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Hubert Védrine: "Die Welt war schon immer mehr oder weniger in Unordnung"

Hubert Védrine: "Die Welt war schon immer mehr oder weniger in Unordnung"
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Von Sergio Cantone
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Hubert Védrine, ehemaliger Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand und ehemaliger französischer Außenminister, ist unser Gast in The Global Conversation.

Die Konflikte in der Welt nehmen zu, Demokratien geraten zunehmend in die Krise. Ist die Welt unregierbar geworden? Darüber sprechen wir mit Hubert Védrine, ehemaliger Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand und ehemaliger französischer Außenminister in The Global Conversation.

Euronews-Reporter Sergio Cantone: Hubert Védrine willkommen bei Euronews. Im Sommer 2024 stellt sich die Frage der Regierbarkeit auf allen Ebenen: national, international, in der Europäischen Union und weltweit. Stehen wir vor dem Ende der politischen Ordnung und der Weltwirtschaftsordnung?

Hubert Védrine, ehemaliger französischer Außenminister: Global gesehen hat es eigentlich nie eine Weltordnung gegeben. Es gab immer mehr oder weniger eine globale Unordnung. Aber es gab Zeiten, in denen es Staaten gelang, das System zu dominieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Amerikaner, die die Nachkriegszeit organisierten, und zwar sehr gut. Es war einer der seltenen Momente, in denen es einer Führungsmacht gelang, die nationalen Interessen, die alle Mächte haben, mit einer Art globaler Vision zu verbinden. Dann kam der Kalte Krieg, der übrigens ziemlich stabil war: Es gab den Osten, den Westen und den Süden, die berühmte Dritte Welt. Und dann, als die Sowjetunion zerbrach, gab es im Westen eine Welle der Begeisterung, des Triumphalismus, mit einer etwas nationalistischen Form in den USA: ‚Wir haben gewonnen, wir sind die Herren!‘ Und damit sind wir wieder bei der klassischen Geopolitik angelangt: die Stärke der USA, die Stärke Chinas, was wird aus Russland usw.. Ich würde also nicht sagen, dass alle Regime in der Krise sind. Das ist in China anders als in Russland.

"Aber alle Demokratien sind in der Krise, sind bedroht."
Hubert Védrine

Euronews: Und genau dort liegt das Problem der Regierbarkeit...

Hubert Védrine: Nicht speziell für Europa, aber für Demokratien. Schauen Sie sich die USA an, die sind in einer schrecklichen Situation: wie zwei Länder, die sich gegenseitig bekämpfen. Es gibt eine Krise der Demokratien, der repräsentativen Demokratien. Die alten Ideen, dass man Personen wählt, Präsidenten, Abgeordnete usw., die man arbeiten lässt und dann beurteilt, was sie geleistet haben, ob sie wiedergewählt werden oder nicht, die sind tot.

Euronews: Es gibt auch eine Bedrohung, die Gefahr einer endgültigen Spaltung der USA und Europas aufgrund unterschiedlicher Interessen.

Hubert Védrine: Europa und die USA werden sich anders entwickeln als im vergangenen Jahrhundert. Denn was hat die USA und Europa zwangsläufig zusammengeführt? Es war der Erste Weltkrieg, danach Hitler und Stalin. Jetzt ist es Putin. Aber auf lange Sicht sind es verschiedene Welten. Präsident George Washington war der Erste, der in seinem Testament sagte: 'Mischt euch nie in die Konflikte der Europäer ein'. Aber die USA waren nie Isolationisten. Im Großen und Ganzen haben sie nie ihre Umwelt - , Mexiko, Kuba oder die Philippinen kontrolliert. Aber in Bezug auf Europa gibt es einen Sonderfall, in dem sie gezwungen waren, viel mehr zu reinvestieren, als sie geplant hatten. Das sieht man jetzt wieder, weil nicht nur die Trumpisten sagen, dass sie es satthaben, für die Europäer zu zahlen, und dass die nicht genug tun. Auch die Demokraten denken ein bisschen so. Und selbst wenn ein Demokrat wie Barack Obama, der die "Pivot-to-Asia"-Bewegung ins Leben gerufen hat, sagt: ‚Eine Orientierung Richtung Europas ist schön und gut, aber zweitrangig‘. Aber die Europäer sind trotzdem gezwungen, mehr als bisher zu reagieren. 

