Syrien steht vor einer gewaltigen Aufgabe: Das Land, in dem über 13 Jahre lang Bürgerkrieg herrschte, muss nach dem Ende der 24-jährigen Herrschaft von Bashar al-Assad seine Zukunft neu gestalten.
Während sich der Staub nach dem dramatischen Sturz des langjährigen syrischen Machthabers Baschar al-Assad legt, nimmt die politische Zukunft des Landes allmählich Gestalt an.
Der Anführer der größten aufständischen Gruppe Syriens, der Hajat Tahrir al-Scham (HTS), rief die Kämpfer aller Fraktionen auf, zu ihren Stützpunkten zurückzukehren und ihre Waffen niederzulegen, während sich Syrien auf einen Machtwechsel vorbereitet.
"Ich hoffe, dass alle, die eine Waffe tragen, morgen früh, wenn die Institutionen ihre Arbeit in den Bereichen Dienstleistungen, Sicherheit und Polizei aufnehmen, zu ihrem Stützpunkt gehen und sich ihrer Division, ihrem Bataillon oder ihrer Brigade verpflichten. Wir werden das Auftauchen von Waffen oder das Schießen auf den Straßen weder akzeptieren noch zulassen," sagte der Anführer der islamistischen HTS, Abu Muhammad al-Dscholani (Ahmed al-Scharaa).
Al-Dscholani, dessen Gruppe andere Oppositionsgruppen in der 12-tägigen Offensive zur Entmachtung Assads anführte, hat den bisherigen Ministerpräsidenten Mohammad Ghazi al-Dschalali zum Leiter der Übergangsregierung ernannt. Nun muss er sicherstellen, dass staatliche Institutionen und soziale Dienstleistungen ununterbrochen weiter funktionieren, bis der Machtwechsel im Land vollendet ist.
Al-Dschalali, der seit Mitte September dieses Jahres unter Assads Führung als Ministerpräsident fungierte, wurde am Sonntag von einer Gruppe bewaffneter Männer festgenommen und aus seinem Büro eskortiert. Seitdem hat er erklärt, er sei bereit, die Macht abzugeben und mit den Rebellen zusammenzuarbeiten.
Es ist unklar, wie lange al-Dschalali als Verwalter fungieren wird. In Interviews mit arabischen Medien sagte er, er stehe in Kontakt mit dem Anführer der HTS, um mit ihm über die Übergangszeit zu beraten. Er erklärte auch, er habe die Zusicherung erhalten, dass kein Syrer von den Rebellengruppen geschädigt oder aufgrund seiner religiösen oder kulturellen Überzeugungen diskriminiert werde, und forderte freie und faire Wahlen, die dem Volk die Macht zurückgeben.
"Ich werde nicht gehen und habe auch nicht die Absicht, zu gehen. Ich erwarte, dass die Kontinuität der Behörden und Institutionen sowie die Sicherheit für alle Bürger auf friedliche Weise gewährleistet wird", sagte al-Dschalali in einer Videoerklärung.
Medienberichten zufolge könnte es bereits am Montag, den 9. Dezember, eine Einigung über die Übertragung der Macht an eine Übergangsregierung geben.
13-stündige Ausgangssperre in Damaskus
Syrische Rebellen haben in Damaskus eine 13-stündige Ausgangssperre verhängt, und zwar gleich am ersten Tag nach dem Sturz des Assad-Regimes, der im ganzen Land als großer Erfolg gefeiert wurde.
Die Ausgangssperre begann um 16 Uhr Ortszeit (14 Uhr MEZ) und endete am Montagmorgen um 5 Uhr. (3 Uhr MEZ). Währenddessen waren die syrischen Rebellen damit beschäftigt, ihre Kontrolle über die Stadt und ihre wichtigsten Einrichtungen zu festigen.
Die Bevölkerung von Damaskus hat sich an die Ausgangssperre gehalten. Die Hauptstadt war wie ausgestorben, niemand war auf den Straßen, die Geschäfte und Betriebe blieben geschlossen – eine völlige Kehrtwende im Vergleich zur Nacht zuvor, als die Syrer die Straßen bis in die frühen Morgenstunden bevölkerten.
Israel rückt in die Pufferzone in Syrien ein
Das israelische Militär teilte am Sonntag mit, es habe Truppen an "andere Orte geschickt, die für seine Verteidigung notwendig sind". Israelische Truppen wurden in eine Pufferzone auf den Golanhöhen entsandt, um "die Sicherheit der Bewohner" der israelisch kontrollierten Teile zu gewährleisten.
Einige Stunden später gab Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bekannt, dass er seinen Truppen befohlen habe, die Kontrolle in der Pufferzone zu Syrien auf den Golanhöhen zu übernehmen. Diese Pufferzone wurde mit einem Waffenstillstandsabkommen mit Syrien 1974 eingerichtet.
