Abtauchen in die Tiefgarage

Abtauchen in die Tiefgarage: Theater zum Durchfahren
Abtauchen in die Tiefgarage: Theater zum Durchfahren Copyright ClearedEuronews
Von Hans von der Brelie
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Schaffen wir gerade das Menschsein ab? Welche Folgen hat es, wenn soziale Distanzierung zu weit geht? Ein Theaterexperiment in der Tiefgarage...

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Wegen COVID-19 sind überall in Europa die Theater geschlossen. Wirklich überall? Nun, zumindest eine Spielstätte hat sich eine Methode ausgedacht, COVID-19 auszutricksen: Das "Deutsche Theater" in Göttingen spielt in der Tiefgarage.

"Die Methode" nennt sich das Drive-Through-Projekt, nach dem Stück "Corpus Delicti" von Juli Zeh. Es geht um Isolation im Zeichen der Seuche. Was geschieht, wenn wir die "soziale Distanzierung" ins Extrem denken?

Türe zu und Scheibe hoch

Das Euronews-Team (Dank an Kameramann Jochen Hasmanis für die guten Bilder) sprach in Göttingen mit der Schauspielerin Marina Lara Poltmann. Sie hat für den bevorstehenden Abend die Rolle der "Hausmeisterin" im "Wächterhäuschen" vor der Tiefgarage übernommen. Bevor sie sich ihren blauen Kittel überstreift und über lange Treppen in den Theateruntergrund abtaucht, nimmt sie sich Zeit für ein kurzes Interview.

"Wir spielen in der Tiefgarage aus dem Grund, weil wir auf der Bühne momentan nicht spielen können - oder man müsste den Abstand einhalten", erklärt Poltmann. "Und jetzt haben wir halt die Sondersituation, dass jeder in seinem Auto sitzt, dort die Scheibe oben lässt, man also gar nicht erst in einen Kontakt kommt."

Theater zum Durchfahren

Die Zuschauer fahren mit ihrem eigenen Wagen "durch das Theater" - in diesem Fall also durch die Tiefgarage, "das ist wie ein Drive-In", meint Poltmann und lacht. Doch dann wird sie wieder schnell Ernst. Immerhin geht es um ein ernstes Thema: Entfremdung, Isolierung, Einsamkeit, Verzweiflung...

"Man ist auf einmal sehr nah, nur durch eine Glasscheibe vom Zuschauer getrennt. Dadurch hat man als Schauspieler auf einmal ganz direkten Augenkontakt zu den Leuten", meint Poltmann, die darin auch eine schauspielerische Herausforderung sieht: "Man kann spontan auf die Leute reagieren, auf ihre Reaktionen."

Göttingen im Glück

Während viele private Theater seit COVID-19 Probleme haben, ihr Personal zu bezahlen, steht hinter deutschen Stadttheatern der Steuerzahler. So auch in Göttingen, die Stadt subventioniert weiter, die Schauspieler bekommen ihr Geld. 

Gewissermaßen führt die Seuche die Vorteile des deutschen Stadttheatermodells vor Augen: krisensicher im COVID-19-Sturm - zumindest solange, wie die Stadtkämmerer sich nicht anders besinnen... 

Doppelte Isolation

Fast das gesamte Ensemble des Deutschen Theater Göttingen spielt mit im Tiefgaragenprojekt. Mit angenehm unaufgeregter Schweizer Dialekteinfärbung erläutert Intendant Erich Sidler "Die Methode", während im Hintergrund Schauspielerin Poltmann im Requisitenfundus stöbert.

"Als Zuschauer sieht man zwar die SchauspielerInnen ganz aus der Nähe, merkt aber trotzdem, dass es eine doppelte Isolation gibt. Auf der einen Seite wird der Ton direkt ins Auto gesendet und dadurch entsteht über den Ton eine ganz große Direktheit, eine große Intimität. Und diesen Widerspruch, den kennen die Menschen im Augenblick glaube ich ganz gut, weil die letzten Wochen geprägt sind von der Frage, wie wir Nähe und Distanz regeln." So Sidler. 

