Der deutsche Autowahlkampf

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Von Hans von der Brelie
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Kommt der saubere Diesel - oder das Aus für Verbrennungsmotoren? Fahrverbote? Quote für E-Autos? Wohin steuert Deutschland nach der Bundestagswahl?

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Ganz klar, der deutsche Bundestagswahlkampf ist ein mit harten Bandagen geführter “Autowahlkampf”. Diskutiert wird wütend und konfrontativ über dreckige Luft und drohende Fahrverbote, über Batterietechnik und Brennstoffzellen, über Abgasreinigungssysteme und Nahverkehrslösungen. Und über 800.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie sowieso.

Protest am Neckartor

Die Emotionen gehen hoch. Nicht ohne Grund: Der Diesel-Skandal schickt seine Schockwellen bis in den Bundestagswahlkampf. Ein Dieselgipfel jagt den nächsten. Und am Stuttgarter Neckartor, einer vielbefahrenen Verkehrsachse, machen empörte Bürger mobil, hängen Plakate auf gegen Feinstaub und Diesel, für Fahrverbote und frische Luft. Ein Mann in leuchtend gelber Regenjacke radelt auf die Brücke, Manfred Niess, Deutschlands wohl bekanntester Diesel-Gegner. Der pensionierter Lehrer wohnt gleich um die Ecke – und er hat sozusagen die Nase voll.

2005 klagte Niess gegen zu hohe Feinstaubbelastung, 2010 gegen zuviel Stickoxide in der Luft vor seinem Fenster. Auf der Anklagebank: der Diesel, die Autolobby und Politiker die – so Niess – das Problem auf die lange Bank schöben und versuchten, Zeit zu schinden.

Lobbykratie

“Wir leben in einer Lobbykratie”, verschafft Niess seinem Zorn Luft. Er lädt uns ein in seine Wohnung. Die Wände sind bis zur Decke vollgestellt mit Regalen, auf den Brettern Ordner. Prozessakten aus zwölf langen Jahren… “Das Problem ist, dass hier in Stuttgart, aber auch in vielen anderen Städten, die Bevölkerung durch Luftschadstoffe vergiftet wird”, meint Niess mit Schärfe und Nachdruck. “Ich möchte erreichen, dass die Leute hier in Stuttgart in einer Umgebung leben können, wo ihre Lebenserwartung nicht um zwei bis neun Jahre verkürzt wird, nur dadurch, dass sie in dieser Stadt leben.”

Niess wundert sich, dass er vor Gericht zwar Recht bekommt, sich vor seinem Fenster aber nur wenig ändert. Die Grenzwerte für Stickoxide sind weiterhin zu hoch, seit Jahren schon – und immer noch. Zwar mahnt aus der Ferne Brüssel, doch vor Ort braust der Verkehr wie gehabt. Womöglich kommt es deshalb nach der Bundestagswahl zu gerichtlich verhängten Fahrverboten. In diesem Zusammenhang wird nicht nur Stuttgart genannt, auch München kämpft mit einer vergleichbaren Situation. Die Liste der deutschen Städte mit viel zu dreckiger Luft ist lang.

Manfred Niess wirft einen Blick aus dem Fenster, dort dreht sich ein riesiger Stern, Markenzeichen eines bekannten deutschen Automobilkonzerns. Niess holt Luft, dann sagt er: “In Stuttgart ist es die Autoindustrie, die bestimmt, wie die Verhältnisse sind. Die Regierung versucht, Erfüllungsgehilfe der Automobilindustrie zu sein.” Es entsteht eine kleine Pause. Dann schiebt Niess mit einem grimmigen Lächeln nach: “Sie versucht es nicht nur, sondern sie ist es auch.”

(Das vollständige Euronews-Interview mit Feinstaubkläger Manfred Niess finden Sie als Link.)

Tödlicher Dreck?

