Euroviews. Wer wird der Held unserer Zeit? | View

Wer wird der Held unserer Zeit? | View
Copyright REUTERS/BERNADETT SZABO
Von András B. Vágvölgyi
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die der Autoren und stellen in keiner Weise die redaktionelle Position von Euronews dar.

Wie Politico formuliert: „Hungarian Prime Minister Viktor Orbán seemingly wakes up every day thinking he is Janos Hunyadi, the hero of the wars against the Turks in the 15th century.“

WERBUNG

**Der ungarische Filmemacher András B. Vágvölgyi hat für euronews einen politischen Text geschrieben - seine Sicht der Dinge auf sein Land und dessen Regierungschef. Vor der Europawahl im Mai werden auf euronews auch andere Stimmen zu Wort kommen. **

Der Text ist die Meinung des Autors - nicht die des Senders.

Vágvölgyi hat 2010 den Film Kolorádó Kid produziert.

Lasst uns nicht an Lermontow denken, sondern an das Heute! Wir stellen uns also ein Fernsehstudio vor, Kulissen dubiosen Geschmacks, eine unverschämt freche Jury, ein tobendes Publikum und – sicher ist sicher – Lach- und Klatschmaschinen. Nacheinander kommen gut bekannte Gestalten in lustigen Kostümen herein, schlendern notorisch grinsend oder verlegen mit einem für sie allein charakteristischen Song über die aufgemotzte Laufbühne eines mit der neusten Aufnahmetechnik ausgestatteten Megastudios. Künstler wie Recep Tayyip Erdoğan (Anatolischer Heavy Metal), Donald J. Trump (Western Swing), Jarosław Kaczyński (Beskidische Freuden-Polka), Benjamin Netanjahu (Chassidischer Hip-Hop), Wladimir Wladimirowitsch Putin (Song noch unbekannt, doch Pressesprecher Dimitri Peskow streitet ab, dass Pussy Riot ihn geschrieben hat) und zu guter Letzt der in jeglicher Hinsicht Kleinste von allen: Viktor Orbán. Seine Nummer hat Leslie Mandoki, der Komponist der Münchner Band Dschingis Khan, geschrieben. Die Raubritter singen, alle haben sie einen Song, alle besitzen sie ein trügerisches Argumentationssystem. Sie tragen jeweils ihr Lied vor, das die Zuschauer spaltet, aber zu ihnen passt, im Blinken der Neonfarben wird dazu getanzt, sie spüren die positiven Schwingungen des Publikums, ihre unterhaltsamen Bewegungen füllen sich mit neuen Energien. Jury und Publikum müssen entscheiden, wer den Sieg davonträgt. Mich schmerzt aufgrund meiner Muttersprache, meiner Staatsbürgerschaft und anderer soziokultureller Gesichtspunkte der letzte Auftritt am meisten, denn der Gesang ist falsch und die Stimme überschlägt sich, die Bewegungen auf der Bühne erinnern an einen ausgedienten zweitrangigen Boxer, er hebt seine beiden Fäuste vor der Jury und dem Publikum, schüttelt sie, „ich bin der Größte“, aber er ist bei weitem kein Muhammad Ali (Cassius Clay).

In keinerlei Hinsicht.