Der Intendant mit dem durchdringenden Blick holt etwas weiter aus: "Im Moment ist der Weg zum Zuschauer nicht ganz einfach. Aber da er ja seinen eigenen Raum mitbringt, sein Auto, also seine Privatsphäre, können wir den Zuschauer natürlich erreichen, wenn wir ihn in die Tiefgarage lotsen." 

Dystopie Gesundheitsdiktatur

Zur Autorin des Textes, Juli Zeh, sagt Sidler: "Frau Zeh ist ja nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Juristin und sie hat mit Corpus Delicti ein Stück geschrieben, das eine Gesellschaft entwirft, die nach einer Pandemie eine Gesundheitsdiktatur aufgestellt hat. Insofern ist der Text sehr brisant, auch wenn er bereits vor mehreren Jahren veröffentlicht wurde. Und trotzdem passt er ganz genau auf die Situation, in die wir uns alle sehr gut einfühlen können." 

Das Stück wirft einen unterkühlten Blick auf eine Gesellschaft, in der die Zwangsregeln der "sozialen Distanzierung" die Menschheit mutieren lassen zu Scheinlebenden. Wie lange kann ein "soziales Wesen" unter Bedingungen ständiger Distanz überleben? "Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann", ein grausamer Tiefgaragensatz, so schockierend wie der Blick auf die Rasierklinge in der Hand des Selbstmörders.

Mit Juli Zeh ins Tiefgarageninferno

Als das Euronews-Team im Schritttempo an das mit Schauspielerin Poltmann besetzte Wächterhaus neben der Tiefgarageneinfahrt heranrollt, bedeuten uns weiss vermummte Gestalten mit autoritärer Geste: Halt! Mit falscher Süße lächelt Poltmann aus ihrem Hausmeisterkittel ins Auto-Innere: "Kennen Sie die Methode? Nicht?" - Ein leichtes Heben der Augenbraue, ohne dass das Lächeln verschwindet, ein Eintrag ins Buch. Hier geht keine Information verloren, wird weitergeleitet, hat Folgen. Orwells 1984 lässt grüßen, transponiert in ein bürokratisch aufs Genaueste geregelte Gesundheitsreglementarium, bewaffnet mit Paragraphen, Vorschriften, Sanktionsdrohungen. 

Abstieg in Juli Zehs Tiefgaragen-Inferno. Die weißen Overall-Mumien bugsieren den Euronews-Produktionswagen zentimetergenau neben eine schwarze Limousine. Starr blickt der Schauspieler ins Leere eines imaginierten Waldes, monologisiert, so nah und doch so fern. Dann die Schrecksekunde: mit einer minimalen Kopfdrehung blickt uns der Schauspieler aus kürzester Distanz direkt an, einen verrückten Gesichtsausdruck in den Augen. Wir wissen: Der Mann ist nicht mehr von dieser Welt. "Ich bin Moritz. Hier endet nach Paragraph 17 der Desinfektionsordnung der abgegrenzte Raum. Bei Zuwiderhandlung und Grenzüberschreitung..."

Berührungslos durchs tote Leben

Ist der Mensch noch ein Mensch - wenn er keinen Menschen mehr hat zum Berühren? Wenn ihm die große Liebe verunmöglicht wird durch die von staatlichen Sanitätsregeln diktierten Verhaltensmuster? Franz Schubert lässt grüßen, sein von Krankheit gezeichnetes Leben, seine Vereinsamung - die Winterreise. 

Die Göttinger Hausregisseurin Antje Thomas hat hier ein Kleinod geschaffen, das - zusammen mit einer Lichtregie im Stile Hoppers - für die wenigen Zuschauer (pro Abend dürfen gerade einmal zwölf Autos die vier unterirdischen Stationen dieses zeitgenössischen Passionsdramas abfahren) Teil ihres Lebensgepäcks bleiben wird.  

Sind menschliches Leben und Lieben noch möglich - ohne menschliche Nähe? "Die Methode" ist eine tief melancholische Dystopie von der Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen, gespielt von Schauspielerinnen und Schauspielern, denen man öfters begegnen möchte, in der Tiefgarage oder auf der echten Bühne des Lebens.

Journalist • Hans von der Brelie

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