Dies gab Netanjahu am Sonntag bekannt, nachdem ein blitzartiger Vorstoß der Rebellen die Herrschaft Assads beendet hatte.
Netanjahu sagte, dass die Lage eine israelische Übernahme erforderlich mache, nachdem die syrischen Truppen ihre Stellungen aufgegeben hätten. Die israelische Armee erklärte am Sonntag, dass die israelischen Truppen in der Pufferzone positioniert worden sind, weil sonst "bewaffnete Gruppen in die Pufferzone eindringen könnten".
Die Arabische Liga verurteilte am Sonntag die Stationierung der israelischen Truppen entlang der sogenannten Alpha-Linie, die die von Israel annektierten Golanhöhen von Syrien trennt. Israel nütze den Sturz Assads aus, um weiter in syrisches Gebiet vorzurücken, so die Arabische Liga in einer Erklärung. Israel habe illegal versucht, weitere Gebiete zu besetzen.
Israel eroberte die Golanhöhen 1967 im Laufe des Sechstagekrieges und annektierte sie. 1967 bereiteten mehrere arabische Staaten unter Führung Ägyptens einen Angriff auf Israel vor. Es kam zu Truppenaufmärschen im Sinai und an den Golanhöhen. Nach einem Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten eroberte die israelische Armee die strategisch wichtigen syrischen Golanhöhen. Sie sind international als Teil Syriens anerkannt.
Die Vereinigten Staaten sehen dies jedoch anders. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Golanhöhen bei einem Besuch von Ministerpräsident Netanjahu in Washington am 25. März 2019 vollständig als israelisches Hoheitsgebiet anerkannt.
Israelischen Medienberichten zufolge soll Netanjahu auch die israelischen Streitkräfte angewiesen haben, Luftangriffe auf mehrere Ziele in ganz Syrien, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, durchzuführen.
Disee Angriffe richteten sich gegen Munitions- und Waffenlagern auf dem Luftwaffenstützpunkt Khalkhalah in As-Suwaida, mehrere Stellunge im Gouvernement Darʿā und den Militärflughafen al-Mazzah, etwa 6 Kilometer südwestlich des Stadtzentrums von Damaskus.
Die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte beschuldigte Israel, die Angriffe verübt zu haben. Die israelische Armee hat sich noch nicht öffentlich zu der Angelegenheit geäußert.
Nur 12 Tage bis zum Sturz Assads
Die syrische Regierung ist am frühen Sonntag zusammengebrochen. Dies bedeutet das Ende der 50-jährigen Herrschaft der Assad-Familie bedeutet. Zuvor waren die Rebellen überraschend durch die von der Regierung kontrollierten Gebiete vorgedrungen. Dabei haben sie Damaskus in nur 12 Tagen erobert.
Eine Koalition von Rebellengruppen, angeführt von der HTS, startete am 27. November eine Überraschungsoffensive und eroberte große Teile von Aleppo, der größten Stadt Syriens, die sie 2016 an die Assad-Truppen abgetreten hatten.
Jahrelang konnten die Rebellen keine nennenswerten Fortschritte erzielen, da Assads Streitkräfte militärisch von Russland, Iran und ihren regionalen Stellvertretern unterstützt wurden.
2018 konnten die Rebellen zum ersten Mal seit dem Verlust von Aleppo vorrücken und Gebiete in den Außenbezirken der Hauptstadt Damaskus einnehmen.
Nun begann die Rebellenkoalition ihre Offensive mit einem einzigen Ziel vor Augen: den Sturz von Baschar al-Assad. HTS-Kämpfer und eine von der Türkei unterstützte Dachorganisation syrischer Milizen, die sogenannte Syrische Nationalarmee, rückten auf Aleppo vor und eroberten am ersten Tag große Teile der Stadt. Sie stießen auf Widerstand von Assads Truppen und der russischen Luftwaffe, aber dieser reichte nicht aus, um sie abzuschrecken oder Aleppos Schicksal zu ändern.
Die aufständischen Gruppen nahmen später die zentrale Stadt Hama ins Visier, die sie innerhalb weniger Tage unter ihre Kontrolle brachten, bevor sie zu ihrem nächsten Ziel, Homs, vorstießen.
Am Samstag gelang der von der HTS geführten Koalition ein schneller Vorstoß in die Stadt Homs, die sie am Ende des Tages unter ihre Kontrolle brachte, bevor sie in den frühen Morgenstunden des Sonntags in die Außenbezirke der Hauptstadt vordrang.