Wird es einen Politikwechsel in den USA geben?

Euronews: Also egal, ob wir eine republikanische Präsidentschaft haben, wie alle zu denken scheinen, mit Trump, oder eine demokratische Präsidentschaft, wird es keinen großen Politikwechsel geben?

Hubert Védrine: Dann wird es eine gewaltige Veränderung des Stils, des Verhaltens geben.

Euronews: Des Narrativs?

Hubert Védrine: Des Narrativs, aber es ist auch eine Frage des politischen Anstands. Es wird, egal wer gewinnt, in Bezug auf die Ukraine eine historische Entwicklung geben. Auch wenn es immer noch die Demokraten sind, werden sie nicht noch einmal über einen zweiten Plan über 61 Milliarden abstimmen lassen.

"Das Thema Ukraine wird sich also auf die eine oder andere Weise verändern."
Hubert Védrine

Euronews: Russland bleibt ein Dilemma für Europäer und Amerikaner. Es gibt europäische Länder, die auf harte Konfrontation setzen und sagen, Russland ist eine existenzielle Bedrohung, die beseitigt werden muss, während andere sagen, ja, es ist ein Risiko, aber es ist beherrschbar. Und wieder andere sprechen vom Engagement Russlands.

Hubert Védrine: Ich bin ehrlich gesagt der Meinung der alten amerikanischen Realisten: Kissinger, Brzeziński, die sich ausnahmsweise einmal einig waren. Sie waren der Meinung, dass wir die 90er Jahre komplett verpatzt haben. Man hätte in dieser Zeit - Jelzin, Putins erste und zweite Regierungszeit, Medwedew - das tun sollen, was Kissinger vorgeschlagen hat, nämlich ein großes Sicherheitsabkommen, auch mit Russland. Und Brzeziński, selbst ein Pole, damals Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, der auch danach enormen Einfluss hatte, der sagte: „Wir müssen die Ukraine von Russland abschneiden“. Die Ukraine neu aufstellen, sie von Russland abschneiden, damit Russland nicht mehr ein Imperium ist. Aber man sollte sie (die Ukraine) nicht in die NATO aufnehmen. Man sollte einen neutralen Status schaffen, wie in Österreich zur Zeit des Kalten Krieges. Das wurde überhaupt nicht getan. Aber keineswegs aus strategischer Doppelzüngigkeit, ich benutze in Bezug auf die USA gern den Begriff "olympischer Lässigkeit": 'Wir haben gewonnen. Unsere Werte werden sich überall durchsetzen, durch Predigten, Sanktionen, Bombardierungen und all das. Wir haben gewonnen'. Der Realismus ist nicht gescheitert. Die Realpolitik hat nicht versagt, sie wurde nicht versucht. Es war eine Art konfuse Realpolitik, die dominiert hat. Und da bin ich ganz auf der Seite von Biden - nicht der Europäer. Biden hat von Anfang an gesagt: Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass Putin in der Ukraine gewinnt. Aber wir werden uns nicht in die Spirale eines Krieges gegen Russland hineinziehen lassen“. Und da gibt es eine Spaltung, weil es einen Teil der Europäer gibt, der sich nicht traut, das so zu sagen, aber der der Meinung ist, dass das russische Regime gestürzt werden muss. 

Euronews: Zurück zum historischen Russland, für einige?

Hubert Védrine: Ja, Walesa hat das schon gesagt, weil Russland auch ein Kolonialreich ist. Aber hier gibt es eine amerikanische Linie. Und selbst zu der Zeit, als man glaubte und hoffte, dass die Ukrainer gewinnen würden, hat der Generalstabschef der amerikanischen Streitkräfte deutlich gemacht, dass er den Angriff auf die Krim nicht unterstützen würde. Nun, so weit sind wir noch nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Ukraine ist bedroht, und ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen verhindern, dass Putin gewinnt.