Ich kannte diesen Mann persönlich, 1988 begegneten wir uns das erste Mal, das letzte Mal, so richtig, im November 1990. Damals, zur Zeit der Wende setzten viele auf ihn: Er war jung, kam aus der Provinz (was unter den speziellen ungarischen Verhältnissen bedeutet: kein Klugscheißer aus der Budapester Innenstadt mit jüdischem Background, sondern ein „Mann, der im Leben steht“, eine für die Wähler vom Dorf und aus der Kleinstadt leicht annehmbare Figur); dynamisch, schnell von Begriff, politisch ambitioniert. Ich war gerade aus England zurückgekommen, hatte in Essex als Postgraduierter Soziologie studiert, er hatte zusammen mit anderen eine regimekritische Jugendorganisation gegründet (den Bund Junger Demokraten, Fidesz), die radikal war und alternativ, aber in erster Linie ultraliberal. Im Herbst 1989 baten sie mich, ein außenpolitisches Programm für den Fidesz zu schreiben. Ich sagte zu, formulierte damals zwei Forderungen, die überaus radikal schienen: Ungarn müsse nicht nur aus dem RGW und dem Warschauer Pakt austreten, sondern sich als politisches Ziel den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO setzen. Dies hielten damals auch auf oppositioneller Seite viele für eine unvorsichtige Forderung, die Sowjetarmee hatte in meiner Heimat noch SS-20-Raketen mit nuklearem Sprengkopf stationiert. Der Systemwandel folgte, der Fidesz wurde eine parlamentarische Partei, ich selbst interessierte mich für die Medien, im November 1990 war ich Volontär bei der Times in New York, als ich einen Anruf aus Budapest erhielt: Es war Orbán, auf Einladung amerikanisch-ungarischer Organisationen käme er zu einem Besuch an die Ostküste, ob ich für ihn wohl ein Pressefrühstück bei der Zeitung organisieren könnte. Viktor, – sagte ich – das ist The New York Times, du aber bist der 27-jährige Fraktionsvorsitzende einer Jugendpartei, die mit 7 % im Parlament eines Landes von zehn Millionen Menschen vertreten ist, das wird nicht leicht. Aber ich organisierte den Pressetermin, coffee, bagel, cream cheese, vier Kollegen, die sich einigermaßen für Mitteleuropa interessierten, vielleicht alle Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins gelesen oder den nach dem Buch entstandenen Kaufman-Film mit Daniel Day und Juliette Binoche gesehen hatten, durch den das osteuropäische oppositionelle Dasein im Westen in geworden war. Danach verbrachte ich den ganzen Tag mit Orbán, wir liefen bis zum Abend durch Manhattan, vor allem er sprach. „Ich. Ich. Ich. Ich.“ – das sagte nicht nur der große polnische, später in Argentinien lebende Schriftsteller Witold Gombrowicz ironisch, das sagte auch Viktor Orbán und sagt es seitdem, mit jeder Geste, todernst. Die Kulisse bestehend aus den Wolkenkratzern von Midtown und den Feuertreppen in Village erschienen mir wie die Bühne eines absurden Dramas, dessen Titel Die erdrückende Schwere der Gier hätte lauten können; keine Leichtigkeit, keine Lockerheit, kein Rock 'n' Roll, nur der pure Wille zur Macht. Ich wusste damals schon, dass ein erfolgreicher Politiker nicht ohne den Willen zur Macht existieren konnte, doch der unverhüllte Egoismus und die Cäsaromanie machten mich zuerst verlegen, mit der Zeit verblüfften sie mich dann. „Nerolein“, fiel mir ein, so wie ihn die Lebensgefährtin eines hingerichteten Revolutionärs von 1956 wegen seines boshaften und zynischen Lächelns genannt hatte, als es ihm 1989 mit Ach und Krach gelungen war, den dreißig Jahre älteren oppositionellen Autor (István Eörsi) bei einem Kopfballmatch zu besiegen. „Nerolein“ ist ein echter TAP (The Authoritarian Personality), dachte ich, aber würde das wohl bis zur Psychose gehen? Die politische und psychologische Geschichte Orbáns, seine opportunistischen Schwenks zwischen Ideologien, Parteifamilien, politischen Verbündeten wurden schon von vielen aufgearbeitet, dazu fehlt hier der Raum. 1990 in New York kannte ich die Anekdote noch nicht, die mir später einer seiner Dozenten vom Anfang der achtziger Jahre erzählte: Der junge Jurist Orbán erfuhr in einem Seminar zur amerikanischen Verfassung, dass das wichtigste Amt der Menschheit, der Stuhl des amerikanischen Präsidenten, nur von einem Politiker eingenommen werden könne, der als amerikanischer Staatsbürger geboren worden sei. Orbáns Augen wurden feucht, beinahe wäre er in Tränen ausgebrochen, die von ihm ersehnte und zuvor als erreichbar geglaubte Position war in Wirklichkeit keine reale Möglichkeit, denn das kleine transdanubische Dorf war zur Zeit seiner Geburt so gar nicht Amerika gewesen, ja, es gab nicht einmal eine Jukebox dort. Am Ende seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident, im Jahr 2002, sagte Václav Havel über ihn: „Wenn dieser Mann noch einmal an die Macht gelangt, dann schütze Gott Ungarn, aber auch Europa“. 2010 wurde er erneut gewählt, was seitdem in Ungarn passiert ist, ist bekannt. Eine autokratische Wende, die Auflösung der Republik, das Begraben der vielfältigen Medienlandschaft, die pseudo-totalitäre Propaganda, das Erdrosseln der richterlichen Unabhängigkeit, das Hochschrauben des existierenden Rassismus, das Aufpeitschen des Hasses im Nazi-Ton, das Berufsverbot für die nicht zum Gefolge gehörende, kritische Intelligenz, das Versenken des Landes in der Dunkelheit. Ein auf der sozialpsychologischen Struktur der Kádár-Ära aufbauender Neofeudalismus, himmelleckende Korruption, das Mästen des feudalen Freundeskreises aus dem Kohäsionsfonds der EU und mit staatlichen Aufträgen. Und spätestens seit 2014 lässt sich offen über ihn sagen: Er wurde das Schoßhündchen Putins zu einer Zeit, in der die neoimperialistische russische Macht einen Hybridkrieg gegen den Westen führt. Nachdem Orbán 2018 seine dritte Amtszeit seit 2010 als Ministerpräsident mit einer erneuten Zweidrittelmehrheit in Ungarn feiern konnte – lassen wir jetzt das Wie –, strebt er nun sichtlich nach einer europäischen Rolle.

