Warum die Wahl des neuen Chefs zur Zerreißprobe für Interpol wird

Foto aus dem Jahr 2018: Zwei Personen laufen über den Teppich im Hauptsitz von Interpol in Lyon, Frankreich.
Foto aus dem Jahr 2018: Zwei Personen laufen über den Teppich im Hauptsitz von Interpol in Lyon, Frankreich. Copyright AP/Laurent Cirpiani
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Von Orlando Crowcroft
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"Es ist unmöglich, die Anschuldigungen gegen einen unserer Kollegen zu ignorieren, der mit sehr schweren Verbrechen konfrontiert ist. Das kann zu einem Vertrauensverlust in unsere Organisation führen", sagt die Tschechin Sarka Havrankova, die Präsidentin von Interpol werden will.

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Sarka Havrankova war Sachbearbeiterin im nationalen Zentralbüro von Interpol in Prag, als die tschechische Polizei um Hilfe bei den Ermittlungen gegen Marc Dutroux gebeten wurde. Der belgische Serienmörder und Vergewaltiger wurde wegen Entführung, Folter und Mord an jungen Frauen und Mädchen gesucht.

Dutroux, der 2004 in allen Anklagepunkten verurteilt wurde, entführte seine Opfer und hielt sie in einem Verlies im Keller seines Hauses gefangen. Ein Fall, der ganz Europa schockierte. Die belgische Polizei untersuchte auch, ob Dutroux Verbrechen in der Tschechischen Republik und der Slowakei begangen hatte.

Letztendlich konnte die belgische Polizei die Verbindung in die Tschechische Republik nie nachweisen und wurde für die Ermittlungen, die zu massiven Straßenprotesten führten, heftig kritisiert. Aber für Havrankova - und wahrscheinlich für jeden Beamten, der an diesem Fall arbeitete - hinterließ der Fall einen bleibenden Eindruck.

"Es war schwierig", erinnert sie sich. "Ich war jung und als Frau war es sehr schwer zu sehen, was man kleinen Kindern antun kann, wie sie behandelt werden."

Es war einer von Havrankovas ersten Fällen bei Interpol und 26 Jahre später - als Vizepräsidentin der Organisation für Europa - kandidiert sie nun für die Nachfolge von Südkoreas Kim Jong Yang für die Präsidentschaft von Interpol im Jahr 2022.

Ihr Gegenkandidat ist ein emiratischer General, Ahmed Naser Al-Raisi, der mit der Folter hochrangiger politischer Gefangener in den Vereinigten Arabischen Emiraten in Verbindung gebracht wird. Unter den mutmaßlichen Opfern sind Ahmed Mansoor, ein emiratischer Dissident, und Michael Hedges, ein britischer Wissenschaftler, der 2018 der Spionage beschuldigt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Hedges wurde später begnadigt, aber Mansoor ist nach wie vor im Gefängnis.

Al-Raisis Kandidatur führte in Europa zu einem Sturm der Entrüstung. Französische Gesetzgeber haben sich direkt an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron gewandt, um zu intervenieren. Deutsche Abgeordnete glauben, die Nominierung widerspreche der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Rechtsgruppen argumentiert, dass seine Wahl dem Ansehen von Interpol auf internationaler Ebene ernsthaft schaden würde.

Sarka Havrankova
Sarka HavrankovaSarka Havrankova

Den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) wird vorgeworfen, dass sie versucht haben, sich Einfluss bei Interpol zu erkaufen, um die Kandidatur von al-Raisi zu begünstigen. Das geht aus einem aktuellen Bericht von Sir David Calvert-Smith, dem ehemaligen Direktor der britischen Staatsanwaltschaft, hervor.

Im Jahr 2017 spendeten die VAE 50 Mio. EUR an die Interpol Stiftung "Foundation for a Safer World", eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Genf, die Calvert-Smith beschreibt als "einen Kanal, über den die VAE-Regierung Geld an Interpol weiterleitet".