Die EU-Umweltagentur schätzt, dass in Deutschland jährlich zehntausend Menschen wegen der Luftverschmutzung mit Stickoxid vorzeitig sterben. Die Zahlen und ihre Interpretation sind allerdings hochumstritten. Einige der deutschen Bundesregierung nahestehende Wissenschaftler bezeichnen die EU-Zahlen sogar als unhaltbar. In Brüssel ist man deshalb nicht besonders gut auf Berlin zu sprechen, zumindest was die schleppende Umsetzung von EU-Umweltschutzzielen in Deutschland betrifft.

Das Neckartor gilt als Deutschlands dreckigste Kreuzung. Hier sammelt der Stuttgarter Künstler Erik Sturm städtische Staubablagerungen: Grobstaub, überwiegend aus Reifen- und Bremsbelagabrieb. Sturm streift sich Gummihandschuhe und Atemmaske über, dann staubt er mit einem breiten Pinsel das Klingelschild des Amtsgerichts ab, streift den sattschwarzen Dreck in ein Plastiktütchen mit Verschluss. Eine Trittleiter wird aufgestellt, Sturm hat es auf die Rolladenverschalung abgesehen. Mit einem Plastikkärtchen rückt er den Ablagerungen zu Leibe. Schon bald ist sein Tütchen voll.

Beuys, Duchamp – und Erik Sturm

Bereits Joseph Beuys, Marcel Duchamp und Jeff Wall arbeiteten mit Dreck und Staub. Das Unsichtbare sichtbar machen – das will auch Sturm. Ihm geht es nicht um eine politische Stellungnahme, sondern um die offensichtliche Faszination für einen Ort, das Stuttgarter Neckartor, um das Wechselspiel zwischen Stadt und Mensch, Material und Denken, dem Fassbaren und dem Sagbaren. Vermutlich, denn der Euronews-Reporter ist kein Kunstkritiker und ganz einfach ist es nicht, konkrete Kunst richtig zu verstehen.

Oben auf der Tretleiter schiebt Erik Sturm den Mundschutz weg: “Ich habe hier ein Material entdeckt, das ich selber Neckartorschwarz nenne und das ist ein sehr feiner Staub, der hier am Neckartor in grösseren Vorkommen zu finden ist. Staub ist in aller Munde. Ich hab hier einige Mengen gefunden, die ich nun künstlerisch verarbeite.”

Ein Stuttgarter Museum hat bereits einige seiner fast schwebend anmutenden Neckartorschwarz-Reliefs gekauft. Auch in der BILD-Zeitung stand bereits ein Bericht. Das Neckartorschwarz könnte Sturm zum Durchbruch helfen. Er arbeitet auch mit anderen Stadt-Materialien, Stuttgart ist sozusagen sein Material-Bruch: Von alten Plakatsäulen trägt er fast meterdicke Papierschichten ab, Werbung als geronnene Zeit. Auf Stuttgarter Riesenbaustellen sammelt er verbogene Stahlträger, abgenutzte Tunnelbohrzähne…

Sturms Atelier gleicht halb einem Baustellenlager. Vorsichtig schüttet er die Ausbeute seines heutigen Streifzuges auf eine Glasplatte (Atemschutzmaske immer noch über dem Mund). Nach einem selbstentwickelten Geheimrezept mischt er diverse Zutaten hinein. Es entsteht ein zäher, sattschwarzer Farbbrei.

Politische Farbpalette

Während Sturm sein ganz besonderes Pigment verarbeitet, werfen wir einen Blick auf die politische Farbpalette.

Rot: Der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, Martin Schulz, will EU-Quoten für Elektroautos. Kurz nach dieser öffentlichen Stellungnahme schob die SPD noch einen Fünf-Punkte-Plan in Sachen Auto nach.

Die Grünen fordern das Aus für den Verbrennungsmotor, 2030 soll damit Schluss sein.

Schwarz: CDU-Kanzlerin Merkel meint, dass Verbrennungsmotoren “noch auf Jahrzehnte” gebraucht werden. Allerdings hat sie in einem anderen Interview auch vorsichtig anklingen lassen, dass sie sich auch einen Ausstieg aus der Verbrennungsmotortechnik vorstellen könnte (dies allerdings sehr verklausuliert und ohne konkreten Zeitpunkt formuliert).