Wird der Ukraine-Konflikt einfrieren?

Euronews: Sie sagten, dass für Biden, bzw. die Biden-Schule, Russland nicht gewinnen darf. Aber was bedeutet das konkret? Auf dem Terrain? Ähnlich der Demarkationslinie (zwischen zwei Besatzungszonen am 38. Breitengrad) von Korea? Das heißt, wir frieren den Konflikt dort ein, wo die Russen stehen?

Hubert Védrine: Ich erwarte eine Art Einfrieren des Konflikts. Entweder infolge des berühmten Trump-Plans, dessen Anfang wir kennen. Er sagt Selenskyj, dass er aufhören muss, also prescht dieser vor, indem er sagt, ich werde mich mit Trump einigen, ich lade die Russen zu Verhandlungen ein, das hat er bereits verstanden. Und selbst wenn die Demokraten gewinnen, werden sie nicht die ewige Unterstützung versprechen. Also eine Art Stillstand. Danach kann ich mir keine Verhandlungen vorstellen, zumindest keine direkten. Die Ukraine hat zu viel gelitten, der russische Krieg in der Ukraine ist zu widerlich, es ist ungeheuerlich, was die Menschen, die Ziele usw. betrifft. Es ist schrecklich. Sie können also nicht mit einem Präsidenten verhandeln, auch wenn es nicht Selenskyj ist, auch wenn es ein anderer ist, er kann nicht mit Russland verhandeln.

Euronews: Welches Konzept also?

Hubert Védrine: Verschiedene Länder schlugen Pläne vor, Pläne der Koexistenz, der Nachbarschaft, des organisierten Waffenstillstands. Die Türken, die daran erinnern, dass sie im ersten Jahr immerhin Verhandlungen moderiert hatten. Eventuell die Inder, die Chinesen, Lula, alle, aber nicht die Europäer, die jetzt in einem Lager sind. Die Europäer sollten sich – ohne die Unterstützung der Ukraine aufzugeben, so positionieren, dass sie in der Lage sind, in der Folge eine Rolle zu spielen. Und das bedeutet, man muss akzeptieren, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder mit den Russen spricht.

Euronews: Aber die Russen wollen mit den Amerikanern sprechen.

Hubert Védrine: Ich weiß.

Euronews: Und die Amerikaner wollen nicht mit den Russen sprechen. Vielleicht Trump?

Hubert Védrine: Trump hat einen Plan: 'Wir hören auf, es gibt kein Geld mehr und wir geben euch keine militärischen Ziele mehr'. Aber dann werden ihm alle sagen, auch in den USA, dass man Putin davon abhalten muss, wieder anzugreifen. Das kann sogar für Trump funktionieren, denn wenn die Russen wieder angreifen, kann er die Chinesen nicht mehr beeindrucken. Es könnte also einen zweiten Teil von Trumps Plan geben. Er sagt, er könne gewinnen. Das ist nicht sicher, nur eine ernsthafte Vermutung... ‚Ich kläre die Frage zwischen meiner Wahl und dem Einzug ins Weiße Haus am 21. Januar. Das würde bedeuten, dass er auf die eine oder andere Weise russische Garantien erhält. Die sind meiner Meinung nach nichts wert, es sei denn, es gibt Drohungen, die als Garantien bezeichnet werden, aber es müssen abschreckende Drohungen (der USA gegenüber den Russen) sein.

Euronews: Könnte ein Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union eine für alle akzeptable Lösung sein? 