Trotz des globalen Aufgabenbereichs hatte Interpol schon immer Finanzierungsprobleme. Spenden machen in der Regel mehr als 50 % des Jahreshaushalts der Organisation aus. Im Jahr 2020 belief sich das Budget beispielsweise auf 136 Mio. EUR, wovon 60 Mio. EUR aus Pflichtbeiträgen der Mitgliedstaaten (berechnet nach dem wirtschaftlichen Gewicht des Landes) und die restlichen 76 Mio. EUR aus Spenden stammten.

Es ist unmöglich, die Anschuldigungen gegen einen unserer Kollegen zu ignorieren, der mit sehr schweren Verbrechen konfrontiert ist.
Savra Havrankova
Interpol-Vizepräsidentin für Europa

Die größte Einzelspende (7,8 Mio. EUR) kam im Jahr 2020 von der Europäischen Kommission und die zweitgrößte von der Interpol-Stiftung (6,1 Mio. EUR). Kanada, Norwegen, Japan und Katar leisteten ebenfalls Beiträge, meist für spezifische Programme wie Cyberkriminalität (Japan) oder Sicherheit im Sport (Katar).

Zu den Vorwürfen gegen al-Raisi persönlich befragt, sagte Havrankova, sie habe keine anderen Informationen als die, die in den Medien erschienen seien, sei aber besorgt.

"Ich bin Polizeibeamtin, und es ist unmöglich, die Anschuldigungen gegen einen unserer Kollegen zu ignorieren, der mit sehr schweren Verbrechen konfrontiert ist. Das kann zu einem Vertrauensverlust in unsere Organisation führen."

Was die finanziellen Beiträge der VAE zu Interpol in den letzten Jahren angeht, sagte sie Euronews: "Respekt kann man nicht kaufen. Man muss ihn sich durch sein Handeln verdienen. Interpol sollte nicht politisiert werden, und Reichtum sollte niemals Einfluss auf Angelegenheiten der Strafverfolgung haben."

"Geld, Reichtum oder die politische Macht eines Landes sollten niemals die unabhängige Arbeit der Polizei beeinflussen. Wenn wir dies zulassen, müssen wir als Polizeibeamte anerkennen, dass wir unseren Auftrag verleugnen", sagte sie.

Euronews hat die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate um eine Stellungnahme gebeten.

Skandal

Es ist nicht das erste Mal, dass die Führung von Interpol - einer Organisation, die aus 194 Mitgliedsstaaten besteht und die Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden weltweit erleichtern soll - von einem Skandal überschattet wird.

Es ist nicht einmal das zweite oder dritte Mal.

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Im Jahr 2008 musste der südafrikanische Präsident Jackie Selebi zurücktreten, nachdem er angeblich 170.000 Dollar Bestechungsgelder von einem Drogendealer angenommen hatte. Laut Interpol stand dies nicht im Zusammenhang mit seiner Arbeit für Interpol, sondern mit seiner Zeit als Polizeikommissar in Südafrika. Er wurde später wegen Korruption zu 15 Jahren Haft verurteilt.

2017 verschwand der Interpol-Präsident Meng Hongwei während eines Besuchs in China. Seine Familie hält sich in Frankreich auf, und seine Frau sagte kürzlich gegenüber AP, dass Interpol "überhaupt keine Hilfe" war, als ihr Mann verschwand.

Im Jahr 2020 wurde Meng in China wegen Bestechung zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt.

AP Photo/Larent Cirpriani
Grace Meng, die Frau des ehemaligen Interpol-Präsidenten Meng Hongwei, zeigt Fotos ihrer Eltern, am Dienstag, 16. November 2021, Lyon (Frankreich).AP Photo/Larent Cirpriani

Zu Meng befragt, sagte Havrankova: "Ich habe keine Informationen darüber, außer dem, was ich in den Medien gelesen habe. Ich denke, das Generalsekretariat sollte diese Frage beantworten."

Das Präsidium von Interpol ist ein Teilzeitamt. Der oder diejenige, die das Amt inne haben, behalten ihre Funktionen in ihren Ursprungsländern. Auch bezahlt wird die Stelle nicht. Als wichtiger gilt das Amt (in Vollzeit) des Generalsekretärs, das derzeit mit dem Deutschen Jürgen Stock besetzt ist.

