Cherson, die Heldenstadt der Ukraine: Aber zu welchem Preis?

Cherson, die Heldenstadt der Ukraine: Aber zu welchem Preis?
Copyright euronews
Copyright euronews
Von Anelise BorgesSabine Sans
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Euronews-Reporterin Anelise Borges hat die ukrainische Stadt Cherson kurz nach der Rückeroberung von den Russen besucht.

WERBUNG

Cherson - die Heldenstadt der Ukraine - ein Symbol für die Fähigkeit des Landes, sich zu wehren, ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

In nur wenigen Stunden wich die Freude und Erleichterung über die "Befreiung" der Angst und dem Hunger, die viele Bewohner der Stadt haben. 

Es gibt keine Läden zum Einkaufen mehr, Essen wird verteilt. Die Leute auf der Straße erzählen von der Besatzungszeit: Es sei hart gewesen, moralisch und physisch: _"_Wir haben es vermieden, das Haus zu verlassen. Als unsere Truppen uns befreiten, trauten wir uns wieder heraus", erzählt eine Frau auf der Straße. _"_Heute haben wir zum Beispiel keine Heizung, kein Wasser, keinen Handy-Empfang, aber wenigstens können wir auf die Straße gehen. Es wäre besser, wenn sie nicht schießen würden." Die Menschen leiden. 

Wie sah Cherson vor dem Krieg aus?

Vor derm Krieg sei Cherson "ein guter, gemütlicher Ort gewesen", erzählt ein alter Mann. "Bis die Russen kamen, um uns zu 'befreien'. Sie 'befreiten' uns von den guten Dingen.

Seit sich die russischen Truppen östlich des Dnipro-Flusses zurückgezogen haben, ist Cherson so etwas wie eine Frontlinie geworden. 

"In den vergangenen Tagen sind in Cherson mehrere Menschen getötet worden, die Anwohner haben uns erzählt, dass sie diese Art von wahllosem Beschuss bisher nicht erlebt haben", berichtet euronews-Reporterin Anelise Borges vor Ort. "Als die ukrainischen Truppen versuchten, die Stadt zurückzuerobern, hätten sie nur militärische Ziele getroffen, sagen sie. Gerade wird überall in der Stadt geschossen."

Kritische Infrastrukturen werden ständig angegriffen. Und die meisten Bewohner haben keinen Strom, keine Heizung und kein fließendes Wasser.

Wenige sind geblieben

Olena Averina ist in Cherson geboren und aufgewachsen, sie blieb während der russischen Besatzung: "Ich bin geblieben, weil meine Mutter und mein Vater krank sind. Ich hatte keine andere Wahl. Auch weil ich kein Geld hatte, um zu gehen. Wir sind hier geboren. Wir wollten nicht alles auf diese Weise zurücklassen. Wer hätte uns denn geholfen? In unserem Haus gibt es nur noch mich und Nastya. Die anderen sind ältere Menschen, Rentner, Behinderte, wie können wir sie zurücklassen?"

Olena und ihre Tochter Nastya verbringen ihre Tage damit, Hilfsgüter von verschiedenen NGOs zu holen, um sie an ihre Nachbarn zu verteilen.

Nachbarin Nina Grigoryevna sagt: "Wir leben mehr schlecht als recht. Wir überleben."

Die medizinische Versorgung ist schwierig

Alte und kranke Menschen sind in einer besonders schwierigen Situation. Viele finden in Cherson nicht mehr die Hilfe, die sie brauchen. Ein Arzt, der anonym bleiben möchte, hat es eilig, bevor der Stromgenerator des Vodnikova-Krankenhauses für den Tag abgeschaltet wird.

Dann kann er neu eingelieferten Patienten nicht mehr helfen. Ein 85-jähriger Mann wurde soeben von den Rettungskräften eingeliefert. Der Arzt untersucht ihn auf einen Schlaganfall. Die Diagnose ist weniger schwerwiegend, aber immer noch sehr besorgniserregend: Covid. Ohne eine Isolierstation - oder eine Behandlung - muss der Arzt den Patienten wegschicken, um eine Ansteckung zu verhindern.