Hubert Védrine: Die EU-Erweiterung muss irgendwann irgendwo aufhören. Die Idee, dass wir bis in die Mongolei expandieren... Das ist jetzt ein Witz – das steht nicht zur Debatte. In puncto Ukraine: Ich kann verstehen, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt aus Gründen der menschlichen Solidarität und angesichts der Gräueltaten, die die Ukrainer erleiden, diese Geste macht, aber es ist sehr kompliziert. In Wirklichkeit erfüllen sie die Bedingungen nicht. Es muss einen realistischen Zeitplan geben. Andererseits kann man Länder wie die des Westbalkans, die seit Jahren in der Warteschleife sind, nicht im Stich lassen.

Euronews: Genau das ist das Problem. Das größte Problem bei der Erweiterung auf dem Westbalkan ist die Anerkennung des Kosovo, Sie waren zur Zeit des Krieges Außenminister.

Hubert Védrine: Ich war in der Kontaktgruppe, auch mit dem damaligen russischen Außenminister Igor Iwanow. Ich erinnere daran, dass Spanien den Kosovo nicht anerkannt hat. Es gibt mehrere Länder in Europa, die den Kosovo nicht anerkannt haben, weil es ein zu gefährlicher Präzedenzfall ist. Ich verstehe nicht, wie die europäische Maschinerie, die immer noch psychorigide ist, mit viel, viel, viel Arroganz, vielleicht jetzt etwas weniger, ich verstehe nicht, wie man das zu einer Bedingung (für den EU-Beitritt Serbiens) machen kann.

Euronews: Auch weil der Aufbau einer europäischen Verteidigung, vor allem aus industrieller Sicht, nach wie vor völlig unrealistisch ist.

Hubert Védrine: Das ist sowieso nur Theater. Schon vor Macron, der persönlich sehr davon überzeugt ist, haben die Franzosen immer eine europäische Verteidigung vorgeschlagen, und die Europäer wollen sie nicht. Das hat vor allem mit der Verteidigungsindustrie in Europa zu tun. Aber die Amerikaner, die sagen, die Europäer müssen mehr ausgeben, sie bekämpfen die europäischen Konkurrenten. Sie wollen, dass die Europäer mehr ausgeben, um amerikanische Produkte zu kaufen. Die Länder, die im Verteidigungsbereich wichtig sind, sechs oder sieben, sollten hinter den Kulissen, ich sage es öffentlich, - das ist dumm, man sollte es im Geheimen tun, - sie sollten zusammen darüber nachdenken, was man tut, wenn Trump wirklich kommt.

Euronews: Die USA drängen auf eine Stärkung der NATO, auf eine Erweiterung, auf eine Ausdehnung des Aktionsradius der NATO auf den asiatisch-pazifischen Raum, auf eine Orientierung nach Asien, nicht alle Europäer sind davon überzeugt. 

Hubert Védrine: Ich habe einen klassischen Standpunkt, französisch und klassisch. Das ist der Nordatlantikvertrag. Es hat immer die Versuchung einer „hors zone“ gegeben, den Pakt auszudehnen. Das ist nichts Neues. Es ist keine gute Lösung. Es ist unkontrollierbar, hochgefährlich. Wir wissen nicht, wie weit uns das ausdehnen würde. Der Schlüssel zur NATO ist Artikel 5, der die Verpflichtung zur Verteidigung der Verbündeten festschreibt. Wir brauchen ein anderes Bündnis, ein echtes Bündnis, und in bestimmten Fällen, für bestimmte punktuelle Operationen, kann es eine punktuelle, begrenzte Zusammenarbeit zwischen diesem oder jenem NATO-Land in Europa und diesem asiatischen Bündnis geben, vielleicht oder vielleicht auch nicht. Man kann auch nein sagen. Aber auf jeden Fall kann es meiner Meinung nach nicht dasselbe Bündnis sein. Übrigens war es bereits ein Missbrauch, die theoretische Zuständigkeit der NATO auf Afghanistan auszudehnen, was im Übrigen scheiterte. 

Sicherheitsproblem Naher Osten

Euronews: Für die europäische Sicherheit hingegen ist der Nahe Osten ein großes Problem.

