Ab 2029 könnte dem Staat kein finanzieller Spielraum mehr bleiben, warnt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Im Jahresgutachten zeigt sich zugleich: Ihre Einschätzung der Haushaltsrisiken und des Reformbedarfs unterscheidet sich in vielen Punkten von der ihrer Kollegen.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm richtet im neuen Jahresgutachten der Sachverständigenkommission deutliche Kritik an die aktuelle Bundesregierung unter Friedrich Merz. In einem ergänzenden Abschnitt des Gutachtens warnt sie, dass die derzeitige Politik von „Wahlgeschenken“ und mangelndem Reformwillen geprägt sei.
Zu diesen „Wahlgeschenken“ zählt unter anderem die geplante Erweiterung der Mütterrente. Solche Maßnahmen könnten Grimms Einschätzung nach zusätzliche Risiken und Belastungen für den Wirtschaftsstandort erzeugen. Zugleich betont sie jedoch, dass die Bundesregierung noch gegensteuern könne.
Im Gespräch mit der „Bild“-Zeitung wurde Grimm noch deutlicher. So warnte Sie, dass ab 2029 sämtliche Staatseinnahmen für soziale Leistungen, Verteidigung und Zinszahlungen gebunden sein würden und damit kein finanzieller Spielraum mehr verbleibe.
“Für mehr ist laut Finanzplanung kein Geld da. Diese Finanzplanung ist ein Offenbarungseid.“
Bericht zeigt strukturelle Bremsen auf
Im Jahresgutachten 2025/26 zogen die Wirtschaftsweisen zunächst ein leicht positives Bild. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte demnach im Jahr 2025 um 0,2 Prozent wachsen, für 2026 rechnen die Experten mit einem Plus von 0,9 Prozent. Bei der Vorstellung des Gutachtens am Mittwoch in Berlin sprachen sie von ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Stabilisierung.
Gleichzeitig verwiesen die Ökonomen jedoch auf anhaltende strukturelle Schwächen, die das Wachstum weiter dämpfen. Besonders kritisch bewerteten sie die zahlreichen Sondervermögen, die aus ihrer Sicht den finanziellen Spielraum zusätzlich einengen.
Kritik am Sondervermögen
Im Gutachten übt der Sachverständigenrat deutliche Kritik am Umgang mit dem Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaneutralität. Ratsvorsitzende Monika Schnitzer mahnt, die Chancen dieses milliardenschweren Instruments dürften „nicht verspielt“ werden. Das Sondervermögen solle eigentlich zusätzliche Investitionen in zentrale Zukunftsbereiche ermöglichen, ersetze jedoch in vielen Fällen lediglich bestehende Ausgaben im Bundeshaushalt.
Nach Angaben des Rats fließe weniger als die Hälfte der Mittel in tatsächlich neue Investitionen. Als zusätzliche Ausgaben seien bis 2030 nur rund 98 Milliarden Euro zu werten. Entsprechend bleibe der wachstumsfördernde Effekt des Sondervermögens begrenzt.
Grimm: Kritik geht nicht weit genug
Der Wirtschaftsexpertin Veronika Grimm reicht die Bewertung des Gremiums im Gutachten nicht aus. Zwar listet der Sachverständigenrat eine Reihe von Maßnahmen auf, auf die kurzfristig verzichtet werden sollte - darunter die Ausweitung der Mütterrente, der dauerhaft reduzierte Mehrwertsteuersatz in der Gastronomie, die Anhebung der Entfernungspauschale auf 38 Cent ab dem ersten Kilometer sowie zusätzliche Dieselsubventionen für die Land- und Forstwirtschaft.
Durch den Verzicht auf diese Instrumente ließen sich nach Berechnungen des Rats mehr als elf Milliarden Euro jährlich einsparen. Ergänzend empfehlen die Wirtschaftsweisen, die Einnahmenseite zu stärken, etwa durch eine konsequentere Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung.
Grimm hält diese Einschätzungen ihrer Kollegen jedoch für unzureichend. Die Aussagen zu notwendigen Strukturreformen seien „nicht weitreichend genug“, schreibt sie in einem ergänzenden Absatz zum Gutachten. Das Gremium hätte „deutlicher“ formulieren müssen. Zudem könne sich die fiskalische Lage ab 2030 „deutlich ungünstiger“ entwickeln, „als die Berechnungen im Haupttext vermuten lassen“.
Differenzen zwischen Grimm und den übrigen Wirtschaftsweisen
Auch in anderen Teilen des Gutachtens vertritt Grimm abweichende Positionen zu ihren vier Kollegen im Sachverständigenrat - etwa beim Thema Erbschaftssteuer.
Vier der fünf Mitglieder sprechen sich im Jahresgutachten für eine umfassende Reform aus, die Ausnahmen für Betriebsvermögen weitgehend abschaffen würde. Dies könnte insbesondere Familienunternehmen in Deutschland betreffen. Die Mehrheit des Rats argumentiert, eine solche Reform mache das Steuersystem gerechter.
