Martin Schulz: "Europa nimmt den Bürgern nichts weg - im Gegenteil"

Martin Schulz: "Europa nimmt den Bürgern nichts weg - im Gegenteil"
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Seit Mitte Januar ist der Deutsche Martin Schulz Präsident des Europaparlaments. Zuvor leitete er dort die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). Im Interview mit euronews räumt der 56jährige Schulz ein, dass Europa noch zu weit weg ist von den Bürgern, zu viel Skepsis bei ihnen auslöst und er sagt, wie er in seiner neuen Rolle dabei helfen will, diese Skepsis und Zweifel zu überwinden.

Rudolf Herbert, euronews: Herr Präsident des Europaparlaments, willkommen bei Euronews! Meine erste Frage: Seit zwei Jahren ringen die Regierungen der Europäischen Union mit einer Lösung der Schuldenkrise. Denken Sie nicht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Europa inzwischen ein Problemfall ist?

Martin Schulz: Ich denke nicht nur, dass es so ist, ich glaube auch, dass es so ist: Dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Effektivität der Europäischen Union in Zweifel gezogen wird. Es gibt auch gute Gründe das zu tun. Im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, also in diesem Organ der Europäischen Union, im Europäischen Rat, wie er sich nennt, unter dem Vorsitz von Herrn Rompuy wird seit zwei Jahren ständig gesagt: Wir lösen die Probleme! Aber die Probleme werden nicht gelöst, sondern sie werden verschoben, oder das Beschlossene wird nicht ausgeführt, und der Vertrauensverlust, der damit verbunden war, ist enorm. Darunter leiden wir alle, wir im Europäischen Parlament und auch die Kommission.

euronews: Und was kann getan werden, um das Vertrauen der Bürger Europas wiederzugewinnen?

Martin Schulz: Eine ganz einfache Regel einzuhalten: Sagen was man tut und tun, was man sagt! Was haben wir erlebt? Ich mache das mal verkürzt: Im Frühjahr 2010 kein Geld für Griechenland, drei Monate später: Doch Geld für Griechenland, aber nur zeitlich begrenzt! Drei Monate später: Jetzt permanent, aber ohne Vertragsänderung! Drei Monate später: Jetzt mit Vertragsänderung und das reicht dann! Jedesmal etwas anderes als das, was man als Lösung angekündigt hat!

euronews: Bei den vergangenen Wahlen, den Europawahlen, ist die Zahl der wählenden Bürger Europas zurückgegangen. Wird sich das ändern? Wie kann man das ändern?

Martin Schulz: Ich glaube, ja, dass sich das ändern wird. Da bin ich etwas anderer Meinung als viele Leute, die glauben, bei der nächsten Wahl würde das wieder runtergehen. Das glaube ich nicht! Erstens ist Europa zum ersten Mal ein gesamteuropäisches Diskussionsprojekt geworden, wir diskutieren überall, in allen Ländern zum gleichen Zeitpunkt über die europäische Politik. Das hat es bis dato in dieser Form nicht gegeben. Das ist zwar negativ besetzt wegen der Angst vor der Krise und wegen zum Teil auch falscher Entscheidungen, aber zum ersten Mal haben wir es mit einer richtigen europäischen Öffentlichkeit zu tun! Und ich glaube zum Zweiten: Im Lissaboner Vertrag ist vorgesehen, dass der nächste Präsident der EU-Kommission gewählt wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Europawahl! Das heißt, ich gehe davon aus, dass die Parteien, die großen europäischen Parteien, mit einem gemeinsamen gesamteuropäischen Spitzenkandidaten oder einer Spitzenkandidatin für die Wahl des Kommissionspräsidenten antreten. Dann haben Sie einen Wettkampf von Leuten und deren Programm gegeneinander. Das hatten wir bis dato bei den Europawahlen nicht!

euronews: Stichwort Präsident: Wir haben einen Präsidenten des Europäischen Rats und gleichzeitig einen Präsidenten des Rats der Europäischen Union und, wie Sie selbst gesagt haben, wir haben auch einen Präsidenten der Europäischen Kommission. Denken Sie nicht, dass es für viele Bürger schwierig ist, das auseinanderzuhalten und zu wissen, wer nun wofür zuständig ist in Europa?

Martin Schulz: Doch, das ist so! Das ist für ganz viele Bürger gar nicht nachvollziehbar und deshalb brauchen wir da auch mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit. Es gibt ja den Vorschlag, die Position von Herrn Van Rompuy und von Herrn Barroso, also Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rats zusammenzulegen. Das würde bedeuten, dass der Präsident der Kommission auch den Vorsitz bei den Staats- und Regierungschefs führt. Ich halte es für vernünftig, darüber nachzudenken. Und wie gesagt, der Präsident der Europäischen Kommission, der eine Art Regierungschef von Europa werden wird, sollte durch das Europäische Parlament gewählt werden und dann wissen die Bürger auch, wohin ihre Stimme geht: Ich will einen linken Kommissionspräsidenten, dann wähle ich eine linke Partei. Ich will einen rechten, dann wähle ich eine rechte Partei, Aber ich weiß, was mit meiner Stimme geschieht!

euronews: Etwa 80 Prozent oder sogar mehr der heute in den Mitgliedsstaaten gültigen Gesetze werden auch vom Europäischen Parlament verabschiedet. Trotzdem wird dieses Parlament in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Woran liegt das?