Blau-Weiss: Die CSU hat eine Breitseite Richtung Grün abgefeuert, mit den Bayern sei ein Ausstieg aus der Verbrennungsmotortechnik nie und nimmer zu haben.

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Gelb: Liberalen-Chef Lindner bezeichnet die Debatte über dreckige Diesel als “hysterisch”.

Nachwachsender Rohstoff

Neuigkeiten von Erik Sturm: “So, die Farbe Neckartorschwarz ist nun fast fertig. Hier haben wir ein Stück Stuttgart, ein Stück Stadt.” – In dicken Tropfen perlt der Schweiss von der Stirn des Bildhauers, das Zermahlen der Pigmente mit einem Glasmörser kostet Kraft. “Das ist nachwachsender Rohstoff”, meint Sturm und freut sich über die gelungene Formulierung. “Eigentlich könnte man ohne Ende diese spezielle Farbe produzieren, denn von dem Material wird es auch in nächster Zeit noch genug geben…”

Dann streicht Sturm die dicke Farbpaste auf einen Zwischenträger. Dort wird sie trocknen, Risse bilden, sich aufbiegen, in den Raum krümmen und strecken. Eine Skulptur, die sich selber schafft.

Neue Diesel sind sauber

Auch Achim Dittler hat eines der dreidimensionalen Reliefs aus Stadtstaub von Erik Sturm in der Nähe seines Arbeitsplatzes aufgehängt. Dittler ist Professor und Experte für Abgasnachbehandlung, Dieselabgase bei Nutzfahrzeugen und alles, was man unter dem Stichwort Gas-Partikel-Systeme zusammenfassen kann.

Achim Dittler hat über lange Jahre hinweg Abgasreinigungssysteme für einen führenden deutschen Autokonzern entwickelt, heute unterrichtet er an einem technischen Institut, bildet die künftige Ingenieurs-Elite Deutschlands aus. Der Diesel werde “verteufelt”, bedauert er, der Elektroantrieb “überschätzt”.

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Viele Medien berichteten falsch oder unvollständig und nicht nur im Wahlkampf ginge es viel zu emotional zu, meint der Professor. Dittler will die Debatte versachlichen. Fakten sprechen lassen, beispielsweise wenn es um Stickstoffdioxid geht: “Grössenordnungen von wenigen Milligramm pro Kilometer werden als Dreckschleudern bezeichnet, ich denke, wir tun gut daran zu verstehen, was ein Milligramm ist, um das einordnen zu können.” – Beim Vorgespräch in seinem Büro greift er zu einem Zuckerwürfelvergleich: In einer Tasse Kaffee sei ein Würfel Zucker viel… doch verteilt über einen Kilometer wenig.

Dittlers Credo: Verbrennungstechnik bleibe wichtig: Dittler denkt dabei an synthetische Kraftstoffe. Und (seine Kernaussage): neueste Diesel sind sauber. “Der saubere Diesel hat noch eine lange Zukunft”, betont Dittler, Stichwort Transportsektor und CO2-Ziel.

Brückentechnologie

Zudem seien weitere gesetzliche Verschärfungen der Emissionsgrenzwerte “in der Pipeline”, weshalb der Dieselmotor “noch sauberer” werde also heute. Als “Brückentechnologie” sei die Dieseltechnologie “für die nächsten Jahre” einfach notwendig, so Dittler.

Das Problem der heutigen Debatte sei, dass man keinen Vergleich mehr ziehe. Dabei müsse man doch wissen, woher man komme, zeitlich gesehen: “Wir haben kein Blei mehr in der Luft, wir haben kein Schwefeldioxid in der Luft, all die Schadstoffe, die früher als Nervengifte in der Luft waren, sind heute weg. Darum ist die Debatte, wie sie heute in dieser Schärfe geführt wird, für mich im Detail nicht immer nachvollhziehbar, weil ich im Gesamtbild eine deutliche Verbesserung erlebe.”

