Schwedens wachsendes Problem mit Handgranaten

Ermittler an einem Tatort in Schweden.
Ermittler an einem Tatort in Schweden. Copyright TT News Agency/Johan Nilsson
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Von Alexandra LeistnerKaris Hustad
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Schweden gilt als besonders sicheres Land. Dennoch gibt es seit einigen Jahren immer öfter Gewalttaten durch Handgranaten. Karis Hustad erklärt, warum.

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An einem Sonntag im Januar dieses Jahres fuhr Daniel Cuevas Zuniga, ein 63-jähriger Chilene mit seiner Frau nach Vårby Gård, einen Vorort von Stockholm. Er sah ein Objekt auf dem Radweg und griff danach, um es aufzuheben. Es war eine Handgranate.

Sie explodierte und Zuniga starb wenig später an seinen Verletzungen. Die Explosion war so stark, dass auch seine Frau vor ihm vom Fahrrad gerissen wurde.

Es war einer der jüngsten gewalttätigen Zwischenfälle in einer Reihe von Handgranatenexplosionen und Angriffen, die Schweden in den letzten Jahren erschüttert haben.

Im Jahr 2015 beschlagnahmte die Polizei 45 Handgranaten und 10 wurden gezündet. Im Jahr 2016 beschlagnahmte die Polizei 55 Handgranaten und 35 wurden gezündet. Im Jahr 2017 gingen die Zahlen leicht zurück: 43 wurden beschlagnahmt und 21 detonierten. Bisher wurden im Jahr 2018 drei Granaten beschlagnahmt und zwei detoniert. Die Explosionen haben sich im ganzen Land ausgebreitet.

Zwar schwanken die Zahlen, generell gibt es aber einen Aufwärtstrend. In der laufenden Studie eines Team von Kriminologen und Forschern wurden seit 2010 78 Handgranatenexplosionen verzeichnet, die Hälfte davon im Jahr 2016.

Zunigas Tod war eine Ausnahme. Er war einer von nur zwei Menschen - beide Unbeteiligte -, die seit 2015 bei Granatenangriffen ums Leben gekommen sind. Das andere Opfer war ein 8-jähriger britischer Junge, der getötet wurde, als eine Granate in die Wohnung Göteborg geworfen wurde, in der er sich in aufhielt. Die Polizei geht davon aus, dass der Angriff auf den Jungen mit einer Bandenfehde verbunden war.

Warum Granaten?

Die Kriminalität in Schweden ist im internationalen Vergleich relativ gering. Daher ist es umso ungewöhnlicher, dass Handgranaten, also Kriegswaffen immer häufiger bei gewalttätigen Zwischenfällen in dem allgemein friedlichen Land eingesetzt werden.

"Insgesamt sind Gewaltverbrechen in den letzten 40 Jahren stark zurückgegangen. Allerdings sind die die auftreten, viel gewaltsamer, und das hat mit dem Einsatz von Waffen zu tun", sagte Joakim Palmkvist, Kriminaljournalist bei der schwedischen Tageszeitung Sydsvenskan und Autor mit Sitz in Malmö, im Gespräch mit Euronews.

Die Handgranatenangriffe sind mit Banden und organisiertem Verbrechen verbunden, scheinen aber nicht von einer bestimmten Gruppe verübt zu werden, erklärte Palmkvist. Das Leitmotiv der Angriffe aber sei Einschüchterung.

Beim dem jüngsten Angriff im März warfen zwei Bandenmitgliedern eine Granate auf das Haus eines Bankiers. Der Mann untersuchte Fälle von Betrug im Zusammenhang mit organisiertem Verbrechen.

REUTERS/Elias von Hildebrand
Goran Mansson, Leiter des Bombenkommandos von Malmö im August 2015, zeigt nicht explodierte Granaten, die in der Stadt gefunden wurden.REUTERS/Elias von Hildebrand

Handgranaten eignen sich für diese Art von krimineller Absicht, erklärte Palmkvist. Er zieht einen Vergleich: Jemandem mit einer Waffe ins Bein zu schießen, ist "voller Probleme", sagte er. Der Täter hinterlässt möglicherweise DNA-Spuren, Projektile können zurückverfolgt oder zumindest analysiert werden. Zudem steht auf den Besitz von Handwaffen eine hohes Strafmaß. Handgranaten aber sind im wahrsten Sinne des Wortes "handlich" und hinterlassen weniger Spuren.

"Als Krimineller braucht man Werkzeuge, um seine Drecksarbeit zu erledigen, und [Granaten] sind in diesem Sinne viel praktischer als Waffen", so Palmkvist.

Ein Teil des heutigen Problems mag darauf zurückzuführen sein, wie Handgranaten im schwedischen Recht historisch behandelt wurden. Früher wurden Handgranaten als "brennbare und explosive Materialien" und nicht als Waffen angesehen. Die Mindeststrafe für den Besitz betrug nur sechs Monate Gefängnis, wie das Online-Magazin The Local berichtet.

Dieses Gesetz wurde im Januar 2018 als Reaktion auf die Anschläge geändert. Jetzt beträgt die Mindeststrafe für schwere Verstöße zwei Jahre Haft. Schwerere Delikte werden mit einer Mindeststrafe von vier Jahren geahndet.

"Das gibt der Polizei die Möglichkeit, Menschen tatsächlich zu verhaften und für längere Zeit einzusperren", sagte Amir Rostami, ein Forscher an der Universität Stockholm, der Teil des Teams ist, das den Einsatz von Handgranaten erforscht. "Kriminelle, die Waffen tragen, müssen sich dieser Konsequenzen bewusst sein."

