Der Machtwechsel in Syrien nach dem Sturz von Baschar al-Assad dürfe nicht in "Rache" und "Vergeltung" zwischen den verfeindeten Gruppierungen ausarten, forderte Kaja Kallas.
Am Sonntag haben hauptsächlich islamistische Rebellen den syrische Hauptstadt Damaskus erobert und den früheren Präsidenten Baschar al-Assad gestürzt. Nun warnte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas vor "Rache" und "Vergeltung" in Syrien. Zugleich rief sie die Rebellen zum Schutz von Minderheiten und Religionsfreiheit auf.
"Dies ist eine große Sorge, weil wir wissen, dass es in Syrien so viele verschiedene Gruppen gibt", sagte Kallas am Dienstagabend in einer Sondersitzung des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments. Die ersten Signale der syrischen Rebellen seien "gut", aber es sei zu früh, ein Urteil zu fällen, so Kallas. "Die kommenden Wochen sind definitiv entscheidend, um zu sehen, ob dies in die richtige Richtung geht."
Kallas lobte Syrer für eine "historische Errungenschaft"
In ihrer ersten Rede vor der Kamera nach dem Sturz des Assad-Regimes am Wochenende lobte Kallas das syrische Volk für seine "historische Errungenschaft". Sie betonte zugleich, dass der Übergang "enorme Herausforderungen" für das vom Krieg zerrissene Land und den gesamten Nahen Osten mit sich bringen werde.
Kallas, deie ihr Amt als EU-Außenbeauftragte am Anfang des Monats angetreten hat, wies insbesondere auf die anhaltenden Risiken von religiös motivierter Gewalt, Extremismus, Radikalisierung, "Instrumentalisierung der Religion" und Terrorismus hin, "die alle abgewendet werden müssen". "Wir müssen eine Wiederholung der schrecklichen Szenarien im Irak, in Libyen und Afghanistan vermeiden", sagte sie.
"Zweitens müssen die Rechte aller Syrer, einschließlich der Rechte vieler Minderheiten, geschützt werden. Und drittens ist es von entscheidender Bedeutung, die territoriale Integrität Syriens zu wahren und seine Unabhängigkeit, seine Souveränität sowie die staatlichen Institutionen zu respektieren", fügte sie hinzu.
Ehemalige Al-Qaida-Kämpfer führte die Rebellen an
In Bezug auf die Zusammenarbeit mit der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), hat Kallas zwar keine Gratwanderung angekündigt, räumte aber einige Fortschritte ein. Diese militante islamistische Gruppe hat die Offensive der syrischen Rebellen zum Sturz des Diktators al-Assad angeführt und gehört somit zu den wichtigsten Akreuren, die die Zukunft Syriens gestalten werden.
Die HTS, die "Komitee zur Befreiung der Levante", hat sich früher zu Al-Qaida bekannt, bevor sie 2016 die Verbindung mit ihr abbrach. Deswegen ist die HTS von den Vereinten Nationen und der Europäischen Union als eine verbotene terroristische Organisation eingestuft worden.
Die HTS und ihr Anführer Abu Muhammad al-Dscholani haben sich inzwischen dem Pluralismus verschrieben und einen provisorischen Ministerpräsidenten ernannt, um Legitimität zu erlangen. Dennoch werden sie nach wie vor an Menschenrechtsverletzungen beschuldigt. Unter anderem sollen sie Hinrichtungen wegen Blasphemie und Ehebruch als Teil einer strengen Auslegung des islamischen Rechts durchgeführt haben.
EU wird die HTS nach ihren Taten beurteilen
In Anbetracht der heutigen Lage und der Vergangenheit der HTS sagte Kallas, man werde die HTS "nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten" beurteilen. Sie warnte auch, dass es zu früh sei, ein Urteil zu fällen.
"Die ersten Signale sind gut, aber wir werden nichts überstürzen, solange wir keine Gewissheit haben", sagte Kallas den EU-Abgeordneten. "Es ist wichtig, dass wir engen Kontakt zu den regionalen und allen internationalen Akteuren halten, um Syrien beim Aufbau eines normalen Lebens zu unterstützen.“
Da die HTS derzeit im Westen als eine Terrororganisation eingestuft ist, können weder EU-Beamte noch andere Vertreter westlicher Mächte einen direkten Kontakt zu ihren Anführern aufnehmen. Deshalb verlassen sich die USA darauf, dass die Türkei Botschaften über ihre Syrienpolitik weitergibt. Kallas hat nicht klargestellt, ob sich die EU ebenfalls dafür entscheidet.
In den vergangenen Tagen hat Kallas unter anderem mit ihren Amtskollegen in Marokko, Libanon, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten Kontakt aufgenommen.
Derzeit gelten in der Europäischen Union Sanktionen gegen das Assad-Regime, die Beschränkungen für Waffen, Öl, Technologie und Finanztransaktionen beinhalten. Ob diese in der nahen Zukunft überprüft und abgehoben werden können, hängt davon ab, wie sich die Lage in Syrien entwickelt.
Der liberale Abgeordneter Barry Andrews schlug vor, als ersten Schritt die Ausnahmeregelung im Rahmen der Sanktionen, die die Lieferung von humanitärer Hilfe ermöglicht, auszuweiten.
Während der einstündigen Sitzung betonte Kallas, es sei "im Interesse aller", einschließlich der EU und der Arabischen Liga, dass Syrien in der Post-Assad-Ära gedeihe und nicht in einen weiteren Bürgerkrieg oder eine Flüchtlingskrise stürze.