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"Ein Fuchs das Sagen im Hühnerstall"?

Im Jahr 2018 sah es dann so aus, als würde der Russe Alexander Prokoptschuk zum Nachfolger von Meng gewählt werden. Seine Kandidatur war weithin kritisiert worden, und eine parteiübergreifende Gruppe von US-Senator:innen beschwerte sich, dass damit "ein Fuchs das Sagen im Hühnerstall hätte". Sowohl Litauen als auch die Ukraine drohten mit einem Austritt aus Interpol, falls Prokoptschuk gewählt würde.

Bei der Abstimmung unterlag Prokoptschuk dem Südkoreaner Kim mit 101 zu 61 Stimmen, woraufhin sich Moskau darüber beschwerte, dass die Wahl "beispiellosem Druck und Einmischung" ausgesetzt gewesen sei.

Der Organisation Interpol mit Sitz im französischen Lyon gehören 194 Mitglieder an, von Demokratien über Theokratien bis hin zu autokratischen Diktaturen.

Einerseits ist sie in Europa angesiedelt und von europäischen Geldern abhängig. Aber bei den alle vier Jahre stattfindenden Präsidentschaftswahlen hat jedes Land die gleiche Stimme.

Der Ruf und die Legitimität der Organisation sind in der Vergangenheit untergraben worden.
Sarka Havrankova
Vizepräsidentin von Interpol für Europa

Als solche ist sie nicht immun gegen die wachsende Kluft in den internationalen Beziehungen zwischen liberalen und totalitären Staaten, zwischen Demokratien und Autokratien. Im Jahr 2018 stand diese Dichotomie dem autokratischen Kreml und dem demokratischen Südkorea gegenüber. Im Jahr 2021 wird dieselbe Schlacht erneut geschlagen: mit einem EU-Mitgliedstaat auf der einen und den antidemokratischen Vereinigten Arabischen Emiraten auf der anderen Seite.

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"Dies ist die wichtigste Wahl seit der Verabschiedung der Interpol-Verfassung im Jahr 1956. Das Ergebnis dieser Wahl wird entweder die Glaubwürdigkeit und Integrität von Interpol in Frage stellen oder eine Rückbesinnung auf polizeiliche Grundwerte einleiten", sagte Havrankova.

"Der Ruf und die Legitimität der Organisation sind in der Vergangenheit untergraben worden und können es sich nicht leisten, erneut zerbrochen zu werden."

Rot sehen

Auch außerhalb der Wahlsaison werfen Kritiker Interpol vor, dass autokratische und antidemokratische Staaten die Organisation nutzen, um ihre eigenen Kriege gegen Andersdenkende zu führen und ihre Feinde zu schikanieren und zu bestrafen.

Einem Bericht von Freedom House zufolge ist Russland für die Ausstellung von 40 % der Tausenden von Interpol-"Red Notices" verantwortlich, die jedes Jahr erteilt werden.

Eine "Red Notice" kann zur Festnahme und Inhaftierung von Verdächtigen überall auf der Welt führen und ist zu einem wichtigen Instrument für Staaten geworden, die flüchtige Personen aufspüren wollen. Laut Interpol wird zwar jede einzelne Meldung von einer Arbeitsgruppe innerhalb von Interpol geprüft, bevor sie herausgegeben wird, doch hat es viele Fälle von Missbrauch gegeben.

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So wie jede Nation in Interpol die gleiche Stimme hat, hat auch jede Nation das gleiche Recht, eine Red Notice zu beantragen, egal ob es sich um eine liberale Demokratie mit einem etablierten Rechtsstaat oder eine gewalttätige Diktatur handelt.

Moskau hat bereits versucht, den ehemaligen Oppositionellen Michail Chodorkowski sowie den Kreml-Kritiker Bill Browder mit einer roten Ausschreibung (zu Deutsch auch rote Notiz) zu belegen, doch Interpol hat diese Anträge abgelehnt.

