Transidentität: Psychologische Gutachten für Betroffene entwürdigend?

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Copyright Bild von Carina Chen auf Pixabay
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Von Anne Fleischmann mit dpa
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Transidentität: Psychologische Gutachten für Betroffene entwürdigend?

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In den meisten europäischen Ländern müssen sich transidente Menschen medizinisch untersuchen lassen - und beispielsweise ein psychologisches Gutachten vorweisen -, um ihren Geschlechtseintrag offiziell ändern zu können.

Das ist auch in Deutschland der Fall: Betroffene müssen laut dem Transsexuellengesetz mit Psychologen und einem Richter sprechen, um ihren Vornamen und ihr Geschlecht offiziell ändern zu können.

Nun fordert Tessa Ganserer - die erste offen transidente Abgeordnete in Deutschland - die Abschaffung des Transexuellengesetzes von 1981. Das fast 40 Jahre alte Gesetz gilt als dringend überholbedürftig, Die Abgeordnete des Bayerischen Landtags bezeichnet es als entwürdigend. Es sehe Transmenschen nicht als vollwertige und mündige Bürger an. "Ich finde, kein Mensch, kein Staat und erst recht kein Richter hat das Recht, über das Geschlecht eines anderen Menschen zu bestimmen", sagte sie der dpa.

Transidente Menschen müssen sich in den meisten europäischen Ländern einer psychologischen Beurteilung unterziehen

Transidente Menschen - auch als transgender bekannt - identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

Um ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen, müssen die Betroffenen in vielen Ländern Europas ihre psychische Gesundheit bestätigen lassen. "Eine solche Anforderung verletzt das Recht jedes Menschen, seine Geschlechtsidentität selbst zu bestimmen", heißt es auf der Website der Organisation Transgender Europe (TGEU).

Und weiter: "Eine obligatorische Diagnose treibt Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung weiter voran."

Cianán B. Russell arbeitet als Senior Policy Officer für die Organisation ILGA-Europe, die sich für politischen, legalen und sozialen Wandel in Europa und Zentralasien einsetzt. "Erzwungene medizinische und psychiatrische Untersuchungen können als Folter oder unmenschliche Behandlung eingestuft werden. Wie bei allen Menschenrechtsverletzungen sind die individuellen Folgen von Person zu Person unterschiedlich", sagt Russell gegenüber Euronews. Alle zwangsärztlichen und psychiatrischen Untersuchungen würden jedoch eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte des Einzelnen darstellen.

In Europa verlangen TGEU zufolge 33 Länder eine Diagnose der psychischen Gesundheit vor der Anpassung von Ausweisdokumenten.

Großbritannien und Griechenland - zwei europäische Beispiele

Wie gehen verschiedene europäische Länder damit um, wenn BürgerInnen ihr Geschlecht ändern möchten? Wir stellen zwei Beispiele vor:

In Großbritannien müssen sich Betroffene um ein sogenanntes "Zertifikat zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit" (Englisch: "Gender Recognition Certificate") bewerben. Es gibt drei verschiedene Szenarien, um das Dokument zu bekommen - in jedem Fall müssen die BewerberInnen jedoch über 18 sein und 140 Pfund bezahlen.

Szenario 1: Es muss nachgewiesen sein, dass die Betroffenen eine sogenannte Geschlechtsidentitätsstörung haben, sich also nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Sie müssen seit mindestens zwei Jahren mit ihrer gewünschten Geschlechtsidentität leben und beabsichtigen, dieses für den Rest ihres Lebens zu behalten.

Das bedeutet, transidente Menschen müssen mit offiziellen Dokumenten wie einem Pass oder Führerschein, Lohnabrechnungen, Kontoauszügen und Rechnungen nachweisen, dass sie ihren Namen bereits geändert haben und ihr Umfeld über die Geschlechtszugehörigkeit Bescheid weiß. Eine Namensänderung ist - anders als in Deutschland - in Großbritannien ohne Probleme oder großen Aufwand möglich.

Szenario 2: Sollten Betroffene verheiratet sein oder in einer Partnerschaft in England, Wales oder Schottland leben, müssen sie zusätzlich zu oben genannten Kriterien sogar nachweisen, dass sie sechs Jahre lang in ihrem "erworbenen Geschlecht" gelebt haben. Andernfalls müssen sie sich scheiden lassen oder die Partnerschaft auflösen - dann gelten auch hier die zwei Jahre.