Die Gefahren dessen sind unbeschreiblich.

Ein Kenner der Region, Timothy Garton Ash, schrieb im Sommer, dass der Hauptgegner der europäischen Achse von Merkel und Macron „Orbvini“ sein könnte, das Tandem aus Orbán sowie dem Liga-Anführer und italienischen Innenminister Matteo Salvini. 

Orbán traf Salvini im September 2018 in Mailand, mit dem er trotz abweichender Vorstellungen und unterschiedlicher Parteifamilie sichtlich ein Bündnis einging. Vor dem Treffen befragte Orbán Salvini betreffend zuerst seinen alten Freund Silvio Berlusconi, der ihre Annäherung begeistert unterstützte. Ich will nicht angeben, aber schon 2006 habe ich der Pariser Liberation erklärt, ich sähe Orbáns Platz zwischen Berlusconi und Putin auf halbem Weg, wie dies auch die Geografie untermauere, und ich bedauere sehr, dass ich daran nichts ändern musste, sondern sich das nur verstärkt hat («En Hongrie, Viktor Orbán, c'est notre Berlusconi».

Die Bedeutung der im Mai 2019 fälligen Wahlen zum Europäischen Parlament ist im Hinblick auf die Zukunft des Kontinents entscheidend. In Deutschland, das als Motor Europas gilt, nähert sich die Merkel-Ära ihrem Ende, mit dem dummen Brexit Großbritanniens ist es fast sicher, dass die politische Führung der Europäischen Union dem von Emanuel Macron angeführten Frankreich gehören wird. Italien ist die drittgrößte Wirtschaft Europas nach dem Brexit, auch wenn es politisch derart instabil ist. Ungarn gehört jedoch mit seiner Bevölkerung von zehn Millionen – wobei diese Zahl zudem sinkt – in jeder Hinsicht zum letzten Drittel der EU-Staaten, ist jedoch geostrategisch wichtig, und Ministerpräsident Orbán befindet sich nach den irgendwie das dritte Mal mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnenen Wahlen in einer starken Position. Zum Wahlgewinn war vieles notwendig gewesen, ein brutales Übergewicht in den Medien, das Schüren von Ängsten, eine an die besten Tage von Dr. Goebbels erinnernde Propaganda und das, was Zsuzsa Selyem auf diesen Seiten im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015 den „Trick Himmlers“ genannt hat, das heißt, bemitleide dich für das Leid anderer, denn du musst es schließlich mit ansehen und das wühlt dich selbstverständlich auf.