China hat das System der roten Vermerke genutzt, um uigurische Aktivisten zu schikanieren, wie Menschenrechtsgruppen anprangern. Erst im September 2021 hob Interpol eine rote Notiz für einen uigurischen Diaspora-Aktivisten auf, der in Marokko verhaftet worden war, seit 2012 in der Türkei lebte und von Peking als Terrorist eingestuft worden war.

Auch die Türkei hat das System genutzt, um seit dem gescheiterten Putsch im Jahr 2016 gegen Kritiker von Präsident Erdogan vorzugehen. Das hatte zu einer Rüge Ankaras über den Missbrauch des Systems der roten Notizen durch Bundeskanzlerin Angela Merkel geführt. In der Türkei findet an diesem Donnerstag bei der Interpol-Generalversammlung die Wahl für das Amt statt. Erdogan soll in diesem Rahmen eine Rede halten.

Ein Interpol-Sprecher sagte, dass seit dem Putschversuch in der Türkei "das Generalsekretariat mehr als 700 Anträge auf eine rote Notiz für Mitglieder der Gülen-Bewegung erhalten und abgelehnt hat".

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Im Jahr 2020 wurden über 11.000 "Red Notices" ausgestellt. Doch nur ein Bruchteil davon wird veröffentlicht und Interpol stellt keine Aufschlüsselung nach Ländern zur Verfügung.

Eine Sprecherin von Interpol sagte Euronews, dass sie nicht sagen könne, wie viele der roten Ausschreibungen im Jahr 2020 aufgehoben worden seien. Die Verfassung von Interpol verbiete jegliche "Intervention oder Aktivitäten mit politischem, militärischem, religiösem oder rassistischem Charakter".

Havrankova, die seit zweieinhalb Jahrzehnten bei Interpol tätig ist, hält sich mit Kritik am System der roten Listen zurück, was vielleicht nicht überrascht. Aber sie sagt, dass eine allgemeine Verbesserung der Transparenz und des Informationsaustauschs zwischen den weltweiten Polizeikräften zu ihren wichtigsten Prioritäten gehört.

Überbrückung der Kluft

Dazu gehöre auch, die Kluft zwischen den Interpol-Mitglieder:innen und dem Exekutivkomitee zu überbrücken und dafür zu sorgen, dass alle 194 Länder vertreten sind, indem die Zahl der in die Organisation entsandten Polizeibeamten erhöht wird.

Dies werde dazu beitragen, die Kluft zwischen den zahlreichen Mitgliedern mit sehr unterschiedlichen Justizsystemen und Prioritäten zu überbrücken, sagte sie.

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"Das Wichtigste ist, eine konsensbasierte Entscheidungsfindung zu gewährleisten, denn ich verstehe sehr gut, dass es bei 194 Ländern immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann. Aber ich denke, es geht vor allem darum, die Kommunikation zwischen dem Exekutivausschuss und den Mitgliedsländern zu verbessern", sagte sie.

Sollte Havrankova gewählt werden, wäre sie erst die zweite Frau in diesem Amt. Als Frau habe sie bei der tschechischen Polizei keine Benachteiligung erlebt, sagte sie, sie sei sich aber dessen bewusst, dass dies in vielen Polizeidienststellen der Fall wäre. Im Exekutivausschuss von Interpol gibt es zwei Frauen und 11 Männer.

"Ich komme aus einem recht fortschrittlichen Land. Ich persönlich bin nie auf irgendwelche Hindernisse gestoßen, die mit meinem Geschlecht zu tun hatten. Aber wenn man sich die Statistiken anschaut, dann zeigen sie, dass es in vielen Ländern, auch bei Interpol, kein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern und keine gerechte Vertretung von Frauen in den Führungspositionen der Strafverfolgungsbehörden gibt", sagte sie.

"Ich glaube daher, dass meine Kandidatur ein starkes und klares Signal an alle meine weiblichen Polizeikolleginnen in allen Regionen der Welt ist."

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