Szenario 3: Für BritInnen, die im Ausland leben, ist eine Änderung des Geschlechtseintrags möglich, wenn das angenommene Geschlecht dort legal anerkannt wurde. Dies muss mit Dokumenten nachgewiesen werden.

In Griechenland ist die offizielle Korrektur des registrierten Geschlechts laut Gesetz unter folgenden Bedingungen möglich: Betroffene müssen 18 Jahre alt sein, ansonsten benötigen sie die Zustimmung der Eltern. Wenn sie jünger als 17 Jahre - jedoch älter als 15 Jahre - sind, muss zusätzlich ein interdisziplinärer Ausschuss zustimmen. In dem Ausschuss müssen ein Kinderpsychiater, ein Psychiater, ein Endokrinologe, ein Kinderchirurg, ein Psychologe, ein Sozialarbeiter sowie ein Kinderarzt vertreten sein.

Zudem dürfen transidente Menschen, die ihren Geschlechtseintrag ändern wollen, nicht verheiratet sein. Eine medizinische Diagnose der psychischen Gesundheit ist in Griechenland nicht notwendig.

Betroffene müssen sich jedoch persönlich vor einem Gericht erklären und ihre Gründe darlegen.

Eine Änderung des Geschlechtseintrags ist oft mit großen Kosten verbunden

Lukas lebt in Deutschland und hat die offizielle Namens- und Geschlechtsänderung hinter sich. Bei seiner Geburt wurde er als Mädchen eingeordnet, identifiziert sich selbst aber als Mann. Euronews hat er von seinen Erfahrungen berichtet.

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Zuerst musste der 23-Jährige einen formlosen Antrag beim Gericht einreichen, damit die Verfahrenskosten veranschlagt werden. Dann musste er eine Anzahlung leisten und zwei unabhängige psychologische Gutachter wurden beauftragt.

"Das Ganze ist mit großen Kosten verbunden", erzählt Lukas. "Ein solcher Prozess kostet mindestens 4.000 Euro und kann je nach GutachterIn und erstelltem Gutachten noch teurer werden." Man könne zwar Zuschüsse beantragen, bräuchte dafür jedoch ein zusätzliches ärztliches Attest oder Indikationsschreiben, welches bestätigt, dass man transident ist.

"Die Verfahrenskostenhilfe ist gut, allerdings wird hierfür auch das Einkommen der Familie berechnet", erklärt Lukas. "Das heißt, wenn deine Eltern zwar genug Geld haben, aber mit deinem Lebensweg nicht einverstanden sind, bekommst du keine Verfahrenskostenhilfe und stehst ohne irgendetwas da, weil du dir den Prozess nicht leisten kannst."

Minderjährige brauchen in jedem Fall die Genehmigung der Erziehungsberechtigten. In manchen deutschen Bundesländern oder Städten kann man Gutachtern vorschlagen. Oft werden diese jedoch vom Gericht bestimmt. Zudem müssen Betroffene jeden Alters nachweisen, dass sie seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang stehen, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben.

Die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer hat sich der Prozedur zur offiziellen Namens- und Geschlechtsänderung nicht unterzogen. "Ich werde mich nicht vor einen Richter stellen, um mir intimste persönliche Fragen zu meinen frühkindlichen Erlebnissen, meinen sexuellen Präferenzen und Partnerinnen gefallen lassen, damit er für diesen Staat entscheiden kann, dass ich die Frau bin, die ich schon immer war", sagte sie. Die Situation sei jedoch belastend. In Sitzungen des Bayerischen Landtags und im Internet wird beispielsweise immer noch ihr männlicher Vorname angezeigt.

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Michael Bastian, Psychotherapeut in München, arbeitet mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und begleitet seine transidenten Patientinnen ein Jahr lang, bevor sie ihren Namen und Geschlechtseintrag offiziell ändern können. Diese Betreuung ist bei Minderjährigen vorgesehen. Für Erwachsene ist sie nicht zwingend.

"In diesem Jahr kann ich mir ein gutes Bild machen, wie gesund der Mensch ist, wie stabil er ist und wie sich die Identitätsthematik entwickelt", erklärt Bastian. "Das heißt aber nie, dass ich weiß, ob dieser Mensch trans ist oder nicht. Das werde ich nie wissen, das weiß nur diese Person."