Orbáns politischer Appetit lässt sich nämlich nicht steigern. Orbáns Träume sind einfach, Stammtisch-Träume, Träume von Fußballstadien – er träumt von viel Macht, von viel Geld, von Olympiade, Fußball-Weltmeisterschaft, egal: große Veranstaltungen, aus denen lässt sich der Neo-Feudalismus gut weiterbauen; lässt sich die während der Geschichte der vergangenen gut hundert Jahre ins Stolpern geratene, ungesunde ungarische Sozialpsyche auf diesem Niveau aufrechterhalten oder weiter zerstören; kann die Philisterweisheit von „besser schweigen, als das Maul verbrannt“ ergänzt mit dem Lapidarismus von „die Kirschen in Nachbars Garten schmecken immer besser“ weiter herrschen. Es ist verblüffend zu sehen, dass Orbán trotz seines kleinen Landes und seiner begrenzten Ressourcen auch international zu einem relevanten Akteur geworden ist, wie die Figur des „jüngsten Sohnes“ im Volksmärchen, der auf seine eigene pfiffige Weise Rache nimmt, um sich haut und schlägt und immer dicker und dicker wird. Von Polen bis Slowenien und Nord-Mazedonien hat er Anhänger, seine destruktive Tätigkeit lässt man in Bayern, Italien und Österreich hochleben, während er sich selbst so sieht, als könnte er von Putin bis Trump und Xi Jinping alle übers Ohr hauen, weil er sogar im Arsch Grips hat und überhaupt Johann Hunyadi in Person ist, der 1456 bei Belgrad dem Vorrücken der Osmanen gen Westen Einhalt geboten hat.

Das ist auch eine Frage des Zeitgeists.

Natürlich die Zeit, die heutigen dreckigen Zeiten. In unserer Zeit ist jene virtuell erschaffene Albtraumwelt, wie sie Wladislaw Surkow (Putins Imageberater), Breitbart, Steve Bannon und andere extremtrumpistische amerikanische Organe, die Gazetta Polska oder aber der ungarische Árpád Habony (Orbáns Imageberater) um uns aufbauen, der Zeitgeist. Dagegen anzukämpfen ist auch eine Frage von Hardware und Software. Um 1989 erhörte noch ein bedeutender Teil der ungarischen Presse und Medien den Gesang der Sirenen, den die Budapester intellektuelle Opposition, die Herausgeber des Samisdat, von sich gaben und der vom in München ausgestrahlten Radio Freies Europa – finanziert vom Kongress der Vereinten Nationen – verstärkt wurde und sich für einen liberalen Wandel einsetzte. Orbán versteht das gut, er walzte auch alles nieder, machte sich nach 2010 fast alle Medien zu eigen, die fähig waren, eine Massenwirkung zu erreichen. Wenn wir das nicht akzeptieren wollen, dann brauchen wir eine Software, die die Welt versteht und diese auch für breite Volksschichten attraktiv verständlich macht, sowie eine Intelligenz, die an den stark gefährdeten Orten eine entsprechende Medien-Hardware betreibt. Selbstverständlich nur dann, wenn wir nicht wollen, dass die Welt, unsere Welt, allein aus dem Putinschen Willen und der Surkowschen Vorstellung bestehen.

