Wie läuft eigentlich ein EU-Gipfel ab?

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem ersten EU-Gipfel
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem ersten EU-Gipfel Copyright Kenzo Tribouillard/AP Photo
Von Euronews
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Die Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich in Brüssel, um dringende Fragen zu besprechen. Aber wie funktionieren die EU-Gipfel, was wird beschlossen und warum dauern sie so lange?

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Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel treffen, gibt es immer ein großes Trara. Ob die Gipfeltreffen dann erfolgreich sind oder ob sie scheitern, eines ist sicher: Sie sind jedes Mal legendär und haben in der Geschichte des Staatenbündnisses ihre Spuren hinterlassen.

Aber warum gibt es überhaupt ein EU-Gipfeltreffen, an dem die Staats- und Regierungschefs teilnehmen und wie funktioniert es?

Was ist der Europäische Rat?

Der "EU-Gipfel" ist eine Tagung des Europäischen Rates. Dieser Rat ist die Gruppe der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der EU. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Rat der Europäischen Union, in dem die Ministerinnen und Minister der Mitgliedstaaten zusammentreffen und sich mit Fragen der Gesetzgebung und Politik befassen.

Die 27 Staats- und Regierungschefs treffen sich bis zu sechs Mal im Jahr, um den Kurs der EU-Politik festzulegen. Sie verhandeln oder verabschieden keine Gesetze, sondern legen die politische Agenda fest.

Den Vorsitz bei den Gipfeltreffen führt seit 2009 der Präsident des Europäischen Rates. Seit dem 1. Dezember 2019 ist dies der ehemalige belgische Premierminister Charles Michel. Er verschickt ein förmliches Einladungsschreiben, in dem er die dringenden Probleme des Bündnisses darlegt.

Der Präsident leitet dann die Verhandlungen, um "Schlussfolgerungen" zu verabschieden. Dies ist die endgültige Erklärung, der alle 27 Staats- und Regierungschefs zustimmen.

In Wirklichkeit wird die meiste Vorarbeit für einen EU-Gipfel schon Wochen vorher von Beamten und Diplomatinnen geleistet, bevor die großen Namen in Brüssel eintreffen. Oft werden sogar Entwürfe von Schlussfolgerungen schon vor dem Gipfel bekannt gegeben.

Warum hält die EU Gipfeltreffen ab?

Als die Staats- und Regierungschefs der EU in den 1950er Jahren wichtige Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) erörtern wollten, gab es keinen klaren Sitzungskalender, die Treffen wurden improvisiert.

Die Idee, einen Club der Staats- und Regierungschefs der EU einzurichten, um regelmäßig zu fachsimpeln, hatte im Jahr 1974 der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing. Im folgenden Jahr begannen die Staats- und Regierungschefs der EU, sich dreimal im Jahr zu treffen.

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Mittagessen im Elysée-Palast: Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU© CE/ CE

Der Grund für das Treffen aller Staats- und Regierungschefs: Man wollte eine Art gemeinsame Führung. Unabhängig von der Größe des Mitgliedstaates hatte jeder einen Platz am Tisch.

Heutzutage treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU mindestens zweimal pro Halbjahr, wobei der Ratspräsident bei besonders dringenden Fragen Sondergipfel einberufen kann.

EU-Gipfel sind notwendig, um eine Einigung über Themen zu erzielen, die für alle EU-Länder von Bedeutung sind - sei es die gemeinsame Währung Euro (Angst vor dem Grexit), eine neue Handelspartnerschaft mit einem ehemaligen EU-Land (Brexit) oder der Umgang mit den Folgen einer Pandemie (Corona-Rettungsfonds).

In Krisenzeiten sind die EU-Gipfel in der Regel besonders kritisch, dann ist die Atmosphäre angespannt, und das Treffen kann sich in die Länge ziehen.

Warum dauern die EU-Gipfel so lange?

Die EU-Gipfel haben den Ruf, mittags zu beginnen und bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages zu dauern. Das liegt daran, dass es nicht immer einfach ist, eine Einigung zwischen den 27 Staats- und Regierungschefs zu erzielen.

"Ich glaube, die europäische Geschichte ist voll von Meinungsverschiedenheiten, Verhandlungen und am Ende von Kompromissen", sagte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras 2015, als die Gespräche über die griechische Schuldenkrise weitergingen. Am Ende war es ein griechischer Kompromiss, der das Schreckgespenst des Grexit beendete, aber mit schmerzhaften Sparmaßnahmen einherging.

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Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras bei einer Pressekonferenz nach dem EU-Gipfel in Brüssel im Februar 2015AP Photo

Manche Beschlüsse erfordern nur einen Konsens oder eine einfache Mehrheit, andere wiederum eine Einstimmigkeit. Das bedeutet, dass ein einziges Land ein Veto gegen die Schlussfolgerungen von 26 anderen Ländern einlegen kann.

Im Jahr 2020 drohten Polen und Ungarn damit, ihr Veto gegen den 1,8 Billionen Euro schweren Haushalt der EU einzulegen. Sie hatten Bedenken gegen einen Mechanismus, nach dem bestimmte Mittel an die Einhaltung der europäischen Grundwerte gebunden sind.

Glücklicherweise wurde in letzter Minute eine Einigung mit Warschau und Budapest erzielt und dadurch eine mögliche Krise abgewendet.

