Die Merz-Regierung möchte doch den Artikel 72 der EU aktivieren, der auch als "Notlagen"-Artikel bekannt ist. Er soll die rechtliche Grundlage sein, um Zurückweisungen nun auch von Asylbewerbern zu ermöglichen. Merz betonte am Freitag in Brüssel, er habe keine "Notlage" ausgerufen.
Am Donnerstagnachmittag saßen die Botschafter der Nachbarländer Deutschlands im Innenministerium von Alexander Dobrindt (CSU). Gesprächsthema waren die neuen Maßnahmen an den deutschen Grenzen. Darunter: Verstärkte Grenzkontrollen und Zurückweisungen von Personen, die illegal nach Deutschland einreisen wollen. Auch Asylbewerber sollen zurückgewiesen werden, wenn sie nicht als vulnerable Gruppen gelten.
Am Nachmittag hieß es aus Kreisen der Gesprächsrunde des Innenministeriums, dass Merz die "nationale Notlage" ausrufen wolle, um die Zurückweisungen von Personen zu verstärken, die illegal nach Deutschland über einen sicheren EU-Staat einzureisen versuchen. Darüber berichtete als erstes die Zeitung "Welt". Auch Euronews lagen diese Informationen aus der Runde am Nachmittag vor. Demnach hätte das Innenministerium die Botschafter darüber informiert, hieß es.
Dafür würden Kanzler Merz und Innenminister Dobrindt den Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union anwenden wollen, hieß es weiter aus der Gesprächsrunde. Dies hätte bedeutet, dass beim Grenzschutz ab sofort nationales Recht gelten würde. Doch Brüssel muss darüber per se erst entscheiden.
Regierungssprecher dementierte zunächst die Pläne
Kurz nach Bekanntgeben der Informationen dementierte der Sprecher der Bundesregierung die Pläne. Kanzler Merz würde nicht die nationale Notlage ausrufen wollen. Aus Kreisen des Innenministeriums selbst hörte man Verwirrung heraus. Erkennbar herrschte über die Vorbereitungen von Artikel 72 ein Kommunikationschaos.
Mittlerweile ist klar: Die Merz-Regierung möchte den Artikel 72 schlicht nicht als "nationale Notlage" benennen und dementsprechend offiziell keine Art "Notlage" ausrufen. Doch Innenminister Dobrindt wird die verstärkten Grenzkontrollen und Zurückweisungen unter anderem auf der Grundlage des Artikels 72 durchführen.
Merz erklärt in Brüssel: "Es gibt keinen deutschen Alleingang"
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) betonte bei seinem Besuch in Brüssel am Freitag, dass seine Regierung zur Begrenzung der irregulären Migration keine Notlage ausrufen wird. "Es gibt keinen deutschen Alleingang", bekräftigte er. Man sei abgestimmt mit den europäischen Nachbarn.
Es habe da "einige Irritationen gegeben", so Merz. Eine "Notlage" sei nicht ausgerufen worden. Weiter erklärte er, dass Deutschland künftig seine Grenzen "intensiver" kontrollieren wird.
"Wir kontrollieren in etwa so wie während der Fußball-Europameisterschaft im letzte Jahr. Wir werden weiter zurückweisen, aber das ist alles im Einklang mit europäischem Recht", so der Bundeskanzler. Alle europäischen Nachbarn seien darüber "vollumfänglich informiert".
Tatsächlich muss Deutschland offiziell keine Notlage ausrufen, damit der Artikel 72 der EU greifen kann. Ab dem Moment, als Dobrindt die neuen Zurückweisungen anordnete, liegt bereits die europarechtlich definierte Ausnahmesituation vor. Dies hatte Dobrindt auf seiner Pressekonferenz am Mittwochnachmittag getan.
Klingbeil rief Merz wegen "Notlage"-Terminus an
Nach Informationen von Euronews, ist der Grund dafür, dass Merz und Dobrindt das Wort "Notlage" nicht nutzen wollen, eine Art Kompromiss mit der SPD. Denn die Sozialdemokraten wollten ursprünglich weniger Aufsehen beim Anwenden des Artikels 72. In der Vergangenheit hatte die SPD die Aktivierung einer "Notlage" stets abgelehnt.
Wie die Zeitung "Welt" berichtet, hätte Merz ein Anruf von Vize-Kanzler Lars Klingbeil (SPD) am Donnerstag erhalten. Offenbar hatte er Angst vor Aufruhr in der eigenen Partei, schreibt der stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander.
Dobrindt-Ministerium arbeitet auf Hochtouren an den Plänen
Wie Euronews weiß, bereiten seit dem ersten Amtstag die Mitarbeiter von Dobrindt fleißig mehrere Texte zu den Grenzen vor, die unter Verschlusssache liegen. Darunter Texte zu den jeweiligen Grenzen verschiedener Staaten wie Polen, Österreich und Tschechien.
Der neue CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann erklärte am Donnerstagnachmittag auf X: "Wir halten unser Versprechen aus dem Wahlkampf und machen Ernst mit der Migrationswende. Wir entscheiden, wer in unser Land kommt und beenden illegale Einwanderung!"
Erst am Mittwochnachmittag hatte Dobrindt an den Bundespolizeipräsidenten den Erlass gegeben, Zurückweisungen an den Grenzen auch bei Asylbewerbern durchführen zu können. Ausgenommen seien unter anderem unbegleitete Minderjährige sowie besonders schutzbedürftige Personen.
Die Anmeldung der stationären Grenzkontrollen bei der EU reicht grundsätzlich rechtlich aus, um nationales Recht wie Zurückweisungen an den deutschen Grenzen ausüben zu können. Doch die Meinungen bei Juristen gehen diesbezüglich sehr weit auseinander. Vor allem, da die Merz-Regierung vorhat, nun auch Asylbewerber zurückzuweisen. Mit Artikel 72 der EU versucht die neue Regierung sich rechtlich abzusichern.