Hubert Védrine: Es gibt mehrere Szenarien, einige davon sind schrecklich: Die nationalistischen, extremistischen, fast faschistischen Israelis, nicht unbedingt Netanjahu, aber seine Verbündeten, schaffen es, alle Palästinenser zu vertreiben. Sie machen das Leben im Westjordanland unerträglich. Sie sind also wirklich Brandstifter im Westjordanland. Oder die andere schreckliche Hypothese, dass die Israelis eines Tages eine richtige Bombe abbekommen. Das sind Szenarien, das sind keine Lösungen. Die einzige Lösung ist die, für die Yitzhak Rabin den Mut hatte zu kämpfen: zwei Staaten – einen Staat für die Palästinenser.  Rabin, Schimon Peres, (Ehud) Olmert, Ehud Barak und sogar (Ariel) Sharon am Ende, - bevor Netanjahu gewann, die Macht zurückeroberte, vor allem, wie Clinton sagte, wegen des Einflusses der russischen Juden in der Wählerschaft, und (Netanjahu) sagte: ‚Mit mir wird es niemals einen palästinensischen Staat geben‘. Dann der Schrecken des 7. Oktober, der Schrecken des Krieges.

Euronews: Ein palästinensischer Staat hätte welche Grundlage? Immerhin gab es damals Arafat, die PLO...

Hubert Védrine: Aber auch das Team Biden, das übrigens sehr, sehr, sehr gut in diesem Punkt ist - so gut wie möglich, wenn man bedenkt, dass das Amerika ist. Biden, Blinken, Sullivan sagen, es muss einen Weg zu einem palästinensischen Staat geben. Die arabischen Länder selbst haben völlig aufgegeben. Ich gehe davon aus, dass Netanjahu an den Rand gedrängt wird. Es muss eine israelische Regierung geben, die das Risiko mit der palästinensischen Seite eingeht. Es muss eine neue und glaubwürdige Palästinensische Autonomiebehörde geben. Das ist die einzige Bedrohung für die Hamas. Und die Hamas wird alles tun, um das zu verhindern. Das heißt, wenn es einen anderen israelischen Ministerpräsidenten oder einen anderen palästinensischen Anführer gibt, der nicht von der Hamas kommt, muss man ihn schützen.

Euronews: Und ein einziger Staat? 

Hubert Védrine: Das wäre nicht von Dauer.

Euronews: Vielleicht mit einer Namensänderung?

Hubert Védrine: Zuerst muss es zwei getrennte Völker geben.  Vielleicht werden sie eines Tages mehr zusammen leben, ich glaube nicht daran. Ich sehe das nicht. Es scheint mir noch komplizierter zu sein als das andere Szenario, das...

Euronews: … bereits ziemlich kompliziert ist.

Hubert Védrine: Kompliziert, aber wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren.

Euronews: Zum Schluss ein hoffentlich etwas weniger kompliziertes Szenario: Die Lage in Frankreich nach den Wahlen. Es gibt große Schwierigkeiten, eine Mehrheit zu finden. Eine Kohabitation steht im Raum. Aber mit welcher Mehrheit? Sie waren Minister in einer Kohabitations-Regierung. 

Hubert Védrine: Ich habe alle drei Kohabitationen erlebt. Schon Präsident Macron hatte keine echte Mehrheit, er hatte eine Regierung, die je nach Thema navigierte. Die Situation ist noch komplizierter als zuvor. Zunächst einmal, weil niemand die Wahlkoalition der (Nouveau) Front Populaire vorausgesehen hatte. Das ist übrigens sehr erstaunlich, denn...

Euronews: Ein Kartell?