Vom Balkan in schwedische Wohnzimmer

Die in Schweden am häufigsten verwendete Handgranate ist die M75, die ihren Ursprung auf dem Balkan hat und mit PKW, LKW und Bus nach Schweden gebracht wird. Dort gibt es zahlreiche Waffen, die vom Bosnienkrieg übrig geblieben sind. Die Polizei glaubt, dass die Handgranaten gemeinsam mit Sturmgewehren vom Typ AK-47 eingeschleust werden.

"Es gibt eine breite, tiefe und schwere Straße für Schmuggelware, die vom Balkan in die nordischen Länder transportiert wird", sagte Palmkvist.

Eine im November verabschiedete Reform des Schmuggelgesetzes könnte helfen. Bisher mussten Sprengsätze bei der Einreise nicht gemeldet werden, heute aber gilt die Nichtmeldung als Schmuggel.

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Allerdings werden diese Gesetze keine Auswirkungen auf die Granaten haben, die bereits ins Land gebracht wurden und bisher ungenutzt sind.

Daher hat die Polizei eine "Granatenamnestie" für Oktober 2018 bis Januar 2019 vorgeschlagen, die es den Menschen ermöglichen würde, ihre Waffen abzugeben. Ein ähnliches Verfahren für illegale Schusswaffen ist bereits im Gange, hat aber nur bescheidene Erfolge vorzuweisen.

Ist eine Amnestie sinnvoll?

Sowohl Palmkvist als auch Rostami sehen den Amnestieversuch in Bezug auf Banden kritisch. Stattdessen schlagen sie vor, sich mehr auf den Kontext konzentrieren, der zu Bandengewalt führt.

"Um Handgranaten zu stoppen, müssen wir die Menschen davon abhalten, sie zu bekommen", sagte Palmkvist.

Die Schwedendemokraten, eine wachsende rechtsgerichtete Anti-Migrations-Partei, machen Schwedens Offenheit gegenüber Einwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen fürdie Bandengewalt verantwortlich.

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Eine Studie von Rostami aus dem Jahr 2012 ergab, dass 76 % der Bandenmitglieder entweder Einwanderer der ersten oder zweiten Generation sind. Doch die ethnische Zusammensetzung der Banden ist heterogen (aus 35 verschiedenen Ländern). 42 % der Bandenmitglieder sind in Schweden geboren.

Studien im Auftrag der Regierung haben ergeben, dass die Mehrheit der in Schweden der Kriminalität verdächtigten Personen zwei im Land geborene Eltern hat. Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit ausländischem Hintergrund wird nicht eines Verbrechens verdächtigt, wenngleich die Wahrscheinlichkeit eine Straftat zu begehen, für sie statistisch gesehen höher ist.

Laut Forschern der Universität Stockholm spielen die sozioökonomischen Bedingungen die Hauptrolle, wenn es darum geht, ob eine Person straffällig wird.

Rostami erklärte, Schweden habe seine sozial benachteiligten Regionen mit einer höheren Zahl von Einwanderern und einem niedrigen Bildungs- und Einkommensniveau unterversorgt. Das habe das Kriminalitätsrisiko erhöht. 

Außerdem hielten starke Gewerkschaften die Einstiegsgehälter hoch, was die Einstellung von Mitarbeitern ohne Ausbildung oder schwedische Sprachkenntnisse entmutigt. Etwa 16,6 % der im Ausland geborenen Männer in Schweden sind laut OECD-Statistik arbeitslos, einer der höchsten Werte in der EU.

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Reuters
Ermittler an einem Tatort in MalmöReuters

Der Beitritt zu einer Bande könnte zum Teil auf der Suche nach einer "neuen Bruderschaft" angesichts dieser wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen beruhen, erklärte Rostami gegenüber euronews.

"Unsere Modelle und unser Ethos erreichen nicht die Gruppen und Bereiche, die am meisten Hilfe brauchen", sagte er.

Rostami wies auch darauf hin, dass eine große Umstrukturierung der schwedischen Polizei im Jahr 2015 die Verwaltung von 21 verschiedenen regionalen Organisationen auf eine einzige Agentur verlagert hat. So seien Verbindungen zum lokalen Geheimdienst gestört worden. 

Die schwedische Polizeigewerkschaft sagte 2016, die Polizeibehörde befinde sich in einer "Krise". Zuvor hatte die Regierung einen Bericht veröffentlicht, wonach die lokale Polizeiarbeit im Zuge der Umstrukturierung nicht ausreichend priorisiert worden sei. 

Anfang des Monats April sagte Gunnar Appelgren, Polizeikommissar und Spezialist für Bandengewalt, der New York Times: "Wir haben das Vertrauen der Menschen in den Gemeinden verloren". Weder Appelgren, noch die schwedische Polizeibehörde, antworteten auf eine Interviewanfrage.

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Um diese Bedenken auszuräumen, sagte die Regierung, sie werde das Budget für die schwedische Polizei bis 2020 auf 2 Milliarden Kronen (194 Millionen Euro) erhöhen.

Handgranaten sind nur ein Thema im Kontext der in Schweden aufflammenden Gewalt. Auch die Waffengewalt ist leicht angestiegen. Und das, die Kriminalitätszahlen in den letzten 25 Jahren rückläufig waren. Es gab auch Explosionen ohne Handgranaten, was darauf hindeutet, dass auch andere Bomben ein wachsendes Problem darstellen könnten.

Vor diesem Hintergrund sagte Rostami, dass Schwedens plötzlicher Anstieg bei dem Einsatz von Handgranaten eine breite Lösung erfordert.

"Man kann Handgranaten nicht verhindern, wenn man nicht die Gewalt von Banden verhindert", sagte Rostami. "Wir können uns nicht nur auf Handgranaten konzentrieren."

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