Was steckt hinter den historischen Protesten in Kuba?

Seltene Proteste in Kuba
Seltene Proteste in Kuba Copyright Ismael Francisco/AP
Von Juan Carlos De Santos Pascual
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Am vergangenen Wochenende hat es in Kuba Proteste gegeben, das erste Mal seit 1994. Doch warum gehen die Kubaner:innen gerade jetzt auf die Straße?

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Für die spontane Reaktion auf die Proteste in Kuba am vergangenen Sonntag gibt es eine Erklärung, die über die klassischen Rechtfertigungen des "Castroismus", des vom Revolutionsführer Fidel Castro etablierten Systems, hinausgeht. Zwar zählt nach Ansicht von Expert:innen die vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump verhängte Blockade der Geldtransfers mit zu den Gründen für die Unruhen, allerdings kommen noch viele weitere Faktoren hinzu, die erklären, warum die Kubaner gerade jetzt auf die Straße gehen. Es sind die größten Proteste, die das Land seit den Unruhen in Havanna 1994, auch bekannt unter dem Namen "Maleconazo", erlebt hat.

Wirtschaftliche Verzweiflung und keine Touristen

Die Proteste in Kuba werden nach Ansicht von Expert:innen durch die wirtschaftliche Verzweiflung der Bevölkerung angetrieben. "Vor allem, seit die Regierung auf die Idee gekommen ist, die Währung aufzuspalten", sagt Laura Tedesco, Professorin für Lateinamerikastudien an der Saint Louis University in Madrid. Einheimische bezahlen mit dem kubanischen Peso (Peso Cubano, CUP), Touristen hingegen mit dem Konvertiblen Peso (Peso Cubano Convertible, CUC). Diese Währung bekommt man nur in Kuba selbst und wird zu einem Wechselkurs von 1:1 zum US-Dollar festgelegt. Letzterer wurde bei Reformen 1994 eingeführt. Allerdings bekommt man für den konvertiblen Peso wesentlich mehr Dinge als für den kubanischen.

"Es hat den konvertierbaren Peso heraus genommen, und das hat dazu geführt, dass viele Produkte nur noch in den Geschäften verfügbar sind, in denen beide Währung gelten, und nicht alle Kubaner bekommen Geldüberweisungen, nicht alle Kubaner haben Zugang zum Dollar. Das bedeutet, dass viele Menschen nichts von dem bekommen, was in diesen Geschäften verkauft wird, und dass sie stundenlang in der Schlange stehen müssen, um Hähnchen einzukaufen", so Tedesco.

Laut William LeoGrande, Professor für Regierungswesen an der American University in Washington tragen auch zwei weitere Tatsachen zu der Situation bei: "Die von Präsident Trump verhängten Sanktionen haben Überweisungen in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar pro Jahr blockiert, und die Pandemie hat die Tourismusindustrie lahmgelegt. Dadurch fehlen der Regierung die nötigen Devisen für den Import von Lebensmitteln und Medikamenten, die nun Mangelware sind."

Es fehlt nicht nur an Medikamenten gegen COVID-19. "Es gibt fast keine Medikamente für alle möglichen Krankheiten, Medikamente, die zudem sehr teuer sind, was zu einer explosiven Situation führt", sagt Laura Tedesco.

Für LeoGrande war "Kubas erste Reaktion auf die Pandemie sehr effektiv. Die Sperrung der Insel für den Reiseverkehr, kombiniert mit strengen Quarantänemaßnahmen und sorgfältiger Kontaktverfolgung hielt die Zahl der Fälle extrem niedrig. Der Versuch, die Insel wieder zu öffnen, um den Tourismus wiederzubeleben, ist jedoch nach hinten losgegangen. "Die Delta-Variante hat sich in der Gesellschaft ausgebreitet, und das Gesundheitssystem kann damit nicht umgehen", stellt der Professor fest.

Tatsächlich verzeichnete das Land mehrere Tage hintereinander Rekordzahlen von Infektionen und Todesfällen. Eines der am stärksten betroffenen Gebiete war die Provinz Matanzas.

Es gibt keinen "großen Bruder" mehr, der Kuba schützt

Kuba hat immer dank eines "großen Bruders" überlebt. Zuerst hatte diese Funktion die Sowjetunion inne, danach kam Venezuela - beide halfen. "Heute hat Kuba niemanden, der seine Wirtschaft subventioniert. Das ist absolut ineffizient", so Tedesco. "Fast alle Länder haben sich auf ihre Probleme konzentriert und Kuba wurde in diesem Sinne sehr allein gelassen, weil die Situation in Venezuela sich immer weiter verschlimmert und die Unterstützung für Kuba dort einfach nicht mehr relevant ist", fügt die Professorin für Lateinamerikastudien an der Saint Louis University hinzu.