Betroffene haben teilweise mit Vorurteilen von Richtern und Gutachtern zu kämpfen

Mit den Gutachtern müsse man seine ganze Geschichte aufarbeiten, erzählt Lukas. Sie sollen feststellen, ob jemand wirklich trans sei und sicherstellen, dass man sich im besten Fall nicht mehr umentscheide.

"Den ersten Psychologen habe ich als hilfreich empfunden", erinnert er sich. "Ich konnte mit mir selbst und meinen Gefühlen nichts anfangen." Da habe der Spezialist geholfen und Unterstützung geboten.

Der Leidensdruck habe bei transidenten Menschen große Auswirkungen, so Psychotherapeut Bastian. "Wenn jemand wirklich transident ist, ist das massiv einschränkend. Alle Jugendliche die hierherkommen haben – unterschiedlich stark – massive psychische Schwierigkeiten. Sie sind zurückgezogen, haben Depressionen, sind in ihrer Leistung deutlich eingeschränkt, haben ein wahnsinnig schlechtes Selbstbild, sind sozial nicht gut integriert, sind teilweise suizidal, haben selbstverletztendes Verhalten - also, die ganze Palette."

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Die depressive Symptomatik könne man behandeln. Die Geschlechtsdysphorie werde aber nur besser, wenn Maßnahmen ergriffen werden, wie beispielsweise Personenstandsänderung, Hormonbehandlung oder bei den meisten auch Operationen.

Bastian sehe zwar, dass starre Geschlechterrollen aufweichen, fluider werden. Jedoch besteht bei vielen immer noch der Wunsch, Merkmale, die als typisch für ein Geschlecht gelten, zu verändern. Transmänner könnten meist nicht "mit einem Busen leben". Transfrauen würden sich wünschen, "dass der Bartwuchs nicht mehr sichtbar ist."

Das Verfahren ist mit mehreren Problemen verbunden

Seine erste gute Erfahrung wiederholte sich bei Lukas nicht. "Den zweiten Gutachter für das Gerichtsverfahren habe ich als eher lästig empfunden." Er hätte erneut seine Geschichte durcharbeiten, alles nochmal erzählen müssen. Lukas selbst hatte keine größeren Probleme mit dem Gutachter. Jedoch gebe es Fälle, bei denen der Zweitgutachter den Betroffenen ihre Geschichte nicht geglaubt hätte.

Oft würden Gerichte auch sehr kritische Gutachter bevorzugen. Ein zusätzliches Problem: Man bekomme sehr schwierig Termine, braucht aber das Gutachten.

Nach den zwei psychologischen Gutachtern musste Lukas noch mit einem Richter sprechen. "Das Gespräch war eigentlich super unkompliziert", sagt er. Der Richter habe nur noch Kleinigkeiten gefragt, nichts sehr Persönliches.

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"Aber auch da kursieren Horrorstories", so Lukas. Von unfreundlichen RichterInnen, die Anträge direkt abgelehnt hätten. Oder von solchen, die sich die Menschen anschauen und dann sagen, dass sie ja gar nicht trans aussehen.

Der Ausweg für manche: Die dritte Option

Auch Linus Giese war in der gleichen Situation wie Lukas. Er hat seinen Namen und Geschlechtseintrag jedoch mit der dritten Option geändert. Anstatt "männlich" oder "weiblich" gibt es nun auch die Option "divers".

Diese Möglichkeit hatte der Bundestag vergangenes Jahr in einem entsprechenden Gesetz festgelegt.

"Das heißt, ich bin zu meiner Hausärztin gegangen, bekam ein Attest darüber, dass bei mir eine Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt und damit habe ich den Namen und den Geschlechtseintrag im Standesamt ändern lassen", sagt Linus gegenüber Euronews.

Ihm zufolge sei der Weg, den er gegangen ist, nicht offiziell. Die dritte Option sei eigentlich für intergeschlechtliche Menschen geschaffen worden. "Ich habe diesen Weg quasi als 'Schlupfloch' genutzt." Die Behörden hätten es damals noch nicht so genau genommen und er konnte erreichen, dass das Geschlecht in seiner Geburtsurkunde auf "männlich" geändert wurde. Mittlerweile wären die Behörden achtsamer. "Eigentlich wäre es toll, wenn dieser Weg offiziell auch von allen trans* und nicht-binären Menschen genutzt werden könnte", erklärt Linus.