„Uncooles Hungaria“, wen interessiert's?, nur dass dies durch Orbáns Geschick, seine dämonische Begabung nicht mehr nur ein ungarisches Problem ist. Die Opportunisten in der Europäischen Volkspartei zögerten ganz bis zum Sargentini-Bericht, sich gegen Orbán zu wenden, was sich nun vielleicht oder hoffentlich geändert hat. Orbán lässt die Sache in der Schwebe, könnte sich auch in die Richtung der Euroskeptiker à la Salvini bewegen, denn eines muss uns klar sein: Bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019 wird er mit voller Kraft nach vorne preschen, um persönlich zu einem bestimmenden Akteur zu werden. Wenn schon die Rede von The New York Times war: Der Nobelpreisträger und Kolumnist Paul Krugman zitierte einen witzigen Zyniker nach dem Fall der Berliner Mauer: „Now that Eastern-[Middle]-Europe is free from the alien ideology of Communism, it can return to its true historical path — fascism.“ Fakt ist, das Bonmot ist gut, auch wenn es die Dinge schmerzhaft simplifiziert. Der Macht Orbáns kann sich in erster Linie nur das ungarische Volk entgegensetzen, obwohl er nicht mehr nur für die Ungarn eine Gefahr bedeutet, sondern für ganz Europa. In Ungarn fügt sich der Großteil der oppositionellen politischen Parteien aus individuellen oder Gruppeninteressen dem Orbanismus. Doch die geistigen und politischen Kräfte Europas, die sich für den Kontinent als Ganzen verantwortlich fühlen, dürfen die ungarischen geistigen und politischen Kräfte, die sich Orbán widersetzen, nicht im Stich lassen, und nicht nur weil dies die universale Ethik gebietet, sondern auch aus ihrem eigenen gut verstandenen Interesse heraus. Auch beim Tod Breschnews sah man nicht auf den ersten Blick, dass es zu Ende war. Dann kamen immer mehr Begräbnisse, immer mehr politische Mumien standen bei den Bestattungen an der Balustrade des Mausoleums auf dem Roten Platz, und auch dem einfachen Betrachter wurde klar, lang konnte das so nicht weitergehen. Heute, gut dreißig Jahre später ist das nicht anders. Dieser Kontinent hat mehr verdient als den geschmacklosen, wirtschaftlich und politisch maßlos gierigen Orbán, der auf jedes moralische Prinzip pfeift. Die Geschichte lehrt, dass der Minderwertigkeitskomplex des aus deutscher Sicht marginalen Österreichers Hitler, des aus Sicht des russischen Reichs marginalen Georgiers Stalin ihre originäre Brutalität nur steigerte. Doch der historische Blick nach außen hinkt: Ungarn ist eine „illiberale“ Demokratie (heißt: Autokratie), nach der neusten Formulierung ein „christlich-demokratischer Nationalstaat“, ein Einparteiensystem, das formal ein Mehrparteiensystem ist, so wie in Polen vor 1989, in dem sich die an der Kandare gehaltenen oppositionellen Parteien wie „Transmissionsriemen“ verhalten – Ausnahmen bestätigen die Regel –, indem man sie aushungern lässt, ihnen Brei ums Maul schmiert, sie mit inneren Agenten durchsetzt. Ungarn ist, wenn man so will, eine Diktatur des 21. Jahrhunderts, aus der man noch fliehen kann, wo die Qual subtil ist. Auch im Kreis der Intelligenz, die kein Berufsverbot riskiert, kommt die Kollaboration mit den Agenten der dunklen Seite oft genug vor, und die Mentalität von „besser schweigen, als das Maul verbrannt“ ist allgemein verbreitet. Es findet ein staatlich stillschweigend geförderter „Bevölkerungsaustausch“ statt – die Emigration der westlich denkenden, liberalen Ungarn, die weiter gen Westen ziehen (in naher Zukunft erreicht ihre Zahl 10 % der Bevölkerung), und die Ansiedlung der Ungarn aus den Gebieten jenseits der Grenzen von Trianon –, die Wirkung von Letzterem ist mit besonderer Aggression am Kulturkampf-Furor der unter Ceauşescu sozialisierten siebenbürgisch-ungarischen Wegelagerer, der Orbán-Söldner zu sehen, der Mitte 2018 ein zentrales Thema in der ungarischen Öffentlichkeit darstellt. Orbán würde seinen heimischen Kulturkampf gern kontinental ausweiten und seine Chancen sind keineswegs gering.