Hubert Védrine: Ja, das sogenannte Linkskartell aus den Jahren 22-23. Macron hat damit nicht gerechnet, niemand hat damit gerechnet. Denn es gibt einen absoluten Widerspruch in der Substanz. Bei anderen Themen braucht man sich nur das Programm anzuschauen. Man sieht, dass es persönliche Widersprüche gibt, widersprüchliche Ambitionen und enorme programmatische Widersprüche. Die Frage ist also, was wird in diesem Jahr geschehen? Es sei denn, der Front Populaire gelingt es, eine Kandidatur durchzusetzen, was im Moment nicht der Fall ist. Und wenn nicht, dann wird es Koalitionsversuche geben, entweder mit den verbliebenen Macronisten, Ensemble, plus ein bisschen gemäßigte Rechte, nicht Rassemblement National (RN), ein bisschen Linke, ein bisschen ... und niemand weiß es genau. Auf jeden Fall ist es eine Minderheit.

Euronews: Aber muss man Ihrer Meinung nach eine institutionelle Entspannung, eine Form der institutionellen Entspannung mit dem Rassemblement National (RN) einleiten bzw. schaffen? Denn er repräsentiert einen beträchtlichen Teil der französischen Wählerschaft.

Hubert Védrine: Ja, ich denke, dass wir die Grenzen der Demokratie erreicht haben, wenn man Leute, die fast die Hälfte der Wählerschaft repräsentieren, von Ämtern ausschließt, das ist nicht mehr haltbar. Im Übrigen, wenn die Republikanische Front, diese Koalition gegen die Rechtspopulisten und der Moralismus und die Geschichte des Faschismus -  meiner Meinung nach ist das etwas ganz anderes. Es ist intellektuelle Faulheit, das mit den 30er Jahren zu vergleichen, das ist wirklich etwas ganz anderes. Wenn es funktioniert hätte, wäre der RN bei 15 % und nicht bei 40 %. Es stimmt, dass die Frage heikel ist und die Antworten einige Leute schockieren könnten. Aber meiner Meinung nach müssen die Regierungsparteien entweder reagieren, was sie in den vergangenen 30 Jahren nicht geschafft haben, und auf die nicht faschistische, sondern banale Forderung nach Ordnung reagieren. Oder der RN wird eines Tages regieren. Dann werden wir die Grenzen sehen. Wer weiß, vielleicht wird es banal werden und der RN wird eine verhasste Regierungspartei wie alle anderen.

Der Alleingang Viktor Orbáns

Euronews: Apropos Rechtspopulisten: Es gab eine Initiative von Viktor Orbán, dem ungarischen Ministerpräsidenten, der sehr kritisiert wurde, mit den Russen, den Chinesen und auch mit Trump zu verhandeln. Glauben Sie, dass solche Initiativen nützlich sein könnten? 

Hubert Védrine: Nein, nicht isoliert. Das schreit nicht nach einem Skandal, weil sich zuerst niemand mehr daran erinnert, dass es eine rotierende Rats-Präsidentschaft ist. In gewisser Weise….

Euronews: ... hat das der rotierenden Rats-Präsidentschaft Sichtbarkeit verliehen. 

Hubert Védrine: Er verleiht ihr neuen Glanz. Aber es bleibt ein Einzelspiel. Wenn Putin ihn empfängt, weiß er genau, dass er nur für sich selbst spricht, vielleicht mit einem oder zwei Ländern im Schlepptau. Ich schimpfe also nicht gegen Orbán, auch wenn er das ganze System, die Kommission, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in einen komatösen Zustand versetzt. Auf jeden Fall wird sich der Rahmen am Ende des Jahres ändern. Wird es Trump? Am wahrscheinlichsten sind aktuell die Demokraten, die nicht auf der bisherigen Linie bleiben werden. Orbán kann also sagen, er habe den Boden bereitet, aber das bedeutet nichts, er kann den Boden nicht bereiten. Denn die Diskussion, an der die Russen interessiert sind, ist die amerikanische Diskussion und Selenskyj wird Vermittler brauchen, die mit Amerikanern und Russen sprechen. Also haben sie einen übertriebenen Skandal gestartet. Es geht eher um Revierkämpfe, aber das ist auch nicht die Lösung. Und ich sehe nicht, dass die Europäer selbst im Rahmen von Trump den Orbán machen. 

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