Und zur Feinstaubdebatte: “Auch Elektromobilität hat Reifenabrieb und Bremsabrieb, so dass der Beitrag zum Feinstaub eines Elektromobils der gleiche ist wie der eines sauberen Diesel.”

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(Das vollständige Euronews-Interview mit Professor Achim Dittler finden Sie als Link.)

Autofreie Stadt

Feinstaub-Messstationen Marke Eigenbau – darauf setzt Jan Lutz. Vor zehn Jahren gründete er das Büro für Gestalten in Stuttgart. Zusammen mit seinem Sohn braucht er zwölf Minuten, dann ist das Messrohr fertig. Die Anleitung steht im Internet, der Bausatz kostet 30 Euros. Bald soll ganz Stuttgart vermessen und vernetzt sein, damit alle ganz genau Bescheid wissen, wo es dreckig ist. Und was dann?

Jan Lutz: “Ich denke aber, dass das Zeitfenster ein bisschen zugegangen ist schon, um normale Standardlösungen zu finden und wir brauchen jetzt wirklich große Lösungen wie eine autofreie Stadt. – Also in der Nahmobilität, da kann man ansetzen, die vollkommen anders zu lösen, mit einem Lastenrad oder zu Fuss oder mit dem Fahrrad auch.”

Lutz legt im Monat tausend Kilometer zurück – mit dem Rad. Auch bei der freitäglichen Fahrrad-Demo macht er mit, zusammen mit zweitausend weiteren Radlern legt Lutz die Stuttgarter Innenstadt lahm.

Wenn die Politiker nichts tun, dann könnten Gerichte in mehreren Städten Diesel-Fahrverbote verhängen. Vielleicht geschieht das bereits 2018.

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Um das zu verhindern, organisierte die schwarz-rote Koalitionsregierung kurz vor der Bundestagswahl ein Treffen mit Oberbürgermeistern und Verkehrspolitikern. Doch können Verkehrsleitsysteme gegen Staus, Umrüstungen von Bussen und Taxen auf Elektroantrieb, mehr Ladestationen für Elektromobile und mehr Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs allein die Luftwerte verbessern und damit gerichtlich verhängte Fahrverbote abwenden?

Und was sagt die Auto-Industrie?

Während die deutsche Bundesregierung rechtzeitig vor der Wahl ankündigte, die Entwicklung alterntiver Motoren und Kraftstoffe zusätzlich fördern zu wollen, will der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie, Matthias Wissmann, dem Diesel auch künftig eine Chance geben: “Der moderne Diesel gehört zu einem zukunftsfähigen und nachhaltigen Antriebsmix dazu.”

Zugleich kritisierte Wissmann die im internationalen Vergleich aus seiner Sicht zu strengen Stickoxid-Grenzwerte der Europäischen Union. – Greenpeace konterte das mit Protesten während der Automesse IAA: Diesel-Pkw seien die Hauptquelle des Atemgifts Stickstoffdioxid im Verkehr. Die jetzt bei der IAA vorgestellten E-Autos kämen meist erst in einigen Jahren auf den Markt, währenddessen die Autofabrikanten weiterhin Dieselkarossen verkauften.

Richtungswahl

Die deutschen Wähler haben bei dieser Bundestagswahl echte Alternativen. Sie können sich entscheiden zwischen dieselfreundlichen und dieselfeindlichen Politikern. Sie können wählen zwischen mehr oder weniger Umweltschutz, jetzt oder später. Sie können mit ihrer Stimme Parteien stützen, die den Verbrennungsmotor verteidigen oder ihn abschaffen wollen.

Die Wähler können, wenn man sich mögliche Koalitionen ansieht, eine “gelbschwarze” Regierung ins Amt wählen. Der Diesel hätte dann wohl noch eine Chance. Oder sie könnten auf eine “grünschwarze” Koalition setzen. Das bedeutet wohl das baldige Aus für alte Dieseltechnik. Der Wahlkampf, von manchen Medien anfangs als langweilig beschrieben, ist nun doch noch spannend geworden.

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