Martin Schulz: Sie haben Recht, die öffentliche Wahrnehmung des Europaparlaments steht in keinem Verhältnis zu unseren tatsächlichen Befugnissen. Ich glaube, die Erklärung ist leicht: Es gibt eine nationale und keine europäische Öffentlichkeit, die durchgängig über europäische Politik diskutiert. Das haben wir eben wir eben miteinander erörtert. Also wenn in Deutschland ein Gesetz, das wir hier gemacht haben, im deutschen Bundestag diskutiert wird, weil die Bundesrepublik die Duchführungsgesetze berät, haben die Wähler den Eindruck: Die machen das Gesetz! Dass das Gesetz schon längst existiert, haben sie nicht mitbekommen. Es ist die Aufgabe des Parlamentpräsidenten, also meine Aufgabe, unter anderem dafür zu sorgen, dass unsere Arbeit sichtbarer und hörbarer wird. Ich gebe mir große Mühe, das zu tun.

euronews: Das haben Sie auch erklärt, dass Sie die Rolle des Europaparlaments stärken wollen. Wie wollen Sie das tun?

Martin Schulz: Ja, indem für die Öffentlichkeit klar wird, dass der Ort der kontroversen Debatte aber auch der Ort der klaren Entscheidungen in Europa unser Parlament ist. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Viktor Orban und seine Regierung in Ungarn. Man kann dazu stehen, wie man möchte, doch in jedem Fall ist es ein hochkontroverser Debattenprozess, in allen Ländern Europas.

euronews: Welche weiteren Ziele haben Sie als Präsident? Was wollen Sie noch erreichen?

Martin Schulz: Ich glaube, das reicht schon, dass ich den nächsten zweieinhalb Jahren versuche, das Europäische Parlament ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das geht übrigens notfalls auch im Konflikt, also wenn es erforderlich ist! In der Kooperation mit anderen Institutionen. Aber meine politische Erfahrung lehrt mich auch, dass die Wählerinnen und Wähler besonders interessiert an der Kontroverse sind.

euronews: Sie sind seit 1994 Mitglied des Parlaments. Wenn Sie zurückblicken, zwar nicht auf die ganze Zeit: Aber was würden Sie sagen, welches sind die wichtigsten oder welches ist die wichtigste Leistung Europas gewesen in den vergangenen Jahren?

Martin Schulz: Ich glaube die Erweiterung! Wir haben mit der Aufnahme der zehn Staaten, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind – vor allen Dingen – wenn ich mal Malta abziehe und Zypern – mit den Staaten Mittel- und Osteuropas, die über Jahrzehnte künstliche Teilung dieses kulturell und politisch zusammengehörenden Kontinents überwunden. Das ist eine historische Leistung, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann! Ich glaube zudem – so kontrovers es sein mag -, dass die Einführung des Euro langfristig Europa schützt im Verhältnis zum Wettbewerbsdruck, der aus anderen, aufsteigenden Regionen dieser Welt auf uns ausgeübt wird. Die Verteidigung unseres sozialen Modells geht auch über eine starke Währung. Und deshalb glaube ich, dass diese beiden Dinge, die Erweiterung und der Euro, die großen Leistungen Europas sind.

euronews: Was würden Sie zu den Mißerfolgen sagen? Was ist nicht gelungen in den vergangenen Jahren?

Martin Schulz: Die Bürger davon zu überzeugen, dass Europa ihnen nichts wegnimmt, sonder was dazugibt! Ich selbst habe über viele Jahre – das will ich gerne zugeben – an die Vereinigten Staaten von Europa als ein Modell so wie die europäischen USA geglaubt. Ich habe viel zu spät erst verstanden, dass nationale Identität, regionale Identität für Menschen wichtig ist. Und dass es auch nichts Schlechtes ist! Was ist denn schlecht, wenn man eine italienische Identität hat? Was ist schlecht, wenn man eine finnische Identität hat? Die Identitäten unserer Völker sind ein Reichtum Europas, die Kulturen unserer Völker sind ein großes Erbe unseres europäischen Kontinents!

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Margaritis Schiras: "Bei vielen Krisen war die EU Feuerwehr und Architekt"

Bauernproteste in Gewalt umgeschlagen: Polizei setzt Tränengas ein

Präsidentschaftswahlen in der Slowakei: Korcok gewinnt erste Runde