Laut einem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts sollen Zurückweisungen von Asylbewerbern an den Grenzen rechtswidrig sein. "Es ist nichts weniger als ein Präzedenzfall", meint Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler gegenüber Euronews. Das Urteil halte er sogar für "inhaltlich falsch".
Die Zurückweisung von bereits illegal eingereisten Migranten, die bei einer Kontrolle der Bundespolizei ein Asylgesuch äußern, seien rechtwidrig. Das entschied das Berliner Verwaltungsgerichts in einer Eilentscheidung.
Laut den Richtern dürften sie nicht ohne Durchführung des sogenannten Dublin-Verfahrens abgewiesen werden. Zudem meint das Berliner Gericht, dass die Bundesregierung sich nicht auf den Notlagen-Artikel der EU (Nr. 72) stützen könnte. Dazu fehle eine hinreichende Darlegung der Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Schnell stapelten sich am Montagabend die Schlagzeilen: Zurückweisungen von Asylbewerbern wären generell rechtswidrig. Auch aus der Politik fielen rasch Urteile. Der Vize-Vorsitzender der Grünen, Sven Giegold, meinte auf X: "Dobrindts Zurückweisungen sind rechtswidrig".
"Die Bundesregierung muss die Grenzblockade unbedingt beenden", erklärte ebenso der innenpolitische Sprecher der Grünen, Marcel Emmerich. Noch schärfer drückte sich Irene Mihalic (Grüne) auf dem Kurznachrichtendienst X aus: Die Gerichtsentscheidung sei "eine echte Klatsche für Merz und Dobrindt."
CSU-Innenminister Alexander Dobridnt erklärte noch am selben Abend: "Wir halten an den Zurückweisungen fest. Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist. Wir werden deswegen weiter so verfahren - unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung."
Sind Zurückweisungen von Asylbewerbern wirklich rechtswidrig?
Tatsächlich betrifft das Urteil ausschließlich einen verhandelten Einzelfall – nicht eine generelle Rechtmäßigkeit von Zurückweisungen.
Der renommierte Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler erklärt gegenüber Euronews: "Man sollte das Urteil nicht zu ernst nehmen. Es ist nichts weniger als ein Präzedenzfall oder eine Richtungsentscheidung."
Es handele sich nur um "das Urteil eines einzelnen Verwaltungsgerichts, das sich auf drei Personen, also Asylbewerber, bezieht und das ich für falsch halte", so Boehme-Neßler.
Hintergrund: Im dem Fall vor dem Berliner Verwaltungsgericht ging es um drei Somalier, die über Belarus und anschließend über Polen nach Deutschland einreisten. Am 9. Mai wurden sie am Bahnhof Frankfurt/Oder von der Bundespolizei aufgegriffen. Alle drei forderten Asyl ein. Die Bundespolizei wies die Somalier zurück.
Mit Hilfe der Nichtsregierungsorganisation "ProAsyl" setzten sich die Betroffnen zu wehr. Zudem sollen die Personen aus Somalia bereits in der Vergangenheit versucht haben, über die deutsche Grenze einzureisen – bei diesen Versuchen hatten sie kein Asyl gestellt.
"Ich halte das Urteil für inhaltlich falsch"
Das Berliner Gericht hielt fest, die Beschlüsse sind "unanfechtbar". Der Rechtsexperte Boehme-Neßler meint: "Das kann man anfechten. Ich halte das Urteil auch für inhaltlich falsch."
Denn: "Die Richter behaupten, es gebe keine Notlage und damit sei die Ausnahmeregelung von Art. 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht anwendbar. Deren Begründung: Drei Asylbewerber wären keine Notlage. Die Blickrichtung ist aber falsch."
Die Notlage bestehe darin, "dass Deutschland insgesamt die unkontrollierte Migration nicht mehr bewältigen kann". Das spüre man auf allen Ebenen. "Und dann ist Art. 72 natürlich doch anwendbar", erläutert Boehme-Neßler.
Polizeigewerkschaftler: "Es ist noch nichts rechtskräftig"
Heiko Teggatz, Chef der Deutschen Bundespolizeigewerkschaft, sagt zu Euronews: "Das Urteil im Hauptsacheverfahren steht noch aus. Hier ist also noch nichts rechtskräftig."
Teggatz fordert stattdessen die Maßnahmen neu anzupassen: "Da die Personen den aus Polen kommenden Zug bereits verlassen hatten und auf dem Bahnsteig kontrolliert wurden, sollte das Kontrollverfahren evaluiert werden. Der Zug sollte solange mit geschlossenen Türen im Bahnhof Frankfurt/Oder stehen, bis ALLE Passagiere einer Einreisekontrolle unterzogen wurden."
Jurist: "Unanfechtbar – aber keine große Autorität"
Bei den Rechtsexperten in Deutschland gehen die Meinungen zu dem Urteil und zum Verfahren an der Grenze auseinander. Jurist Ulrich Vosgerau hält das Urteil hingegen für "unanfechtbar". Der Paragraph 146 Absatz Eins der Verwaltungsgerichtsordnung werde von dem Asylgesetzparagraphen 80 überlagert.
Zugleich habe das Urteil "aber keine große Autorität. Es handelt sich um eine Meinung eines Verwaltungsrichters – nicht eines Ober- oder Bundesrichters", sagt er zu Euronews.
"Konnten nicht zurückweisen, weil sie den Bahnsteig betraten"
Auch den Zug bereits am Bahnhof zu stoppen ginge rechtlich nicht auf, meint Rechtsexperte Vosgerrau. Nur wenn der Zug "schon an der Grenze selbst" halte, könne man die Einreise von Asylbewerbern verweigern, die über sichere EU-Staaten oder die Schweiz kommen. Sobald der Zug im Bahnhof Frankfurt/Oder einfährt, sei dies nicht mehr möglich.
Polizeigewerkschaftler hält dagegen: "Es reicht, wenn sie im Zug kontrolliert werden"
Die Polizeigewerkschaft hält dagagen. Es gäbe nach wie vor die sogenannte "Fiktion der Nichteinreise". Das bedeutet: Solange eine Person noch nicht durch eine Kontrolle durch ist, gilt sie als noch nicht eingereist und kann zurückgewiesen werden.
Teggatz: "Das Verwaltungsgericht hat die Kontrollstelle auf den Zug reduziert. Der Bahnsteig gehört nach deren Auffassung nicht mehr dazu. Deshalb durften die Personen nicht zurückgewiesen werden, sondern hätten in Ausreisegewahsam genommen werden müssen. So interpretiere ich das."