Laut Orbáns Selbstbild ist er der große Ministerpräsident eines kleinen Landes und die kleinen Führer großer Länder wollen sich an ihm rächen, weil er „die Wahrheit ausspricht“. Wie Politico formuliert: „Hungarian Prime Minister Viktor Orbán seemingly wakes up every day thinking he is Janos Hunyadi, the hero of the wars against the Turks in the 15th century.“ Orbán hat jedoch historisch die zwangsläufige Verliererseite gewählt, denn Putin kann zwar als Angler mit seinen geschickt vom Steg ins Wasser geworfenen zehn Ruten hantieren, welcher Schwimmer sich wohl bewegt, an welchem Haken der prämierte (sagen wir) Zander anbeißt, jedoch ist die Sache die, dass die Kräfteverhältnisse sich mit Tricksereien und Hochstaplereien nur vorübergehend verändern lassen. Orbán hat eine politische Kultur heimisch gemacht, in der Entscheidungen ohne moralische Hemmschwellen, fast nur aus praktischen Überlegungen heraus gefällt werden. Und der Antrieb dieser Praxis ist häufig nicht die Effektivität, sondern der Machterhalt. Viktor Orbán ist Jurist. Einer von der Sorte, der beim Skifahren, wenn er in der Abfahrt als Zweiter nach seiner Ehefrau Anikó ins Ziel gelangt, es so dreht, dass es eine gesonderte Siegerehrung für Männer und für Frauen gibt. Auch misogyne Bemerkungen stehen ihm nicht fern: „… In diesem Teil Europas wissen die Männer, dass sie deswegen auf der Welt sind, um ihr Leben für etwas aufs Spiel zu setzen. Für eine große Sache. Für eine Sache, die größer und wichtiger ist als unser persönliches Leben“ – sagte Orbán vor Kurzem mit feuchtem Blick bei der Beerdigung eines geistigen Trinkkumpanen. Natürlich log er. Der Philosoph und erste Vorsitzende der echten ungarischen liberalen Partei nach 1989 – des Bunds Freier Demokraten (SZDSZ) –, János Kis, charakterisierte Orbán 1990 als „verdorbenen Jungen“, weil er krankhaft nach Macht strebe. Es kann doch nicht sein, dass seine Krankheit, mit er er schon ein Land krank gemacht hat, sich jetzt auf ganz Europa ausbreitet.

Die Krise ist eine Chance zum Neubeginn. In der Europäischen Union fehlt heute das Denken als „Reich“: die Fähigkeit zur Verteidigung ohne das ins Stolpern geratene Amerika – hoffentlich des nur vorübergehend ins Stolpern geratenen atlantischen Gedankens –, die stärkere Integration, die innere Solidarität nicht nur im Sinne materiellen Wachstums. Der Bericht der niederländischen Grünen Judith Sargentini und dessen Verabschiedung im Europaparlament dienen sehr wohl den Interessen des ungarischen Volkes. „Orbvini“ traf sich im September 2018 mit sich selbst in Mailand und sie backten jetzt etwas kleinere Brötchen (begannen nicht mit dem Kreieren eines neuen euroskeptischen Parteienbündnisses vor den Wahlen zum Europäischen Parlament), benannten jedoch den Hauptfeind: Emanuel Macron – der den Fehdehandschuh aufgenommen hat. Der echte Gewinner beim Wettbewerb Wer wird der Held unserer Zeit wird derjenige, der Europa stärker an die Kandare nimmt, sich verantwortlich für den Kontinent als Ganzes fühlt und die gesamte Union zu einem Konkurrenten gegenüber den Herausforderern aus Übersee und auf dem Kontinent macht, der mit Antworten bereitsteht.

Von meiner Seite aus: Vorwärts Monsieur Macron! Und zur Europawahl könnten Sie gern ein politisches Schirmbündnis oder eine Wahlpartei in Ungarn ins Leben rufen! En Marche pour la quatrieme Republique de la Hongrie! Et pour l’Europe, pour toute l’ Union Européene!

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Ungarn überschätzen Russland

EU-Streit mit Ungarn: Merkel positioniert sich pro Juncker

Streit zwischen Frankreich und Italien: Salvini will Macron treffen