Das Vodnikova-Krankenhaus war einst eine der wichtigsten medizinischen Einrichtungen in Cherson. Jetzt tragen die Ärzte und Krankenschwestern eimerweise Wasser mit sich zur Arbeit. Es ist zum Spülen der Toilette, zum Waschen des Bodens, manchmal waschen sich die Leute damit. Der größte Teil des Personals ist gegangen. Den Patienten wurde aus Sicherheitsgründen eine medizinische Evakuierung angeboten. Eine unmögliche Wahl für viele hier:"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin allein. Ich weiß nicht, wie ich außerhalb meiner Heimatstadt leben soll", sagt eine bettlägerige Frau. 

"Sie hat ein Rückentrauma", erklärt Dr. Chebotareva. "Sie ist bereits seit eineinhalb Monaten bei uns. Wir müssen warten, bis die Wirbel zusammenwachsen. Aber wir brauchen Spezialisten, Neurochirurgen, Traumatologen, die uns helfen."

Die Ärztin führt die Reporterin durch ihre Abteilung. Auf der Intensivstation gibt es Monitore, aber kein Strom: _"_Es gibt eine Ausgangssperre und Beschuss, deshalb rufen die Leute die Krankenwagen nicht jede Nacht. Außerdem gibt es nicht mehr genügend Krankenwagen in der Stadt. Die Menschen bekommen nicht rechtzeitig medizinische Hilfe, sie kommen in einem schlechten Zustand hier an", bilanziert die Ärtzin. Sie erzählt, dass die Dinge schon seit einiger Zeit schwierig sind:  "Die komplizierteste Zeit waren die ersten Tage, die ersten Monate der Besatzung. Keiner wusste, was mit uns geschehen würde, wie wir arbeiten sollten und wie lange es dauern würde. Dann haben wir uns an die Situation gewöhnt. Der letzte Monat, ohne Licht, Wasser oder Heizung war auch sehr kompliziert. Moralisch und körperlich."

Der Krieg schafft Realitäten

Der Krieg wütet nur wenige Kilometer von hier, es wird wahrscheinlich noch schlimmer werden, bevor es besser wird. Die ukrainische Regierung hat erklärt, die Rückeroberung von Cherson sei nur der Anfang einer Kampagne, in deren Verlauf ihre Truppen russische Soldaten aus allen besetzten Gebieten, einschließlich des Donbass und der Krim, vertreiben werden. Aber zu welchem Preis?

Tatiana zeigt, was von dem Haus übrig ist, das ihre Tochter für die Familie in der Nähe von Cherson gebaut hat: 

"Als der Krieg begann, kamen wir alle hierher. Wir lebten in diesem Raum. Alles um uns herum explodierte, wir lagen auf dem Boden. Wir dachten, es würde aufhören. Es war unfassbar. Wir haben nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte. Wir haben uns hier versteckt. Wir dachten, dass es bald vorbei sein würde, dass es nicht wahr sein könnte."

WERBUNG

Die Familie entkam schließlich aus dem Dorf Posad-Pokrovske - dem Schauplatz einer der härtesten Schlachten an der Südfront der Ukraine: 

"Ich fühle keine Wut, nur Hass. Hass, der mein ganzes Leben andauern wird. Einen Hass auf Russland, der mein ganzes Leben andauern wird. Meine Kinder haben kein Haus mehr. Ich habe kein Haus mehr, an dem ich 40 Jahre gebaut habe. Jetzt habe ich nichts mehr. Ich fühle nur Wut. Ich wünschte, Russland würde auch alles verlieren - das ganze Russland. "

Er glaubt nicht mehr an Frieden: "Ich glaube, unsere Generation wird keinen Frieden mit Russland schließen. Sie haben so viele Menschen getötet, dass Frieden für unsere Generation im Moment unmöglich ist. Vielleicht wird es in den nächsten Generationen Frieden geben, aber nicht jetzt."

Sein Schwiegersohn bekräftigt:  _"_Ich bezweifle es. Ich bezweifle es wirklich."

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Wie leben ukrainische Flüchtlinge in Moldawien?

Reise durch das Unaussprechliche: Auf der Spur der Gräueltaten in der Ukraine

Schwarzmeer-Sicherheitskonferenz: "Russland versteht nur Sprache der Gewalt"