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Das Transsexuellengesetz - gerechtfertigt oder veraltet?

Der Psychotherapeut Bastian ist "zutiefst davon überzeugt", dass eine Untersuchung erforderlich ist, ob jemand stabil und gesund ist. "Weil es gibt einfach psychiatrische Erkrankungen, die ähnlich ausschauen und das muss man ausschließen." Diese Erkrankungen könnten laut Bastian auch Einfluss auf das Identitätsgefühl einer Person haben.

Zudem hält er es für sinnvoll, wenn transidente Menschen bei ihrem Weg zur offen gelebten, neuen Identität begleitet werden. Dass dies gesetzlich geregelt ist, hält er jedoch nicht für wichtig.

Er sieht sich selbst nicht als Kontrollinstanz. "Aber es ist ein Segen, wenn es für Betroffene und Familien eine fachliche Unterstützung gibt. Das ist ganz, ganz wichtig", erklärt Bastian.

Lukas sieht das ähnlich wie Bastian und hält ein Transsexuellengesetz für gerechtfertigt - jedoch nicht in seiner aktuellen Form. "Es ist sinnvoll ein solches Gesetz zu haben, das die Strukturen regelt", sagt er. "Aber das bestehende Gesetz ist nicht gut. Der ganze Prozess wird Betroffenen extrem erschwert und man muss sehr viele Hürden überwinden."

Er wünscht sich, dass Gesetzesentwürfe mit Betroffenen, Vereinen oder anderen Bezugspersonen besprochen werden. Das sei in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen.

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Etwas anders sieht das Linus: Er hält das Transsexuellengesetz "natürlich nicht" für gerechtfertigt und will, dass es abgeschafft wird. "Menschen muss das Recht zugestanden werden, selbstbestimmt über sich und ihr Leben entscheiden zu dürfen", sagt er.

Klarer positioniert sich ILGA Europe: Die Organisation "ist der festen Überzeugung, dass Diagnosevorschriften nicht nur nicht angemessen sind, sondern auch Menschenrechtsverletzungen durch den Staat darstellen."

Transsexualität bald keine psychische Krankheit mehr?

Die WHO hat Transsexualität 2018 von ihrer Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. Das führte zu viel Euphorie. Jedoch soll "Transsexualität" nun "Geschlechtsinkongruenz" heißen und wird einer neuen Kategorie zugeordnet: "17 Conditions related to sexual health". Das Problem: In Kategorie 17 finden sich auch Pädophilie oder Exhibitionismus, die eigentlich zu Kategorie 6 und somit zu mentalen, verhaltensbedingten oder Neuroentwicklungsstörungen gehören.

Die Aktivistin Sarah Unger beschreibt in einem Kommentar im Tagesspiegel, wieso das problematisch ist. Sie nennt diese neue Kategorisierung eine "mögliche Vorlage für all jene, die transsexuelle Menschen in einem Atemzug mit Pädophilen nennen".

In Kraft tritt der neue Katalog der Krankheiten der WHO erst am 1. Januar 2022. Bis dahin gelte Transsexualität weiterhin als psychische Störung, so Unger.

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Auch ILGA-Europe bleibt skeptisch. Ob sich die Dinge für transidente Menschen wirklich zum Besseren ändern werden, bleibe "in vielen Situationen noch zu sehen", teilt Russell von ILGA-Europe Euronews mit.

"Es wird jedoch Jahre dauern, bis diese neue Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten weltweit umgesetzt ist, wobei einige Länder wie die USA erklärt haben, dass sie keine kurzfristige Absicht haben, das neue System umzusetzen", sagt Russell.

Trotzdem sei es laut ihm äußerst wirkungsvoll, dass eine internationale Institution wie die WHO auf die Forderungen gehört hat - was bedeute, dass die internationale medizinische Gemeinschaft nicht mehr glaube, dass trans zu sein eine Krankheit sei. "Es gibt Anzeichen dafür, dass dieses Handeln dazu beiträgt, trans und geschlechtsspezifische Gemeinschaften in ganz Europa und der ganzen Welt zu stärken", so Russell.

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