallas
Ministerpräsidentin Estlands

„Der Aggressor wird durch Schwäche provoziert. Deshalb setze ich mich auch auf europäischer Ebene dafür ein, mehr für die Verteidigung zu tun und die Verteidigungsinvestitionen zu erhöhen. Der Angreifer wird keinen weiteren Schritt unternehmen, wenn er sieht, dass wir stark genug sind und er nicht gewinnen kann. Doch wenn er denkt, dass wir schwach genug sind und er tatsächlich gewinnen kann, könnte er eine andere Einschätzung treffen. Aber das wollen wir nicht. Deshalb müssen wir alle, alle europäischen Länder, aber auch alle NATO-Länder, in unsere Verteidigung investieren", erklärte Kallas.

Die Finanzierungsfrage

Die EU und ihre 27 Mitgliedsländer befinden sich mitten in einer umfassenden Umgestaltung der Verteidigungspolitik. Die Europäische Kommission legt Vorschläge vor, um die Kapazitäten der europäischen Verteidigungsindustrie unter anderem durch gemeinsame Beschaffungen zu stärken.

Der Bedarf ist umso dringlicher, als viele Mitgliedstaaten ihre vorhandenen Munitionsvorräte durch Spenden an die Ukraine aufgebraucht haben und die europäische Munitionsproduktion - obwohl deutlich höher als vor einem Jahr -  es der EU bisher nicht ermöglicht hat, ihr Ziel zu erreichen, das vom Krieg zerrüttete Land bis März mit einer Million Granaten zu versorgen.

Doch die Finanzierung eines Investitionsschubs spaltet die Staats- und Regierungschefs der EU, zumal viele der EU-Mitgliedstaaten, die auch der NATO angehören, in diesem Jahr das von der Militärallianz angestrebte Ziel von 2% des BIP für Verteidigungsausgaben auch nicht erreichen werden.

Zu den umstrittensten Vorschlägen gehört die Idee, sogenannte Eurobonds auszugeben, um gemeinsam Geld aufzubringen, das ausschließlich für Verteidigungsausgaben vorgesehen wäre.

Gemeinschaftsanleihen der EU wurden erstmals zur Finanzierung des wegweisenden 800-Milliarden-Euro-Plans zur Erholung nach der Pandemie angesprochen. Dies stieß jedoch zunächst auf die strikte Ablehnung durch die sogenannten „sparsamen Länder“ Deutschland, Österreich, Dänemark, Finnland, die Niederlande und Schweden. Sie befürchteten, dass die reicheren Mitgliedstaaten am Ende den Großteil der Kosten tragen würden und dass sich die EU in Zukunft diese Finanzierungsoption für andere, nicht unbedingt notwendige Programme offen haltn würde.

Kallas bekräftigte am Mittwoch ihre Unterstützung für die Emission von Eurobonds zur Finanzierung von Verteidigungsprojekten, die sich auf 100 Milliarden Euro belaufen sollten. Sie sprach sich auch für einen Vorschlag aus, das Mandat der Europäischen Investitionsbank zu überarbeiten, um ihr die Finanzierung von Verteidigungsprojekten zu ermöglichen.

Sie forderte die EU nachdrücklich auf, ihre Pläne zur Nutzung der Zinsgewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten voranzutreiben, um der Ukraine zu helfen, sich selbst zu verteidigen, und weiter gegen die russische Kriegsmaschinerie vorzugehen.

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