Assads Truppen zogen sich rasch zurück und gaben ihre Stellungen in der Hauptstadt auf, während die Kämpfer der Rebellen an die Tore von Damaskus klopften. Schon bald kursierten Berichte, wonach Präsident Assad aus der Hauptstadt geflohen sei. Später wurde diese Nachricht von Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Dschalali in einem Exklusivinterview mit Al Arabiya bestätigt. Laut eigenen Anaben habe er seit Samstagabend keinen Kontakt mehr zu Baschar al-Assad.
Die Rebellen besetzten rasch mehrere wichtige Einrichtungen in Damaskus und übernahmen schließlich die Kontrolle über den wichtigsten staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender. Dort verkündeten sie dem syrischen Volk das Ende von Assads "Schreckensherrschaft".
Assads Aufenthaltsort blieb zunächst unklar. Unterdessen haben die russischen Medien bekanntgegeben, dass er kurz vor dem Eindringen der Rebellen in die Hauptstadt in einem Flugzeug nach Russland geflüchtet ist. Am Sonntagmorgen meldeten russische Staatsmedien, dass Baschar al-Assad und seine Familie in Moskau angekommen seien, wo ihnen Asyl gewährt wurde.
Warum war der Zeitpunkt der Rebellenoffensive so entscheidend?
Assad hatte wenig oder gar keine Hilfe von seinen Verbündeten. Jahrelang waren Russland und der Iran die wichtigsten finanziellen und militärischen Unterstützer von Assads Streitkräften. Sie waren entscheidend im Kampf um Aleppo, das 2016 nach jahrelangen Kämpfen mit verschiedenen Milizen unter seine Kontrolle gebracht wurde.
Diesmal war es jedoch anders, da seine beiden engsten Unterstützer sowohl militärisch als auch finanziell erheblich geschwächt waren.
Russland ist seit 2022 mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine beschäftigt. Der Kreml hoffte auf einen schnellen und entscheidenden Sieg und ging davon aus, die Kontrolle über die Hauptstadt Kyjiw in nur drei Tagen übernehmen zu können. Doch, Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich verrechnet. Die Ukrainer kämpfen tapfer für ihre Freiheit und werden dabei nach wie vor von einer Vielzahl europäischer und anderer westlicher Mächte unterstützt.
Der Krieg gegen die Ukraine ist eine große Demütigung für Russland, das nach der Verhängung lähmender Sanktionen durch westliche Länder unter schweren wirtschaftlichen Folgen leidet. Dies wiederum bedeutete, dass der Kreml nur über begrenzte Ressourcen verfügt. Dies schränkt seine Fähigkeit, seine Stellvertreter zu finanzieren oder sie militärisch zu unterstützen, erheblich ein.
Auch der Iran war fast ein ganzes Jahr lang sehr beschäftigt. Am 7. Oktober 2023 verübte die vom Iran unterstützte Terrormiliz Hamas einen Angriff auf Israel, bei dem mehr als 1.200 Menschen getötet wurden. Israel reagierte darauf mit einem Krieg, der darauf abzielte, die Hamas zu vernichten. Der Krieg griff schnell auf den Libanon über, als sich die Hisbollah, ein weiterer Stellvertreter des Iran im Libanon, der Hamas anschloss und Israel wiederholt aus der Luft angriff.
Israel hat die Ressourcen und die Infrastruktur der Hamas und der Hisbollah erheblich reduziert. Dies hat dazu geführt, dass der Iran beide Milizen kontinuierlich mit mehr Geld und Waffen versorgen muss, was seine eigenen Ressourcen erschöpft.
Dies bedeutete auch, dass Assads Streitkräfte für seine Partner nicht mehr Priorität hatten, was ihn im Wesentlichen isolierte. Deshalb musste er sich der aufkommenden Rebellen allein und mit begrenzten Ressourcen stellen.
Syrischer Bürgerkrieg in Zahlen
Der syrische Bürgerkrieg geht auf den "Arabischen Frühling" zurück – einer Protestbewegung, die Anfang der 2010er Jahre in mehreren Staaten im Nahen Osten stattfand.
In Syrien kam es nach ersten Protestaufrufen im Februar 2011 zu Verhaftungen zahlreicher Oppositioneller. Die Lage eskalierte und entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg, der laut Angaben der Vereinten Nationen einen unbeschreiblichen Schaden im Land angerichtet hat. Unter anderem ist im Laufe der Jahre Folgendes passiert:
Mehr als 14 Millionen Menschen mussten flüchten: Das ist weltweit die größte Flüchtlingskrise nach dem zweiten Weltkrieg.
Rund 5,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben in den fünf Nachbarländern Syriens: Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten.
Deutschland ist mit mehr als 850.000 syrischen Flüchtlingen das größte nicht benachbarte Aufnahmeland.
Mehr als 7,2 Millionen Syrer sind Binnenflüchtlinge.
90 Prozent der syrischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.
70 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.