Castro ist Vergangenheit, aber der Diskurs hat sich nicht geändert

Präsident Miguel Diaz-Canel forderte seine Anhänger auf, als Reaktion auf die Proteste "kampfbereit" auf die Straße zu gehen. "Der Befehl zum Kampf ist gegeben, die Revolutionäre sind bereit, auf die Straße zu gehen", sagte er in einem speziellen Fernsehauftritt. Dazu meint Laura Tedesco: "Sie folgen immer dem gleichen Diskurs, dass diejenigen, die auf der Straße sind, Konterrevolutionäre sind, dass sie von den USA bezahlt werden, dass das Embargo... Die Menschen sind dieses Diskurses sehr überdrüssig."

Das letzte Mal, als es zu sozialen Unruhen kam, war im Jahr 1994. Dieses Mal haben sich die Ereignisse ganz anders entwickelt, meint Tedesco: "1994 trat Fidel auf und er sagte ihnen, sie sollten sich beruhigen. Dann gingen alle nach Hause, aber Díaz Canel sprach von anderen Dingen. Wenn Díaz Canel sich an einen dieser Orte begeben würde, würden sie ihn mit Eiern bewerfen... denn Díaz Canel ist nicht charismatisch, er weiß nicht, wie man auftritt und niemand hat ihn gewählt. Sie nennen ihn "den, der handverlesen wurde". Er ist kein Castro, er ist auch kein Enkel oder Neffe von ihm."

"Es gibt ein Unbehagen in der Regierung, denn sie haben Angst, weil es keinen Castro mehr gibt. Die Legitimität der Regierung ist minimal und sie haben auch keine Lösungen", so die Professorin. Laut William LeoGrande wäre es jedoch übertrieben zu sagen, dass die Regierung die Kontrolle verliert. "Die Demonstrationen waren klein im Vergleich zu dem, was wir in den letzten Jahren in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern gesehen haben. Trotzdem wird es interessant sein, ob es danach weitere Demonstrationen gibt und wie die Regierung darauf reagieren wird", meint LeoGrande.

Soziale Netzwerke, die den Motor der Veränderung zünden

"In Kuba sind unabhängige ehrenamtliche Vereine nicht legal, an ihre Stelle sind virtuelle soziale Netzwerke getreten", betont William LeoGrande. "Durch sie können sich Menschen, die wütend auf die Regierung sind, mit anderen austauschen, sich weniger isoliert fühlen und zum Handeln ermutigt werden".

Ende 2018 erlaubte die Regierung den Kubaner:innen den Zugang zu sozialen Netzwerken auf ihren Mobiltelefonen. Laut Tedesco war das 'ein 'Fehler' der Regierung, "weil die Kubaner sich Profile auf Facebook und Twitter zulegten, seitdem zirkulieren die Informationen. Sie kommunizieren mit Menschen außerhalb Kubas und das hat das Informationsmonopol der Regierung wirklich untergraben, ja, es hat es zerstört."

Barrieren bleiben bestehen

Kuba ist vielschichtig: Wenn man die sozialen Netzwerke verfolgt, scheint der Wandel vor der Tür zu stehen. Botschaften wie #SOSCuba oder Videos wie das von "Yotuel", einem der Protagonisten des Protestliedes "Patria o Vida", haben geholfen, die Jugend zu mobilisieren. Allerdings ist nicht ganz Kuba auf Twitter: "Es sind die jungen Leute, die im Internet unterwegs sind, aber in der Generation der heute 50-Jährigen gibt es viele Menschen, die die Regierung unterstützen, weil es keine andere Alternative gibt", sagt Tedesco. Darüber hinaus verfügt die Regierung über die Streitkräfte, die die größte wirtschaftliche Macht in Kuba haben. "Sie sind diejenigen, die die Hotels verwalten, diejenigen, die mit dem Eingang von Devisen oder dem Tourismus zu tun haben, und sie werden diese Macht nicht so einfach loslassen", argumentiert die Professorin für Lateinamerikastudien an der Saint Louis University.

Wie wird die Regierung zukünftig auf Proteste reagieren?

In den Straßen von Havanna gingen Sicherheitskräfte und Brigaden von Pro-Regierungsanhängern gegen friedliche Demonstrationen, die "Freiheit" skandierten, vor. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen. Expert:innen glauben jedoch nicht, dass es zu einer Massenbewegung kommen wird. "Die Angst existiert, aber wir glauben, dass es kein Blutbad geben wird. Das wäre sehr kontraproduktiv. Die Beziehung zu Spanien würde vielleicht beschädigt werden. Es würde dem Tourismus schaden", so Tedesco.

Bislang hat die kubanische Regierung auf frühere Proteste zu Tierrechten, LGBTQ-Rechten usw. zurückhaltend reagiert. Laut William LeoGrande hat die Polizei auch bei den jüngsten Protesten nur "begrenzte Gewalt" angewandt. "Die Regierung scheint sich bewusst zu sein, dass ein hartes Durchgreifen gegen die Demonstranten die Konfrontation eskalieren und mehr Menschen auf die Straße bringen könnte. Allerdings würde es mich nicht überraschen, wenn es zu einer Verhaftungswelle von bekannten Dissidenten kommt, die die Regierung hinter diesen Demonstrationen vermutet", schließt Leogrande.

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