Grimm hingegen lehnt die Reform ab. „Angesichts der aktuell schwachen privaten Investitionstätigkeit und der geringen Wachstumsaussichten erscheint der Vorschlag geradezu fahrlässig“, sagte sie dem „Handelsblatt“. Ratsmitglied Achim Truger widersprach dieser Einschätzung bei der Vorstellung des Gutachtens: „An Fahrlässigkeit kann ich bei uns nicht viel erkennen. Wir sprechen die Probleme an.“
Grimm drängt auf tiefgreifende Reformen
Veronika Grimm spricht sich in mehreren Politikfeldern für weitreichende Reformen aus. So fordert die Wirtschaftsweise eine stärkere regionale Differenzierung der Strompreise. Das derzeitige System bilde bestehende Knappheiten nicht angemessen ab, sagte sie am Mittwoch. Stattdessen werde vielfach mit Subventionen gegengesteuert. Deutschland stehe daher vor einer „riesigen Herausforderung bei der Kosteneffizienz der Energieversorgung“.
Mit Blick auf die schwache Wirtschaftsentwicklung drängt Grimm zudem auf Reformen im Arbeitsrecht. Sie plädiert für eine Lockerung des Kündigungsschutzes, um Arbeitskräfte schneller in produktivere Unternehmen wechseln zu lassen. „Unser Kündigungsschutz verhindert, dass Arbeitskräfte in ausreichendem Umfang zu produktiveren Unternehmen wechseln“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. In einer Phase tiefgreifenden Strukturwandels sei das jedoch notwendig; auch Gründerinnen und Gründer würden durch die bestehenden Regeln abgeschreckt.
Deregulierung sei zentral, um die wirtschaftliche Stagnation zu überwinden, so Grimm weiter . Es gehe darum, Gesetze abzuschaffen, die überflüssig seien oder ihre Ziele verfehlten. „Und wenn Gesetze über das Ziel hinausschießen und Wachstum verhindern, müssen wir sie anpassen“, sagte sie.
Gemeinsame Linie bei Unternehmenssteuern und Vorsorge
Immerhin: In einem zentralen Punkt besteht unter den Wirtschaftsweisen Einigkeit. Sie sprechen sich dafür aus, die Unternehmensbesteuerung so neu zu gestalten, dass zusätzliche Investitionen nicht automatisch zu einer höheren Steuerlast führen. Damit sollen stärkere Wachstumsanreize gesetzt werden. Der Sachverständigenrat sieht diesen Schritt als wichtigen Beitrag zur Bewältigung der wirtschaftlichen Schwächephase in Deutschland.
Auch in weiteren Fragen gibt es zumindest grundsätzliche Übereinstimmungen, wenn auch nicht in allen Details. So empfehlen die Wirtschaftsweisen die Einführung eines staatlich geförderten Vorsorgedepots. Ein solches Instrument könnte sowohl die private Altersvorsorge stärken als auch die Vermögensbildung insbesondere bei einkommensschwächeren Haushalten unterstützen.
In diesem Zusammenhang bewerten die Ökonomen die geplante „Frühstart-Rente“ der Bundesregierung positiv. Dem Konzept zufolge sollen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 18 Jahren monatlich zehn Euro für ein spezielles Depot erhalten. Dieses Modell könne zu einem „institutionellen Türöffner“ für ein späteres Vorsorgedepot werden, heißt es im Gutachten.
Anhaltende Spannungen unter den Wirtschaftsweisen
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung setzt sich aus fünf unabhängigen Experten zusammen. Das Gremium berät die Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragen und legt jedes Jahr ein Gutachten vor, das Konjunktur, Finanzpolitik und Reformbedarf bewertet. Seine Einschätzungen gelten als bedeutender Orientierungspunkt für politische Entscheidungen und wirtschaftliche Debatten.
Dem Sachverständigenrat gehören derzeit Monika Schnitzer (Vorsitzende), Veronika Grimm, Ulrike Malmendier, Achim Truger und Martin Werding an. Sie werden auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten für eine Amtszeit von fünf Jahren berufen.
Innerhalb des Rats gibt es seit Längerem Spannungen. Anfang 2024 entbrannte ein Konflikt, nachdem Veronika Grimm in den Aufsichtsrat von Siemens Energy gewählt wurde. Die übrigen Mitglieder hatten sie zuvor aufgefordert, im Falle der Wahl ihr Amt im Sachverständigenrat niederzulegen - aus Sorge vor möglichen Interessenkonflikten. Grimm lehnte dies ab und trat das Aufsichtsratsmandat an.
Grimm selbst gilt als wirtschaftsliberal ausgerichtete Ökonomin, die staatliche Eingriffe kritisch bewertet und etwa vor einer Aufweichung der Schuldenbremse warnt. Wiederholt hat sie die Rentenpolitik der Bundesregierung kritisiert und unter anderem ein Ende der Rente mit 63 gefordert.