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Im Jahr 2011, als Großbritannien noch Mitglied der EU war, legte die damalige Regierung von David Cameron spät in der Nacht ihr Veto gegen eine EU-weite Vertragsänderung ein, sehr zum Verdruss der Amtskolleg:innen.

Die übrigen 26 Mitgliedstaaten machten schließlich ohne die Briten weiter, wobei Premierminister Cameron erklärte, die Vereinbarung sei nicht im Interesse des Vereinigten Königreichs. Wir alle wissen, wie dies ausgegangen ist.

Andere Gipfeltreffen sind schon allein wegen ihrer schieren Länge legendär. Im Juli 2020 fand in Brüssel ein Mammuttreffen statt, das vom Freitagabend bis in die frühen Morgenstunden des Dienstags über einen Zeitraum von 80 Stunden dauerte. Bei den Verhandlungen ging es um denselben Haushalt und den Fonds zur Bekämpfung des Coronavirus, den Ungarn und Polen zu blockieren versuchten.

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Der französische Präsident Emmanuel Macron nach einer nächtlichen Verhandlungssitzung beim EU-Gipfel in Brüssel, 11. Dezember 2020. Olivier Hoslet/AP PhotoAP Photo

Die griechische Schuldenkrise hatte jahrelang die Schlagzeilen auf EU-Gipfeln beherrscht, als 2015 ein weiterer angespannter Gipfel unter dem Gespenst des Grexits stattfand.

"Wir haben noch nicht den Punkt erreicht, an dem ich sagen könnte, dass wir eine Einigung haben, aber ich werde bis zur letzten Minute, bis zur letzten Sekunde, bis zur letzten Millisekunde arbeiten, um das Euro-Projekt vor dem Scheitern zu bewahren", sagte Jean-Claude Juncker im Juni 2015.

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Im Juli wurde in Griechenland ein Referendum abgehalten, in dem die Bedingungen des Rettungspakets abgelehnt wurden. Eine Woche später, nach 17-stündigen Verhandlungen in Brüssel, gab der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras Kürzungen und schmerzhaften Sparmaßnahmen nach.

Der Hauptpreis geht jedoch an den Gipfel von Nizza im Dezember 2000, wo die Staats- und Regierungschefs der EU 90 Stunden lang verhandelten. Der daraus resultierende Kompromiss war der Vertrag von Nizza - ein Versuch, die EU-Institutionen zu reformieren, um die Osterweiterung bis 2004 zu ermöglichen.

Kampf ums Geld - Sparen oder nicht?

Auch zwischen den Staats- und Regierungschefs hat es schon einige hitzige Momente gegeben, meist wenn es um Geld ging.

1979, als die Europäische Union noch die Europäische Gemeinschaft (EG) war, fand die Premierministerin Großbritanniens, Margaret Thatcher, scharfe Worte für die Staats- und Regierungschefs der EG, als sie sich für einen Rabatt aussprach, der verhindern sollte, dass das Vereinigte Königreich mehr in den gemeinsamen Haushalt einzahlte, als es an Subventionen erhielt.

Die berühmten Worte lauteten: "Ich will mein Geld zurück" - es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Eiserne Lady mit ihren europäischen Amtskolleginnen und -kollegen aneinander geriet, denn der Streit um die Gelder dauerte fünf Jahre und endete mit einem Sieg Thatchers.

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Die britische Premierministerin Margaret Thatcher bei einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU am 25. Juni 1984. AP/AP1984AP Photo

Auch wenn die Personen kommen und gehen, die Streitigkeiten um die Gelder bleiben. Als die Staats- und Regierungschefs der EU um einen Fonds zur Bekämpfung des Coronavirus rangen, wurden die Zahl der Almosen und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu wichtigen Streitpunkten. Die sogenannten "sparsamen Vier", Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande, kündigten einen Gegenvorschlag an, in dem sie die Idee einer Schuldenzusammenlegung und einer langfristigen Erhöhung des EU-Haushalts verwarfen.

Als die Staats- und Regierungschefs nach viertägigen Gesprächen endlich eine Einigung erzielten, begrüßte der französische Präsident Emmanuel Macron die Einigung als einen "historischen Tag für Europa".

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, "außergewöhnliche Ereignisse" würden "außergewöhnliche neue Methoden" erfordern, während der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez das Konjunkturpaket mit dem Marshallplan der europäischen Nachkriegszeit verglich.

Ungarn und Polen waren jedoch nach wie vor unzufrieden mit den Bedingungen der Vereinbarung und ersuchten schließlich den Europäischen Gerichtshof um eine Stellungnahme zu einer rechtlichen Frage der Bindung von EU-Mitteln an EU-Werte.

"Ein erfolgreicher europäischer Kompromiss zeichnet sich dadurch aus, dass er niemandem gefällt", sagte Rebecca Christie, Gastwissenschaftlerin bei der Denkfabrik "Bruegel" in Brüssel, über die Einigung im Juli 2020.

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Obwohl die EU-Gipfel in den Schlagzeilen oft als epische Schlachten zwischen den einzelnen Staats- und Regierungschefs mit Gewinnern und Verlierern dargestellt werden, sind Kompromisse ein ständiges Thema.

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